Es gibt Geschichten, die die Menschen seit Jahrtausenden faszinieren. Die immer wieder gleich und gleichzeitig immer wieder neu erzählt werden. Weil sie um einen festen Kern herum flexible Ränder besitzen, die jeder Erzähler problemlos an die Erfahrungswelt seines Publikums anpassen kann. Solch eine Geschichte ist die Erzählung von Ödipus, der, wie es das Orakel vor seiner Geburt geweissagt hat, erst seinen Vater erschlägt und dann seine Mutter heiratet. Diese tragische Geschichte um die Ermordung des Vaters und den Inzest mit der Mutter bietet ein so spannendes, herausforderndes und tragisches Erzählgerüst, dass Schriftsteller sich dieser Geschichte in allen Zeiten gerne bemächtigt haben – und Teile davon sogar in die Science-Fiction-Welten der Blockbuster gelangten. Und nun erzählt auch Orhan Pamuk eine neue, eine aktuelle Variation des Ödipus-Mythos.
Aber nicht nur das. Denn Pamuk stellt dem griechischen Mythos sein persisches Pendant zur Seite. In dem Heldenepos „Schāhnāme“, dem Werk des persischen Dichters Abū ʾl-Qāsim Firdausī, nämlich gibt es die Sage von Rostam und seinem Sohn Sohrab. Weil Rostam seine Frau Tahmine nach der Hochzeitsnacht verlässt, lernt er seinen Sohn Sohrab nicht kennen. Jahre später dann aber trifft er bei einer Schlacht auf einen jungen Mann, den er an seinem Armreif erst als seinen Sohn erkennt, als er ihn schon getötet hat. Den Kampf zwischen Vater und Sohn überlebt in diesem Mythos der Vater.
Der Konflikt zwischen den aus verschiedenen Gründen meist abwesenden Vätern und ihren Söhnen ist also der zentrale Konflikt des Romans Pamuks, ein Konflikt, der gleich in verschiedenen Facetten immer wieder durchgespielt und variiert wird. Die Hauptfigur des Romans ist Cem, zu Beginn 15 Jahre alt, dessen Vater von einem auf den anderen Tag verschwindet. Das ist durchaus schon häufiger vorgekommen, denn der Vater engagiert sich politisch und ist, es ist die Zeit des Militärputsches, schon mehrfach festgenommen worden. Doch dieses Mal ist es anders. So will die Mutter, die bisher in solchen Fällen immer eingesprungen ist, die Apotheke nicht weiterführen. Es stellen sich finanzielle Probleme ein und Cem sucht Arbeit, um die „Paukschule“ bezahlen, die auf die Zulassungsprüfung für die Universität vorbereitet.
Zunächst findet er einen Job in einer Buchhandlung. Und weil er sich Autoren- und Verlagsnamen so gut merken kann, gibt der Buchhändler Deniz Cem Bücher zum Lesen mit nach Hause. Cem mag Jules Vernes „Reise zum Mittelpunkt der Erde“, er mag die Erzählungen von Edgar Allen Poe, historische Romane über osmanische Kriegshelden und Gedichte. Aber ganz besonders beeindruckt ihn ein Buch über Träume, so sehr, dass er meint, dieses Buch habe sein Leben verändert.
In den Sommerferien hilft er seinem Onkel im Obstgarten. Viel mehr als der Obstgarten aber interessiert ihn der Brunnenbauer, der im Nachbargarten gräbt. Zum einen, weil Meister Mahmut ihn so an seinen Vater erinnert, zum anderen, weil ihn das Brunnenbauen so anzieht, ein bisschen vielleicht auch, weil es ihn an die Abenteuer bei Jules Verne erinnert. Weil er so neugierig ist, bietet Meister Mahmut ihm an, bei seinem nächsten neuen Brunnenprojekt in Öngören, einem Ort vor der Stadtgrenze Istanbuls, mitzuarbeiten.
So lernt Cem das Brunnenbauen kennen, das Meister Mahmut betreibt, wie es in den letzten tausend Jahren betrieben wurde. Und wie Cem, so lernt auch der Leser, welche große Bedeutung der Brunnenbauer, gerade in wüstenähnlichen Gebieten hat, denn erst der Brunnen ermöglicht die Nutzung des Grundstücks, in diesem Fall die Errichtung einer Textilfabrik:
„Ein Dorf, eine Stadt, eine Zivilisation gibt es nur dort, wo es Brunnen gibt. Eine Zivilisation ohne Brunnen gibt es ebenso wenig, wie einen Brunnen ohne Meister. Und wer sich einem Meister nicht unterzuordnen weiß, der kann bei ihm auch nicht arbeiten. Aber wenn wir hier Wasser finden, sind wir reich.“ Meint Meister Mahmut.
Und er nimmt mehr und mehr die Stelle des Vaters ein. Vielleicht auch, weil Cem der eigene Vater fehlt, nun mit 15 Jahren, da er ihn als Vorbild oder als Gesprächspartner bräuchte, an dessen Meinungen und Haltungen er sich reiben könnte. Abends sitzen sie unter dem Sternenhimmel vor dem Zelt und erzählen sich Geschichten. Einmal erzählt Meister Mahmut von Josef, der von seinen Brüdern in den Brunnen geworfen wird, weil er so schön und klug war, dass der Vater ihn den Brüdern vorzog. Das aber dürfe er nicht, meinte der Meister: „Ein ungerechter Vater macht den Sprössling blind.“ Diese Deutung lässt Cem ratlos zurück und er mag sie auch nicht, weiß aber nicht, warum.
Cem erzählt seinem Meister im Gegenzug auch eine Geschichte, auch eine, in der Blindheit eine wichtige Rolle spielt. Er erzählt die Geschichte aus dem Buch der Träume, die ihn so beeindruckt hat und nicht mehr loslässt. Es ist die Geschichte von Ödipus, die er nun erzählt. Und der Meister, dem die Geschichte gar nicht zusagt und der fragt, woher Cem sie habe, zieht wieder einen überraschenden Schluss, über den Cem sich wundert: „So hat Gott schließlich recht behalten. Seinem Schicksal kann niemand entrinnen.“
Manchmal verbringen Meister und Lehrling ihre Abende in Öngören. Der Meister trinkt Tee in einem Café, Cem streift durch die Straßen. Einmal sieht Cem dort die wunderschöne rothaarige Frau, in die er sich auf den ersten Blick verliebt. Fortan versucht er an den Abenden einen Blick auf sie zu erhaschen, geht ihr nach, steht vor dem Haus, in dem sie wohnt, geht in das Café, in dem sie mit Freunden sitzt und Raki trinkt. Sie gehört dem Ensemble des Wandertheaters an, das in diesem Sommer im Ort gastiert.
Als Cem endlich in einer Vorstellung sitzt, ist er völlig hingerissen von den Geschichten, die die Schauspieler erzählen und die sich aus allen möglichen westlichen und östlichen Quellen speisen. Sie spielen eine Szene aus dem Cyrano von Bergerac und aus Hamlet und die Geschichte Abrahams, der Gott um einen Sohn anfleht. Sie spielen aber auch Parodien auf aktuelle Werbespots. Besonders beeindruckt Cem die letzte Szene, in der die Schauspieler die Legende von Rostam und Sohrab spielen und der Trauer und der Reue so einen starken Ausdruck geben, dass im Zuschauerraum „kein Mucks zu hören war“. Cem meint, obwohl die Zuschauer ja im Dunkeln sitzen, die rothaarige Frau, die hinter Rostam und Sohrab steht, die Szenerie betrachtet und ihren Schmerz durch Wehklagen Ausdruck verleiht, blicke ihn dabei die ganze Zeit an.
„In jener Nacht schlief ich zum ersten Mal im Leben mit einer Frau. Es war ein wunderbares, geradezu erschütterndes Erlebnis. Auf einen Schlag dachte ich ganz anders über das Leben, über die Frauen, über mich selbst. Die rothaarige Frau brachte mir das Glück bei und lehrte mich, wer ich eigentlich war.“
Es spricht für Pamuks Kunstfertigkeit, wie er literarische Quellen so miteinander verknüpft, dass die aktuelle Geschichte um Cem gleich mehrfach gespiegelt wird. So wie die Szenen, die die Schauspieler im Theaterzelt auf die Bühne bringen, Cems Lebensgeschichte vorwegnehmen, so wird Cem seit seinen Jugendtagen immer wieder magisch angezogen vom Ödipus-Mythos und der Legende von Rostam und Sohrab und beschäftigt sich sein Leben lang mit ihnen in der Literatur und in der bildenden Kunst.
Beim Erzählen nutzt Pamuk die Freiheit der flexiblen Ränder und bricht immer wieder alle Erwartungen, die der Leser, wenn er die Geschichten auch kennt, möglicherweise hat. Nichts ist wirklich „echt“, nichts so, wie es zu sein „hat“, nicht die roten Haare, nicht die Position als Mutter, nicht einmal die Erzählperspektive. Im Kern aber verhandelt er den klassischen Konflikt zwischen Vater und Sohn, zwischen dem Alten und dem Neuen, zwischen Tradition und Moderne.
Pamuks Variation der Mythen aber lässt sich längst nicht nur als Cems Lebensgeschichte lesen, der als studierter Geologe und geschäftstüchtiger Immobilienentwickler in einer durchaus modernen Ehe auf der einen Seite Individualität und Rationalität lebt, auf der anderen Seite aber an den mythischen Geschichten hängt und immer wieder in ihre die Vorbestimmung betonenden Deutungsmuster zurückfällt. Pamuks Roman lässt sich durchaus aber auch auch als Geschichte der türkischen Gesellschaft lesen, die zwar seit den 1980er Jahren eine ungeheure wissenschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung gemacht hat – ein Brunnenbauer wie Meister Mahmut ist angesichts der Blöcke mit Eigentumswohnungen in Öngören nicht mehr denkbar -, die aber immer noch den Traditionen verhaftet ist.
Es ist, als bewahrheite sich nicht nur für Cem die Geschichte, die damals am Brunnen Meister Mahmut Cem erzählt hat, als Antwort auf die schicksalhafte Geschichte von Ödipus. Es ist genau die Geschichte um die Bedeutung des Schicksals, die auch schon Salman Rushdie in seinem Roman „Golden House“ erzählt hat. Sie stammt von Dschalāl ad-Dīn Muhammad ar-Rūmī, einem persischen Dichter des Mittelalters. Hier ist es ein Prinz, der Lieblingssohn des Sultans, der auf einem Fest neben seinem Vater einen „schwarzbärtigen, finster dreinblickenden Mann“ stehen sieht, in dem er den Todesengel Azrael erkennt. Als der Prinz diese Begegnung später seinem Vater erzählt, schickt der ihn sofort nach Täbris zu einem Freund, um sich dort zu verstecken. Zur Rede gestellt erklärt Azrael sei Erstaunen darüber, den Prinzen am Hof des Sultans zu sehen, denn er habe von Gott den Auftrag, zum Schah nach Täbris zu gehen, um sich dort das Leben des Prinzen zu holen. „Sprach´s und verließ den Palast.“
Orhan Pamuk (2017): Die rothaarige Frau, aus dem Türkischen von Gerhard Meier, München, Carl Hanser Verlag









Und natürlich knn, wer Johnson wiiederlesen oder aber überhaupt erst entdecken möchte, auch eine andere Ausgabe seiner „Mutmassungen“ lesen. Wer sich allerdings auf die „Jahrestage“ in der Werkausgabe freut, der muss leider noch ein paar Jahre warten. Zur Publikationsübersicht geht es 





Merkwürdig ist dieser eher negative Zusammenhang auf den ersten Blick aber dann doch. Denn seit vermutlich um die 30.000 Jahre leben Mensch und Hund zusammen, schätzen die Menschen doch die Treue des Hundes, seine Gelehrigkeit und Wachsamkeit, seinen Mut und sein Geschick. Bei der Jagd und bei der Sorge um Hof und Vieh arbeiten Menschen und Hunde zusammen. Und mittlerweile sind Hunde als Familienmitglieder im engsten Kreis angekommen. Und da wird ein Hund als Symbol einer so ernsten Erkrankung wie der Depression herangezogen?



Das erkennt auch Mr. Cletus, Englischlehrer und deshalb schlecht im Rechnen. Wenn er die Beträge überschlägt, die die Familie für Jasper, den Familienhund, berappen muss, dann hat sich unter dem Strich seiner Berechnungen schnell mal ein kleines Vermögen addiert. Jedenfalls steht da ein so hoher Betrag, dass der Internatbesuch der beiden Kinder ernsthaft in Gefahr gerät. Und während der, um den es geht, nämlich Jasper, gemütlich lesend im Körbchen liegt und sein Abendessen – es gibt Spiegelei mit Würstchen und Hühnerfleisch – mit einem großen Schleck verspeist, denken Mr und Mrs Cletus ernsthaft darüber nach, welchen Job Jasper denn annehmen könne, um zu seinem Unterhalt beitragen zu können.
Jaspers Geschichte als gefeierter Star der Schultheaterbühne ist sicherlich nicht nur für Menschen mit Hundeerfahrung und Menschen mit Vorliebe für literarische Hunde eine lohnende Lektüre. Auch diejenigen Leser, die sich für bebilderte Geschichten interessieren, die Fans sind von Illustrationen und Graphic Novels, können es sich mit Jasper in ihrem Lesesessel gemütlich machen und schauen, wie sich seine Theatergeschichte entwickelt. Denn die Geschichte von Jasper, die Michael Ondaatje ersonnen hat, ist illustriert von Serge Bloch und Bloch zeichnet zwar Ondaatjes Geschichte, aber er zeichnet auch seine eigene Geschichte, die immer ein Stückchen weiter reicht als Ondaatje sie erzählt.


Ahne macht deutlich, dass diese Bilder des Wolfes durchaus mit dem Ziel der Bevölkerung einhergingen, sich dem Wolf zu entledigen. Tatsächlich gibt es schon seit dem 15. Jahrhundert in England keine Wölfe mehr, 1904 wurde der letzte Wolf in der Lausitz getötet, nachdem auch dort 60 Jahre lang kein Wolf aufgetaucht war. Der Wolf als Konkurrent des Menschen bei der Jagd, der Wolf als Opportunist, der überall da leben kann, wo er etwas zu essen findet, der, wenn ihm durch die Kultivierung des Bodens der Wald als Lebensraum entzogen wird, eben in der Nähe der Menschen lebt und sich von ihren Abfällen, zur Not auch von ihrem Vieh, ernährt, ist jahrhundertelang bei den Menschen nicht gut angesehen gewesen. Am liebsten, „am nutzvollsten“ gar, erschien er den Menschen, wenn er tot war, so Conrad Gessner in seinem 1551 erschienen „Thierbuch“. Die durchaus raffinierten Methoden, die die Menschen ersannen, um den Wolf auszurotten, sollen hier nicht beschrieben werden. Wer mag, schaue in Ahnes Wolfs-Naturkunde…
Das Bild vom Wolf ändert sich aber zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Auf einmal wird der Wolf in der Literatur zum Sinnbild für Freiheit, für Wahrhaftigkeit und Intuition und steht ganz grundsätzlich für das Leben im Einklang mit der Natur. So nimmt er auf einmal einen Gegenpart ein zum Haushund, den der Mensch sich untertan gemacht hat und der dem Menschen seit mindestens 30.000 Jahren hilft, Haus und Vieh zu hüten oder ihn bei der Jagd zu unterstützen, der also mit seinen speziellen Kenntnissen durchaus nützlich für den Menschen war. Der Hund hat im Vergleich zum Wolf ganz andere Charakterzuschreibungen. Er gilt als loyal und treu ergeben, angepasst und unterwürfig, immer wieder um die Anerkennung seines Herrn bemüht, er ist eben „hündisch“. Er passt aber auch auf Haus und Vieh auf, geht mit zur Jagd, zeigt also durchaus auch seine „wilde“, seine ungezügelte Seite – zum Nutzen seines Herrn.


Katharina Winkler:
Shida Bazyar:
Didier Eribon: Rückkehr nach Reims









Das Gespräch mit Michael Serres umkreist die wohl üblichen Themen, zu allererst natürlich die Frage nach der Verortung der Geschichte in Rasha Khayats Biographie. Die grinst breit und gibt zur Antwort, dass es doch egal sei, ob eine Geschichte autobiographisch sei; glaubwürdig müsse sie sein, damit der Leser sie gerne lese und ihr folge. Und das Publikum schmunzelt über den Hinweis auf Karl May, dessen Abenteuergeschichten aus fernen Ländern wir doch alle gern gefolgt sind, auch wenn Karl May nie im wilden Westen war und nie im wilden Kurdistan.















