Monat: Januar 2019

Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne

Die gesamtwirtschaftlichen Daten sahen zum Jahresende so gut aus, dass sich Angela Merkels Einschätzung „Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut“ (hier und hier, beide Links von 2018) wiederum zu bewahrheiten schien. Da verwundert ein Essay mit dem doch ganz anders konnotierten Titel „Abstiegsgesellschaft“ sehr. An der Universität Basel beschäftigt sich Oliver Nachtwey mit der Auswertung von gesamtwirtschaftlichen Daten, um damit der sozialen Verfasstheit unserer Gesellschaft und den Veränderungen im Ablauf der vergangenen Jahrzehnte auf die Spur zu kommen. Als Professor für Sozialstrukturanalyse erforscht er die Sozialstruktur von Gesellschaften, erforscht ihre sozialen Milieus und die dabei gelebten Lebensstile der verschiedenen Milieus. Und auch wenn seine Thesen aus dem Band „Abstiegsgesellschaft“ von 2016 stammen, so wird, wenn man die neueren Daten noch einmal genauer recherchiert, schnell deutlich, dass seine Thesen auch für 2018 keineswegs überholt sind. Und manches, was er im Text dargelegt hat, z.B. die Entwicklungen am rechten Rand des Parteienspektrums, haben sich im Laufe der fast drei Jahre nach Erscheinen des Essays noch deutlicher herausgebildet. Vor ein paar Monaten schon hat …

Juli Zeh: Neujahr

In erstaunlich vielen jüngst veröffentlichten Romanen spielt Angst eine zentrale Rolle: In Kathrin Gerlofs Roman „Nenn mich November“ hat Marthes Angst vor der finanziellen Zukunft dazu geführt, dass sie einen ihrer Arme nicht mehr als zu sich gehörend empfindet. In Andreas Lehmanns Roman „Über Tage“ trägt Joscha Farnbach auch als Erwachsener noch schwer am Trauma des Unfalltodes seiner Eltern. Und auch in Juli Zehs „Neujahr“ kämpft Henning mit immer wiederkehrenden Panikattacken. Im Unterschied zu Joscha Farnbach aber hat er keine Idee, woher die Angst kommt. Es fing mit den Attacken vor ungefähr zwei Jahren an, kurz nachdem das zweite Kind, die Tochter Bibbi, geboren wurde. Zuerst kamen sie nur nachts, mittlerweile aber auch am Tag. Zuerst hat er seine Frau Theresa nachts geweckt und sie hat versucht, ihm zu helfen. Hat vorgelesen, seine Hand gehalten, einen Tee gemacht, die Wärmflasche gebracht, den Fernseher eingeschaltet und sie haben es auch mit Sex versucht. Aber nichts von alledem konnte Henning beruhigen. Und seit Henning weiß, dass Theresa ihm gar nicht helfen kann, ist es noch schlimmer. „Seitdem …

Céline Minard (2014): Mit heiler Haut (#backlist 1)

Im letzten Jahr hat Céline Minard mit „Das große Spiel“, einer philosophischen Abenteuergeschichten im hohen Gebirge, einen ganz außergewöhnlichen Roman geschrieben. Der machte auf jeden Fall neugierig auf die anderen Bücher Minards. Schon das Cover des 2014 erschienen Romans macht deutlich: „Mit heiler Haut“ ist ein Western. Kann das denn gut gehen, kann das „gute Literatur“ sein? Immerhin ist der Western eher bekannt für seine immer gleichen Klischees, den Postkutschen und Banken, die gerne mal überfallen werden, dem Saloon und dem Gefängnis, den Planwagen und Eisenbahnen, den Siedlern und Indianern, den Glücks- und Goldsuchern, den Ganoven und den Cowboys und ihren immer gleichen Konflikten, die manchmal mit der Hilfe des Sheriffs und der Gesetze gelöst, manchmal aber durch den schnellsten Schützen entschieden werden. Und tatsächlich: Minard bedient sich all dieser Klischees – und erzählt sie doch alle wieder neu. „Unablässig rollte der Planwagen voran.“ So beginnt der Roman mit der Geschichte von den Brüdern Brad und Jeffrey, die zusammen mit Brads Sohn Josh und ihrer Mutter im Planwagen gen Westen reisen, weil vor allem Brad …

1. Frauenleserin Blogparade zum Jahresende

Kerstin Herbert hat zur Blogparade aufgerufen. Sie interessiert die Frage, ob auf den Blogs ähnlich gelesen wird, wie in den Feuilletonredaktionen, ob nämlich vor allem die männlichen Autoren wahrgenommen werden. Und sicherlich möchte sie mit ihren weiteren Fragen auch noch einmal die Literatur von Frauen in den Fokus rücken, die uns Blogger im Laufe des Lesejahres 2018 in verschiedenen Bereiche besonders beeindruckt haben. Anlass zu ihrer Blogparade ist ein Beitrag im NDR. Dort wird berichtet über ein Forschungsvorhaben zum Geschlechterverhältnis in der Literaturkritik, das an der Universität Rostock durchgeführt worden ist: Bei ungefähr gleichen Veröffentlichungszahlen in Belletristik und Krimi werden aber, so das Ergebnis der Untersuchung, 70 % Bücher von Autoren besprochen – und an diesen Zahlen haben auch die Kritikerinnen ihren Anteil. Elisabeth Prommer, die die Studie ausgewertet hat, meint dann auch, dass alle Beteiligten schon das Gefühl einer Gleichverteilung hätten, wenn es in Wahrheit um ein Verhältnis von zwei dritteln Büchern von Autoren und einem Drittel Büchern von Autorinnen gehe. Die Redaktion des NDR-Kulturjournals hat dann auch gleich mal bei den eigenen Beiträgen …

Leserückblick 2018 (3): Vier Familienromane erzählen europäische Geschichte(n)

Möglicherweise gibt es sie in jedem Jahr, aber in diesem Jahr haben mir gleich vier Romane ganz besondere Lesezeiten beschert, die sich dem Genre des Familienromans zurechnen lassen. Auffallend sind sie, weil sie nicht so sehr von den Konflikten und Probleme zwischen den Figuren und ihren Zielen und Werten erzählen oder vom ewigen Zwist zwischen den Generationen, weil sie eben nicht in erster Linie vom Zusammenleben in den Familien erzählen und daraus eine Geschichte entwickeln. Auffallend sind sie, weil sie eher anders herum die Frage ausloten, wie die Familienmitglieder, wie die Familienverbände insgesamt mit gesellschaftlichen, ja, vor allem mit politischen Zeitläuften umgehen, wie sie dem Druck politischer Ideologien standhalten – oder eben auch nicht –, wie das Leben einzelner oder auch das Leben der gesamten Familie beeinflusst wird durch die politischen Zustände. Manche versuchen sich wegzuducken und entwickeln Mechanismen, um den toxischen Anforderungen aus dem Weg zu gehen, damit sie ihr Leben unbehelligt weiter führen können, und fühlen sich alleine durch diese Haltung schuldig. Manche werden zu Mitläufern, manche zu Tätern. Manche engagieren sich in …