Alle unter Lebenslüge verschlagworteten Beiträge

Ulrike Draesner: Kanalschwimmer

Die Fakten sind denkbar klar: Die Luftlinie zwischen Dover und Calais beträgt ca. 32 km, doch wer den Kanal schwimmend durchquert, legt wegen der starken Strömung und der Gezeiten oft eine längere Strecke zurück. Dabei gilt: Je schwächer der Schwimmer ist, desto mehr wird er abgetrieben und desto länger wird die Strecke. Und das bei Wassertemperaturen selbst im Hochsommer von ca 17 Grad. Dabei wird ein Swim nur gewertet, wenn man ihn so bewältigt, wie es der Pionier dieses Langstreckenschwimmens, Captain Matthew Webb, 1875 vorgemacht hat, nämlich mit Badehose oder Badeanzug, Schwimmbrille und Schwimmhaube, alle anderen Hilfsmittel sind tabu. Ein Mitglied eines der Verbände, der die Überquerung festhält und protokolliert – und der Versicherung gegenüber im Fall der Fälle erklärt, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist – sitzt im Beiboot. Das wird gesteuert von einem „Piloten“, dieser hier heißt Brendan, der dafür sorgt, dass der Schwimmer regelmäßig isst und trinkt, der darauf achtet, nicht in die Fahrrinne der Schiffe zu gelangen und der seinen Schützling im Falle einer totalen Erschöpfung frühzeitig aus dem Wasser …

Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer

Wie brüchig eine Existenz sein kann, das erfährt Sonja Bräuning mit über sechzig. Fast geflohen ist sie vom Bodensee nach Wales, ans Ende der Welt, könnte man meinen, dorthin, wo der Blick aufs meistens wild tosende Meer Weite und Grenzenlosigkeit und Ewigkeit verspricht – und die größtmögliche Freiheit, weil sie sich hier Tag für Tag für oder gegen das Leben entscheiden kann. Zu einem Zeitpunkt, zu dem Menschen ihres Alters darüber nachdenken, wie sie die Zeit ohne Arbeitsverpflichtung verbringen wollen, steht Sonja da mit einem in die Jahre gekommenen Hotel, das dringend renoviert werden müsste, und so hohen Schulden, dass die Banken im Ort, deren Vertreter jahrelang bei ihr ein- und ausgegangen sind, ihr kein weiteres Geld mehr leihen. Selbst Arno, ihr Schwager, der in besseren Zeiten mit seinem Bruder und dessen Michelin-Stern geprahlt hat, gewährt ihr keinen Kredit mehr. Er drängt sie aus dem Haus, das früher einmal die Gaststätte seiner Eltern gewesen ist, eines der „bodenständigen“ Häuser, in denen die Sauce zum Braten aus der Tüte kam. Bruno und sie haben Restaurant und …

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch

Da sitzt eine Mutter auf dem Boden vor dem Bett ihres Sohnes, seinen Kopf in ihren Schoß gebettet. Sie hat unruhig geschlafen, hat wohl schon geahnt, dass er in dieser Nacht sterben wird. So ist sie früh aufgestanden, noch im Dunkeln, um nach ihm zu schauen und hat ihn leblos vor seinem Bett gefunden. Er ist nicht einfach eingeschlafen, friedlich, wie man so sagt, sondern hat sich vor das Bett gesetzt, in der Hoffnung wohl, dass ihm dort sitzend das Atmen leichter falle. Die Mutter hat sich neben ihn gesetzt und wartet auf den Sonnenaufgang, erst dann will sie den Arzt rufen. Es ist sicherlich immer eine ungeheuerliche Situation, wenn ein Kind vor den Eltern stirbt. Auch in diesem Fall ist das so, auch wenn der Sohn erwachsen ist und die Mutter ihn seit einem Jahr pflegt. Aber aus einem ganz anderen Grund, als man erwartet. Denn nun, nach seinem Tod, kann die Mutter ihm endlich das alles erzählen, was sie ihm immer verschwiegen hat, kann endlich ihr Leben erzählen, wie sie es ihm nie …

Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt

Ihren Erzählungen stellt Karen Köhler ein Zitat von Frieda Kahlo voran, das, viel besser als es der verspielt wirkende Titel und der ebenso gestaltete Buchumschlag vermuten lassen, das Leitmotiv aller versammelten Geschichten verdeutlicht: I tried to drown my sorrows, but the bastards learned how to swim. Dabei haben Karen Köhlers Figuren, in dem Moment, in dem sie sie uns zeigt, nicht nur mit Sorgen zu kämpfen, sondern sind geradezu in existenzielle Nöte geraten, ausgelöst durch Tod oder Krankheit oder weil sie verlassen worden sind. Dieses Thema variiert die Autorin, zeigt uns verschiedene traumatisierende Situationen, die ihren Figuren, mit einer Ausnahme sind sie alle um die dreißig Jahre alt, allesamt den Boden unter den Füßen wegzieht, Situationen, die Hilflosigkeit erzeugen, Ohnmacht. In der ersten Erzählung „Il Comandante“ steckt die Protagonistin mitten in einer Krebsbehandlung, kein Haar hat sie mehr am Körper, einen künstlichen Darmausgang mitten auf dem Bauch und die Diagnose zeigt, dass der Krebs bereits gestreut hat, weitere Behandlungen stehen an, Ausgang ungewiss. Ihr Freund hat sie seit ein paar Tagen nicht mehr besucht, das …

Vanessa F. Fogel: Hertzmann´s Coffee

Weite Bögen spannt Vanessa F. Fogel in ihrem Roman: geografische – von Berlin über Caracas bis nach New York -, zeitliche – von den 1930er Jahren bis heute – und thematische – vom Überleben nach dem Holocaust, von Generationenkonflikten bis zu Geschwisterrivalitäten. Die Familie ist dabei die wichtige Konstante, die Familie, die das (Über-)Leben nach den Traumatisierungen garantiert, die Ort der Konflikte ist und letztendlich erzwingt, den Konflikten ins Auge zu blicken, die Familie also, die kleine Einheit, an deren Leben sich über die Generationen auch die Zeitläufte ablesen lassen. Alles beginnt auf der Geburtstagsfeier Doras, am 1. April. Geburtstagsfeiern sind in der Familie Hertzmann im New York der 2000er Jahre immer auch Gesellschafterversammlungen, weil ja die Familienmitglieder auch Teilhaber des Unternehmens Hertzmann´s Coffee sind. Und in diesem Jahr wartet Yankele, der fünfundachtzigjährige Patron, der das operative Geschäft schon vor Jahren an seine Kinder Jasmin und Leonard abgegeben hat, mit einem wahren Paukenschlag auf. Er entbinde, so verkündet er, Jasmin und Leonard von der Geschäftsführertätigkeit und betraue Eliot mit dieser Aufgabe. Der Aufschrei der beiden …

John von Düffel: Wassererzählungen

Von verschiedenem Wasser erzählt uns John von Düffel in diesen Erzählungen, von Ostsee und Nordsee, von einem natürlichen Schwimmteich, einem Swimmingpool, einem Teich im Garten, einem See in Norddeutschland. Von unterschiedlichen Landschaften erzählt er und von Menschen in entscheidenden Situationen ihres Lebens. John von Düffel ist ein passionierter, ein unermüdlicher Schwimmer. Dabei kann ihn beobachten, wer die Dokumentation zur Entstehung seines Houwelandt-Romans sieht: Immer wieder zieht von Düffel seine Bahnen, im Schwimmbad, im See. Und so bezeichnet er sich selbst als einen „Paradiesvogel“ unter den Schriftstellern, zumindest zu Beginn seiner Karriere sei das so gewesen. Ein asketischer Schriftsteller, dem der eigene Sport wichtig sei, das Langstreckenschwimmen noch dazu, das passe nicht zur gängigen Vorstellung über das Lebens eines Künstlers, der, so werde doch immer noch unterstellt, seine Schaffenskraft, seine Intuition und Kreativität vor allem auf den Genuss von Rauchwaren und Rotwein zurückführe, nicht auf den möglichst täglichen Gang ins meistens zu kalte Wasser [2]. Dass aber auch das zu kalte Wasser eine Inspirationsquelle sein kann, das zeigt von Düffel uns deutlich mit seinen „Wassererzählungen“. In …

Ulrike Draesner: Sieben Sprünge vom Rand der Welt

Die Stimme der Großmutter Lilly habe sie zuerst gehört, so berichtet Ulrike Draesner in ihrem Werkstattessay  zum Roman. Plötzlich sei sie da gewesen, die Großmutterstimme, und habe von der Vertreibung aus Oels erzählt, ohne Punkt und Komma, atemlos immer wieder, wenn sie die Bilder der Erinnerung kaum ertragen konn-te. Schnell habe sie notiert, was Lilly zu erzählen hatte, obwohl sie doch eigentlich an einem ganz anderen Roman arbeitete und obwohl ihr doch die Idee, die eigene Familiengeschichte in einem Roman zu verarbeiten auch immer als viel „zu nah“ erschienen war. Aber die Stimme der Großmut-ter und ihre zu Lebzeiten nie erzählte Geschichte ließ Ulrike Draesner nicht mehr los. Vielleicht war nun auch, 60 Jahre nach Kriegsende, endlich die Zeit gekommen, diese Geschichten zu erzählen. Die Autorin begann zu recherchieren, reiste nach Breslau und traf Vertriebene aus Ostpolen, die, da diese Gebiete nun zur Ukraine gehörten, von dort vertrieben wurden, in Breslau in die verlassenen Wohnungen der Deutschen einzogen und sich in dieser Umgebung entwurzelt und fremd fühlten, wie die Breslauer in Deutschland. Da, so berichtet …

Max Frisch: Aus dem Berliner Journal

Es hat einen blauen Einband, das „Berliner Journal“, so wie seine älteren Brüder, die Tagebücher von 1946  – 1949 und von 1966 – 1971. Wer es aufschlägt und die ersten Einträge liest aus dem Februar 1973, der wird sofort hineingesogen in die unnachahmliche Sprache Max Frischs. Kaum einem Schriftsteller gelingt es so überzeugend, mit ein paar Sätzen, ausformuliert die einen, unvollständig, manchmal bis auf ein Wort verknappt, die anderen, wie ein Zeichner mit ein paar Bleistiftlinien in seinem Skizzenbuch, vor den Augen der Leser eine vollständige Szene entstehen zu lassen, eine Geschichte zu erzählen, die darin mitschwingenden Gefühle gleich mit. Unvergessen aus den ersten Tagebüchern sind seine Beschreibungen der Situation im Nachkriegsdeutschland, die zerstörten Städte, die er aus dem Zug sieht, die Flüchtlingsströme auf den Bahnhöfen; seine literarischen Skizzen und Ideen, das Nachdenken über „sein“ Thema – wer der Mensch denn wirklich sei, sich selbst und anderen gegenüber -, Begegnungen mit anderen Schriftstellern, die Reisen in die USA, Skizzen des Alltags. Ein ähnliches Themenspektrum findet sich auch im Berliner Journal. Zum Ende des Jahres 1972 …

Zadie Smith: London NW

Im letzten Winter hat John Lanchester uns in seinem Roman „Kapital“ nach London gebracht, in die Pepys Road. Er hat uns erzählt von den Menschen, die nun dort leben in den mehrstöckigen Backsteinhäusern, erbaut zum Ende des 19. Jahrhunderts von den leitenden Angestellten in Steuerberaterbüros oder Anwaltskanzleien: dem jungen afrikanischen Fußballspieler zum Beispiel, der mit seinem Vater  in der Pepys Road wohnt; dem Banker, der nur darüber nachdenkt, wie hoch seine Jahresprämie sein muss, damit er sein Leben weiter finanzieren kann und wie hoch es idealerweise sein könnte; der alten Dame, die in der Pepys Road ihr gesamtes Leben verbracht hat und die nun dort stirbt; der pakistanischen Familie, die an der Ecke einen Kiosk betriebt; dem polnischen Handwerker, der in den Häusern Reparaturen durchführt; dem ungarischen Kindermädchen. Auch Zadie Smith entführt uns nach London, aber nach Kilburn, im Nordwesten der Hauptstadt gelegen, nicht gerade ein Viertel, in dem die Reichen wohnen, eher eines, in dem sich Arbeiter, „kleine“ Angestellte, viele Einwanderer vor allem ansiedeln. Aber Smith´ Romanpersonal ist überschaubarer als das John Lanchesters Geschichte …

Claire Beyer: Refugium

Ein Fuchs kündigt das Unglück an, ein einäugiger Hund ist behilflich, es aufzuklären. Zwischen beiden Ereignissen liegt ein Jahr, ein Jahr der Ungewissheit, ein Jahr zwischen Hoffen und Bangen, zwischen Schuldgefühlen und Wut, ein Jahr in der Schwebe, in der nichts abgeschlossen werden kann, in dem es keine Trauer gibt. An dem Morgen, an dem Claudia den Anruf aus Lappland bekommt, ist der Fuchs nicht gekommen, der gewöhnlich nachts den Mülleimer untersucht und dabei den Deckel verschiebt. Robert, der in den Wintermonaten in Lappland auf den zugefrorenen Seen die neuen Autos testet, werde vermisst, sagt die Kollegin am Telefon, spät am Abend sei er losgefahren mit einem der Testautos zu einer nicht geplanten Fahrt und er sei nicht wieder zurückgekehrt. Ob sie etwas von ihrem Mann gehört habe. Schnell wird klar, dass den Kollegen nicht nur das unerklärliche Verschwinden Roberts Sorgen bereitet, sondern auch der Umstand, dass er mit einem der neuen Autos, einem Erlkönig, losgefahren ist, das nun ebenso verschwunden ist. Leider, sagte ihr Gesprächspartner, könne er ihr nicht weiterhelfen. Er sei nur darüber …

Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer

Joel Spazierer ist ein Lügner, ein Dieb und ein Mörder. Er ist ein Schutzengel, ein fürsorglicher Begleiter, ein liebevoller Vater. Er arbeitet als Automechaniker ebenso erfolgreich wie als Drogendealer und Professor für wissenschaftlichen Atheismus (!). Joel Spazierer bewegt sich problemlos in Städten des West- und des Ostblocks, wenn es sein muss, macht er sich unsichtbar und lebt wochenlang im Wald oder im Keller eines Luxushotels. Er kommt in der Unterwelt genauso klar wie in der Gesellschaft der Industriellen oder der Apparatschiks der DDR:  Joel Spazierer besitzt die Gabe der Anpassung an die unterschiedlichsten Lebensbedingungen. Natürlich ist Joel Spazierer nicht sein richtiger Name. Geboren ist er, nach eigenen Auskünften jedenfalls, im März 1949 in Budapest als András Fülöp. Sein Großvater, Ernö Fülüp, ist Leiter der internen Abteilung an der Semmelweisklinik. Er gerät in die Hände der Staatssicherheit, deren Häscher ihn einsperren und foltern, weil sie ihm vorwerfen, er habe versucht, den Parteivorsitzenden Ungarns während einer Gallenblasenoperation auf Geheiß des jugoslawischen Politikers Tito zu ermorden. Seine Großmutter, Helena Fülöp-Ortmann, eine Ägyptologin, die mit einem Buch über Echnaton …

Ulrike Kolb: Die Schlaflosen

Es gibt doch wirklich nichts Herrlicheres, als sich abends ins Bett zu legen, sich wohlig unter der Decke auszustrecken, die Augen zu schließen und, in Morpheus Armen liegend, in die Traumwelt hinüberzugleiten – ganz egal, was der Tag so gebracht hat. Dann wird der Schlaf zu einem wunderbaren Gefühl des Gleitens und Schwebens, zu einer Fahrt „in das tiefe, wunderbare Dunkel, das man Schlaf nennt“ (S. 153). Aber gerade mit dem Schlafen haben die Menschen, die an diesem späten Nachmittag ins Hotel Gut Sezkow anreisen, so ihre Schwierigkeiten. Seit Jahren können sie nicht mehr schlafen, höchstens zwei bis drei Stunden in der Nacht dämmern sie hinweg, dann wachen sie wieder auf und nichts hilft, um wieder einschlafen zu können: sie nehmen Tabletten, trinken warme Milch, schieben das Kopfkissen zurecht, (vgl. S. 177) nur um doch wieder eine „qualvolle Nacht [zu verbringen], ohne Ablenkung, ohne die Hilfe eines zerstreuenden Fernsehprogramms, nur seinen privaten Dämonen ausgeliefert, deren Toben sich in der Wüste einsamer Nächte seines Kopfes bemächtigt und ihm Angst macht, reine Angst“ (S. 145). Und viele …

[5 lesen 20] Nellja Veremej: Berlin liegt im Osten

Als Kind wünscht Lena sich, Kosmonautin zu werden. Sie lebt ganz im Osten der Sowjetunion, dort, wo ihr Vater als Pilot die Grenze sichert nach Japan. In ärmlichen Verhältnissen leben sie dort, zwei Familien teilen sich eine Küche, sitzen, in verschiedenen Ecken des Raumes, beim Frühstück, beim Abendessen zusammen. Später, als ihr Vater bei einem Flugzeugabsturz stirbt, stellt sich heraus, dass er ein Verhältnis mit der Nachbarin hatte. Nun ziehen Lena und ihre Mutter zur Großmutter „in den Süden“, in eine Stadt am Kaukasus. Dort leben sie in der Nähe des Fleischkombinates, je nach Windrichtung ziehen Geruchsschleier vorbei. Das Fleischkombinat betreibt auch eine  Bibliothek, in einem Palais untergebracht und geleitet von Vera Antowna Gutova. Vera führt Lena nicht nur an die Weltliteratur heran, sie legt auch immer wieder neu eingetroffenen Bücher für sie zurück und liebt es, ausgiebig mit Lena über die Bücher zu diskutieren. Lena liest Victor Hugo, Tolstoi, Puschkin, Balsac, Stendhal, Gracia Marquez und eines Tages „Peter Schlemihls wundersame Geschichte“. Beeindruckt ist Lena mehr von den Radierungen, weniger von der Geschichte, denn sie …

[5 lesen 20] Monika Zeiner: Die Ordnung der Sterne über Como

Liebe, natürlich. Musik. Und Freundschaft. Tom Holler sitzt im Wohnzimmer mit Leonardo Hermanns, Ehemann von Anne, die wiederum Toms Klavierschülerin ist – und seine Geliebte. Sie trinken Whisky und plaudern, weil Anne beim Einkaufen offensichtlich die Zeit vergessen hat und nur ihr Ehemann, Physiker und als Manager sonst viel unterwegs, ausnahmsweise zu Hause ist. Beim Plaudern hat Hermanns Tom die Frage nach den wichtigen Dingen des Lebens gestellt. Nun schaut er nachdenklich den Klavierlehrer seine Frau an und bescheinigt ihm auf seinee Antwort hin, wohl doch noch sehr jung zu sein und er solle es genießen, es bliebe nicht immer so. Hermanns liegt mit seiner Einschätzung richtig, aber das ahnt jetzt noch niemand. Liebe, Musik und Freundschaft sind die Themen, die Monika Zeiner in ihrem Roman um Tom, Marc und betty auslotet. Und Berlin und Italien spielen auch eine große Rolle, das Berlin und das Lebensgefühl auf aufstrebenden Künstler in den frühen 1990er Jahre, und Italien, weil außer einem alle wichtigen Geschichten dieses Romans mit Italien zu tun haben, sei es die italienische Woche in …

Philipp Schönthaler: Nach oben ist das Leben offen

„Arbeit als Hochleistungssport“ überschreibt die Süddeutsche Zeitung vor einigen Tagen einen Artikel, der von den „World Skills“ berichtet, einem Wettbewerb, der in diesem Jahr in Leipzig stattgefunden hat und bei dem die Teilnehmer, Berufsanfänger aus 46 nicht-akademischen Berufen, gegeneinander antraten. Unter den Augen der Öffentlichkeit mussten sie in einer knapp bemessenen Zeit das Design für eine Jacke entwickeln und diese nähen, ein Auto lackieren, Fliesen legen, einen Gartenweg oder eine Wandfläche nach einer Vorlage gestalten. Und damit der Pinsel ruhig in der Hand liegt, hat sich die Maler-Meisterschülerin mit autogenem Training und mit Yoga gut vorbereitet. Die Menschen, die in diesem Artikel beschrieben werden, könnten Figuren sein aus Philipp Schön-thalers Erzählungen. Allen gemein ist ihr Streben nach Höchstleistungen, sowohl im Beruf als auch in Freizeitaktivitäten, die aber längst so professionell ausgeführt werden, dass sie zum Beruf ge-worden sind. Da ist zum Beispiel Termann, Apnoetaucher, dessen Ziel es ist, 200 Meter tief zu tauchen ohne Sauerstoff, nur mit seiner eigenen Luft. Diese Art des Tiefseetauchens ist nicht ganz ungefährlich, denn die eingeatmete Luft muss auch dazu …

Teju Cole: Open City

Nach Abschluss der Schule in Nigeria bewirbt Julius sich an amerikanischen Colleges. Sein gespartes Geld reicht gerade für die Bewerbungsgebühren, um das Flugticket nach New York zu bezahlen, muss er sich Geld von seinem Onkel leihen. Nun, fünfzehn Jahre später, ist Julius im letzten Jahr seiner Facharztausbildung zum Psychiater. Seine Freundin hat ihn gerade verlassen und so beginnt er abends nach der Arbeit im Krankenhaus damit, immer länger werdende Spaziergänge zu unternehmen, immer neue Straßen und Parks zu entdecken und zu genau zu beobachten, was sich ihm gerade zeigt. Er beschreibt und bestaunt die Architektur einer U-Bahn-Station, berichtet von seinen Museumsbesuchen, beobachtet die Menschen, die ihm begegnen, erzählt davon, was sie tun und wie sie leben: Als ich wieder zur Mitte des beinahe menschenleeren Hauptganges zurücklief, eilte gerade ein einzelner Mann zu den U-Bahn-Aufzügen und ließ seine Aktentasche fallen. Mit lautem Klappern fiel sie zu Boden. Er sank auf die Knie und sammelte den Inhalt auf. Sein übergroßer, mausgrauer Trenchcoat stülpte sich über ihn wie ein viktorianisches Kleid. (…) An einem Falafelstand an der Ecke …

Grégoire Delacourt: Alle meine Wünsche

Beim Stöbern im Besten Buchladen hat das Umschlagbildes mein Interesse geweckt: Faden, Nadel, Knopf und Stoff. Und als ich dann auf dem Klappentext gelesen habe, dass die Protagonistin einen Weblog über Sticken, Nähen und Stricken betreibt, bin ich neugierig geworden  – auch wenn ich beim Hinweis auf den hohen Lottogewinn erst einmal einen recht kitschigen Inhalt befürchtet habe. Jocelyne Guerbette ist die Besitzerin eines Kurzwarenladens in Arras. Sie lebt dort mit ihrem Mann, die beiden Kinder gehen schon ihre eigenen Wege. Seit ein paar Monaten betreibt sie unter dem Namen „Zehngoldfinger“ einen Blog, der so schnell so viele Leserinnen anspricht, das es schon fast unheimlich ist: Ich schreibe darin jeden Morgen über die Freuden des Strickens, des Stickens, des Nähens. Ich stelle Stoffe und Wolle vor, Bänder mit Pailletten, aus Samt, Satin und Organdy; Baumwoll- und Elstikspitze, Tattenschwanzschnur, gewachste Schnürsenkel, geflochtene Kunstseidenkordel, Anorakkordel. Und schon kommt eine Journalstin und möchte sie interviewen für einen Beitrag in der Zeitung: Sie haben schon tausendzweihundert Besucher am Tag, ruft die Journalstin, tausendzweihundert, allein hier in der Gegend. (…) …