Ihren Erzählungen stellt Karen Köhler ein Zitat von Frieda Kahlo voran, das, viel besser als es der verspielt wirkende Titel und der ebenso gestaltete Buchumschlag vermuten lassen, das Leitmotiv aller versammelten Geschichten verdeutlicht:
I tried to drown my sorrows, but the bastards learned how to swim.
Dabei haben Karen Köhlers Figuren, in dem Moment, in dem sie sie uns zeigt, nicht nur mit Sorgen zu kämpfen, sondern sind geradezu in existenzielle Nöte geraten, ausgelöst durch Tod oder Krankheit oder weil sie verlassen worden sind. Dieses Thema variiert die Autorin, zeigt uns verschiedene traumatisierende Situationen, die ihren Figuren, mit einer Ausnahme sind sie alle um die dreißig Jahre alt, allesamt den Boden unter den Füßen wegzieht, Situationen, die Hilflosigkeit erzeugen, Ohnmacht.
In der ersten Erzählung „Il Comandante“ steckt die Protagonistin mitten in einer Krebsbehandlung, kein Haar hat sie mehr am Körper, einen künstlichen Darmausgang mitten auf dem Bauch und die Diagnose zeigt, dass der Krebs bereits gestreut hat, weitere Behandlungen stehen an, Ausgang ungewiss. Ihr Freund hat sie seit ein paar Tagen nicht mehr besucht, das Handy abgeschaltet, sie kann ihn nicht erreichen. Die Diplompsychologin sitzt am Bett, versucht sie zu überreden, zu ihr in die Beratung zu kommen und während die Psychologin redet und redet, betrachtet die Patientin die Wolkenformationen am Himmel:
Sie habe Verständnis für meine Situation und Erfahrung mit Patienten wie mir. Sie könne sich meine Gefühle und Ängste gut vorstellen. Ein Playboy-Hase fliegt auf den Diplompsychologinnenkopf zu. Jetzt hat sie vier Ohren. Sie wisse, dass gerade in meiner Situation oft Überforderungen im Umgang mit der Krankheit auftreten und dass so was auch eine Partnerschaft belasten könne. Ich blicke weiter aus dem Fenster. Die Hasennase kommt als Schlange wieder aus ihrem Ohr heraus. (S.11 -12)
Ein paar Sätze reichen, lakonisch hingeworfen von den Erzählerinnen, und der Leser ist mittendrin in den Geschichten, liegt im Krankenhausbett, ist verzweifelt, hat Angst vor der Ungewissheit, kann kaum etwas tun, ist der Situation ausgeliefert. Es bleibt der Blick aus dem Fenster auf die bizarre Figuren formenden Wolkengebilde, um der eigenen ausweglosen Realität eine andere entgegenzustellen. Später wird die Erzählerin im Krankenhaus-Café einen anderen Patienten kennenlernen, einen im Rollstuhl sitzenden Liebhaber von Banana-Split und der Musik von Buena Vista Social Club, der ihr Lebensmut und ein paar Entscheidungsmöglichkeiten zurückgibt, dem sie dann die Krankenhauskirche im Keller zeigt.
Die Geschichten, die alle eine besonders bedrückende, ausweglos erscheinende Situation beleuchten, kurz nur, wie ein Streiflicht, und dabei – natürlich – vieles offenlassen, werden uns in verschiedenen Formen erzählt: als Postkartengeschichte, als Geschichte, die sich durch Tagebucheinträge rekonstruieren lässt, in Form von verstreuten Gedanken, die das eine, das unglaubliche Ereignis umkreisen, als Road-Movie, als Abschiedsbrief. Da versucht Köhler sich an ganz verschiedenen Formen, an ungewöhnlichen auch, die neben den Geschichten, neben der sprachlichen Gestaltung noch eine dritte Ebene in das Lesen einbringen.
Da ist Polar, mit bürgerlichen Namen Suse, die sich beim Heiratsantrag so überrollt fühlt, dass sie Reißaus nimmt, abhaut nach Italien, das Handy ab München ausgeschaltet, die Verbindung zum Freund hält sie über die Postkarten aufrecht, die sie aus den Sehnsuchtsstädten des Dolce Vita schreibt. Da ist die Schauspielerin, die verlassen wurde – sie hat es geahnt, der Freundeskreis hat es schon geraume Zeit gewusst. Auch sie nimmt Reißaus, kann die vertraute Umgebung nicht mehr ertragen, findet sie vergiftet durch die ehemalige große Liebe und heuert auf einem Kreuzfahrtschiff an. Weil sie nicht so gut singen kann, spielt sie nun im Musical Aqua-Life zuerst eine Qualle, die „schönste Qualle“, die „erste Qualle von links“, später auch Wassergras. Auch die Rolle Evelyn Hamanns in den Loriot-Geschichten, einer anderen Aufführung zum Zeitvertreib der „Freizeithaber“ an Bord, so nennt sie die Touristen, ist für sie kein Anlass zur Freude.. Da ist Kat, die in Nevada, mitten in der Wüste, strandet und in der sengenden Hitze Meilen läuft, um zu einer Tankstelle zu gelangen. Dort wird sie von einem Indianer vor dem Sonnenstich gerettet, von einem Indianer, wie sie ihn sich als Kind immer vorgestellt hat, mit richtigem Indianeranzug und Federschmuck auf dem Kopf.
Diesen Erzählungen stellt Köhler am Ende des Bandes die Geschichte von Asja entgegen, einer siebzigjährigen Frau, die ganz anders lebt als all die anderen Protagonistinnen unserer modernen Welt: Sie ist irgendwo im Wald geboren, weit weg von jeder Zivilisation, vor der die Eltern mit den älteren Brüdern geflohen sind, weil sie in den Städten ihre Religion nicht ausüben konnten. Im Wald haben sie eine Hütte gebaut, haben Gemüse angepflanzt, sind zur Jagd gegangen. Und wenn es zu lange zu kalt war, wenn das Gemüse von den Wildschweinen vernichtet oder das einzige Messer verrostet und entzwei gegangen ist, sodass sie keine Pfeile für die Jagd schnitzen können, dann muss die Familie über Jahre hungern, so lange, bis sie die wenigen überlebenden Pflanzen so vermehrt haben, dass sie wieder genügend Saatgut haben, solange, bis ihnen Sozialarbeiter, die sie im Sommer aufsuchen, ein neues Messer mitbringen. Asja hätte mit ihnen aus dem Wald weggehen können, sie haben es angeboten, als Asja ganz alleine war, alle anderen waren schon gestorben. Aber Asja bleibt, sie nimmt nicht Reißaus.
Köhler gelingt es mit jeder Geschichte, den Leser in die neue Umgebung zu entführen, sie schreibt so bildhaft, und manchmal scheint sie auch Bilder – bei der Tankstellenszene zum Beispiel taucht sofort ein Bild Edward Hoppers auf -, und Filmausschnitte zu zitieren, dass sich die Umgebung sofort in unserer Fantasie aufbaut. Wenn die Sonne umbarmherzig über der Wüste Nevadas scheint, brennt sie auch uns auf den Kopf, wenn es nachts frostig wird auf dem Hochsitz, der Nebel durch alle Ritzen wabert, dann ziehen auch wir die Decke enger um uns. Und obwohl ihre Ich-Erzählerinnen nie direkt etwas über ihre Gefühlslage schreiben, wir immer nur über ihr Handeln, ihr Sehen oder ihre Beschreibungen Rückschlüsse ziehen können, ist das melancholische Gefühl, das depressive, das suizidale auch, sofort spürbar.
Dennoch: Beim Lesen der Geschichten wächst das Unbehagen. Es mag an den Dopplungen der Schicksalschläge liegen: Rucksäcke werden mehrfach gestohlen und die Protagonistinnen sitzen zu ihrem Unglück nun auch noch zusätzlich mit leeren Händen in fremden Ländern; mehrfach kommt es zum vorzeitigen Ende einer Schwangerschaft kurz nach dem dritten Monat, einmal gar auf einer Bahnhofstoilette; es mag an dem dramatischen Verlauf der der Schicksalschläge liegen: Zum Unfalltod der Schwester kommt der Liebesakt mit deren Freund, sein Weggehen und die Schwangerschaft, oder: dem Unfalltod des Geliebten folgt der soziale Abstieg, der einzige Ausweg scheint der Hungertod auf dem Hochsitz; es mag an den vielen magischen Gegenständen liegen, die die in den Erzählungen immer wieder eine Rolle spielen: in der Krankenhauskellerkirche liegen „Steine der Schwere“ bereit, die Angst und Sorgen der Patienten aufsaugen, und natürlich auch Wunschzettel, die verlassene Schauspielerin führt ein Notizbuch mit sich, in dem sie jeden Gedanken an den untreuen Geliebten mit einem Strich festhält, später wird sie das Buch auf den Lofoten vergraben; es mag ganz einfach daran liegen, dass dieses eine Thema in gleich neun Variationen daherkommt, sodass es dann doch zu viel wird.
Das Unbehagen mag auch entstehen, weil die Figuren der Erzählungen alleine durch die jeweils besondere Sprache, vielleicht auch die Ich-Erzählperspektive, lebendig und glaubwürdig sind. Stellt man sie aus diesem Kontext in eine andere (Sprach-)Welt, so werden ihre Geschichten, ihre Handlungen und Entscheidungen merkwürdig: Da meint jemand, den Freund mit dem Heiratsantrag über Wochen zu Hause sitzen lassen zu können, mit der Vespa Italien zu erkunden und er versteht, dass sie ihn bittet „Ich brauche noch Zeit.“? Da hungert sich eine Frau in den beginnenden Winter hinein auf einem Hochsitz zu Tode, die Chance der letzten Rettung, einen Vater mit seinem Sohn, die durch den Wald streifen, nicht ergreifend?
Vielleicht bilden die Geschichten, die Karen Köhler hier erzählt, das Lebensgefühl einer Generation ab, der sie Asja als Vertreterin einer anderen Generation – aber auch eines ganz anderen Kulturkreises – entgegenstellt. Die Jurys jedenfalls, die Literaturpreise vergeben, sind landauf – landab begeistert von Köhlers Debüt über die Protagonisteinnen, die ihre Sorgen einfach nicht loswerden.
Karin Köhler (2014): Wir haben Raketen geangelt, München, Hanser Verlag
Ein Interview mit der Autorin, in dem sie auch von den Erlebnissen ihrer Lesereise erzählt, findet ihr hier.
Ein ganz tolles Buch! Das lese ich sicherlich noch mal 🙂
An und für sich gut geschrieben, aber noch mal lesen werde ich das Buch nicht. Seit Jahren habe ich selber schon genug Sorgen…Und über die unschoene Seite der Gesellschaft gibt es täglich genug Berichte..Viel zu wenig wird m.E. über positive Ereignisse berichtet.