Monat: Oktober 2014
LLL 2014 – Esther Kinsky: Am Fluss
„sie lernte das Licht“ – Ein Gastbeitrag von Thomas Molitor Esther Kinskys Roman „Am Fluß“ ist am River Lea im Nordosten Londons angesiedelt. Die namenlose Ich-Erzählerin wählt diesen zunächst bedeutungslosen, fast vergessenen Ort, um sich vom großstädtischen Leben, aber auch von ungenannten Beschädigungen ihrer eigenen Existenz zu verabschieden: „Ich hatte mich nach Jahren aus dem Leben, das ich in der Stadt geführt hatte, herausgeschnitten wie einen Schnipsel aus einem Landschafts- oder Gruppenfoto.“ Mit diesem sezierenden Schritt in einen ihr unbekannten Stadtrandbezirk Londons will sie sich einerseits von Vergangenem lösen, zugleich aber längst verschüttete Erinnerungen aufsuchen, um so eine neue Zukunftsperspektive aufzubauen. In diesem Außenbezirk Londons, der schon bessere Zeiten gesehen hat, geht die städtische Dichte über in eine Art Grenzgebiet. Auch die dort lebenden Menschen sind von der pulsierenden Urbanität an den Rand gespült worden. Neben frommen Juden leben hier Menschen unterschiedlichster Herkunft. Sie alle sind hier gestrandet, weil sie sich im städtischen Labyrinth und damit in ihrem eigenen Leben nicht mehr zurechtgefunden haben. So zieht die Erzählerin in eine kleine, eher zufällig gewählte Wohnung. …
LLL 2014 – Michael Köhlmeier: Zwei Herren am Strand
Schon in Köhlmeiers Novelle „Idylle mit ertrinkendem Hund“ hat ein schwarzer Hund eine ganz besondere Rolle. Einmal trifft ihn der Lektor beim Spaziergang und – obwohl er eigentlich sehr von Hundeangst geplagt ist– teilt er mit diesem sein Brot. Ein anderes Mal treffen Lektor und Erzähler genau diesen Hund am See wieder, der Hund droht ins Eis einzubrechen, der Erzähler hält ihn, selbst bald in Gefahr, ins kalte Wasser zu rutschen, solange, bis der Lektor mit der Hilfe eintrifft. Nun, in seinem neuen Roman von den beiden Herren am Strand, spielt ein schwarzer Hund wieder eine gewichtige Rolle. Er geht nämlich ein und aus bei Charlie Chaplin und bei Winston Churchill, den beiden Protagonisten des Romans. Immer wieder, in unregelmäßigen Abständen, manchmal absehbar, manchmal aus heiterem Himmel, kratzt er an die Tür der beiden, findet Einlass und stürzt die Besuchten durch Heulen und Zähneklappern, manchmal auch nur durch stummes Anstarren, in eine unendlich große Schwermütigkeit. Dann wird Churchill, der begnadete Rhetoriker, innerhalb weniger Stunden zu einem ängstlichen Stammler, kann die Tage überhaupt nur überstehen, wenn …
LLL 2014 – Lukas Bärfuss: Koala
Der Bruder hat seinen Suizid genau geplant. Erst hat er seinen letzten Willen formuliert, seinen Besitz unter Freunden und Familie verteilt, bestimmt, wie er beerdigt werden möchte. Sechs Wochen später dann hat er sich in eine Badewanne gelegt und eine Überdosis Heroin gespritzt. Die Wohnung hat er vorher aufgeräumt, die Wohnungstür unverschlossen gelassen, damit sie nicht unnötig aufgebrochen werden muss, die geliehenen Gegenstände mit Zetteln versehen, sodass sie schnell zurückgegeben werden können. In die Wanne hat er sich gelegt, weil er keinen Schmutz hinterlassen will. Der Ich-Erzähler reist, als er die Nachricht vom Tod des Bruders erhält, zurück in seine Heimatstadt, die er vor vielen Jahren verlassen hat. Abends sitzt er mit Freunden des Bruders zusammen, alle sind überrascht, denn vor ein paar Tagen noch haben sie zusammen gesessen, so erzählen die Freunde, zusammen gewürfelt. Bestimmt habe er sich da von ihnen verabschiedet „im Geheimen, er für sich alleine, ohne sich zu offenbaren“. Und dann, später am Abend, als sie sich gefasst haben, beharren die Freunde darauf, dass ein Erstaunen über die Tat nicht richtig …
Experiment im Lesesalon der Süddeutschen Zeitung
In der letzten Woche hat die Süddeutsche Zeitung ihre Leser in ihren – virtuellen – Lesesalon eingeladen. Dort können sich 100 Leser treffen, um gemeinsam ein Buch zu lesen, sie können es dort gemeinsam diskutieren, sie können Fragen zu stellen, Anregungen geben, also alles das tun, was wir tun können, wenn wir uns in der realen Welt mit anderen Lesern um einen Tisch versammeln und über die gemeinsame Lektüre ins Reden kommen. Nur, dass wir oft in unserer unmittelbaren Umgebung gar keine Mitleser finden, also gar kein Gegenüber haben für spannende Diskussionen. Wir Blogger haben dafür schon einen anderen Weg gefunden, versuchen nämlich Gleichgesinnte in der virtuellen Welt zu finden, und manchmanl, wenn alles richtig gut läuft, dann kommt auch eine Diskussion zu einem Buch zustande, dann findet ein richtig guter Austausch über auch kontroverser Blickwinkel, verschiedener Perspektiven und Deutungen statt. Ich erinnere mich an diese Sternstunden im Zusammenhang mit Wolfgang Herrndorfs Buch „Struktur und Arbeit“ und in jüngerer Zeit hat es beim gemeinsamem Lesen von Longlist-Tieln ganz toll geklappt mit den Diskussionen. Dann ist …