Alle unter Gesellschaftsroman verschlagworteten Beiträge

Joachim Zelter: Im Feld. Roman einer Obsession

Joachim Zelter ist Rennradfahrer. Beim Videodreh anlässlich der Literatour Nord steht das Fahrrad erst im Hintergrund, später sieht man ihn darauf fahren. Er kennt sich aus mit dem Rennrad, ist vermutlich einer derjenigen, die auf den Landstraßen unterwegs sind, Kilometer um Kilometer und die Hügel und Berge gerne im Sattel erklimmen. Die sich, allen Anstrengungen zum Trotz, voller Motivation immer daran machen, Kilometer zu fressen, die sich an freien Tagen mit Gleichgesinnten treffen und die Strecken gemeinsam bewältigen – „im Feld“ fällt es leichter. Und so ist er für die Geschichte, die in seinem jüngsten Roman erzählt wird, offensichtlich ein Experte. Frank, der Protagonist, nimmt uns Leser mit zu seinem Radrenntreff an Christi Himmelfahrt. Als Teilnehmer der Trainingsfahrt, die wirklich eine Art Himmelfahrt wird, als einer, der, wann immer er dazu in der Lage ist, genau beobachtet, was um ihn herum passiert, gewährt er uns Einblicke in all das, was sich im Feld ereignet. Und auch in sein eigenes Leben, das er bei dieser Fahrt immer wieder reflektiert. Susan und Frank sind aus Göttingen nach …

Leserückblick 2018 (3): Vier Familienromane erzählen europäische Geschichte(n)

Möglicherweise gibt es sie in jedem Jahr, aber in diesem Jahr haben mir gleich vier Romane ganz besondere Lesezeiten beschert, die sich dem Genre des Familienromans zurechnen lassen. Auffallend sind sie, weil sie nicht so sehr von den Konflikten und Probleme zwischen den Figuren und ihren Zielen und Werten erzählen oder vom ewigen Zwist zwischen den Generationen, weil sie eben nicht in erster Linie vom Zusammenleben in den Familien erzählen und daraus eine Geschichte entwickeln. Auffallend sind sie, weil sie eher anders herum die Frage ausloten, wie die Familienmitglieder, wie die Familienverbände insgesamt mit gesellschaftlichen, ja, vor allem mit politischen Zeitläuften umgehen, wie sie dem Druck politischer Ideologien standhalten – oder eben auch nicht –, wie das Leben einzelner oder auch das Leben der gesamten Familie beeinflusst wird durch die politischen Zustände. Manche versuchen sich wegzuducken und entwickeln Mechanismen, um den toxischen Anforderungen aus dem Weg zu gehen, damit sie ihr Leben unbehelligt weiter führen können, und fühlen sich alleine durch diese Haltung schuldig. Manche werden zu Mitläufern, manche zu Tätern. Manche engagieren sich in …

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex 2

Nun ist Vernon also ganz unten angekommen, als Obdachloser im Norden Paris´. Sein sozialer Abstieg, etwas abgemildert durch seine Freunde und Bekannten, die ihn – mehr oder weniger begeistert – immer wieder für ein paar Tage aufgenommen haben, hat ihn jetzt also auf eine Parkbank verschlagen in der Nähe des Parc Buttes-Chaumont. Und da liegt er nun in den kalten Vorfrühlingstagen, krank und mit hohem Fieber, oft halluziniert er. Und droht selbst hier vertrieben zu werden, weil ein Anderer ihm diesen Platz streitig macht. So also beginnt der zweite Teil der Geschichte Vernon Subutex´, der sich somit nahtlos an die Erzählung des ersten Bandes anschließt. Doch ganz schnell wird deutlich, dass dieser zweite Band in einem ganz anderen Ton erzählt ist als der erste. Hier finden sich nicht mehr die oft kurzen und knappen Sätze, die beim Lesen so eine unheimliche Geschwindigkeit entwickeln, die gespickt sind mit schnodderigen Wendungen, mit abfälligen und beleidigenden, mit Begriffen der Gewalt, des sozialen Abstiegs und des politischen Extremismus, mit Ausdrücken aus dem Drogenmilieu, der Musikszene und dem Börsenparkett und …

Salman Rushdie: Golden House

Erzähler dieser „goldenen Geschichte“ ist René Unterlinden, Sohn eines belgischstämmigen Professorenpaares – die beiden sitzen gerne abends beim Schein ihrer Lampen über ihre Bücher gebeugt – und angehender Filmemacher. René hat gerade sein Studium abgeschlossen und möchte einen Film über seine Nachbarschaft drehen, aber es fehlt ihm der Plot, der seiner Geschichte antreibt und ihr Spannung verleiht. Immer wieder sinniert René über sein Erzählkonzept, fügt Passagen des Filmscripts in die Erzählung ein, ergeht sich in Andeutungen und Bewertungen und macht so den Leser zum Mitwisser – fast wie Frank Underwood es in House of Carts betriebt. Seinen Plan für ein recht ambitioniertes Epos jedenfalls hat René schon zu Beginn formuliert: „Mit der grenzenlosen Ichbezogenheit der Jugend hatte ich begonnen, mir einen großen Film vorzustellen oder einen Filmzyklus im Stil eines Dekalogs, der von Migration handeln sollte, von Transformation, Angst, Gefahr, Rationalität, Romantik, sexueller Umwandlung, der Stadt, von Feigheit und Mut; nicht weniger als ein panoramaartiges Porträt meiner Zeit. Mein bevorzugter Stil sollte etwas sein, das ich für mich Opernhafter Realismus nannte, mein Thema der Konflikt …

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex

Es sind im Moment die französischen Autoren, die die aktuellen und spannenden Geschichten erzählen, die realistischen, die lauten und schrillen Geschichten, die in schönster Selbstverständlichkeit Risse und Brüche in der Gesellschaft ausleuchten und dabei kein Blatt vor den Mund nehmen: Yannick Haenel gehört zu diesem Autoren mit seinem Roman „Die bleichen Füchse“, in dem er seinen erst arbeits- und dann obdachlosen Protagonisten Jean Deichel in die Gesellschaft der Flüchtlinge aus Mali führt, die Gesellschaft der Sans-Papiers, der illegal Eingewanderten, die ein „Manifest der bleichen Füchse“ entwickeln. Oder Shumona Sinha mit „Erschlagt die Armen.“ und einer Protagonistin, die, selbst nach Frankreich eingewandert, bei Asylverfahren ihrer Landsleute dolmetscht und dadurch tiefe Einblicke in die verfahrene Situation des europäischen Asylrechts geben kann und die nun einem Migranten in der Metro eine Flasche Wein über den Kopf geschlagen hat. In diesen Kanon lässt sich auch Virginie Despentes mit ihrem Roman über Vernon Subutex einreihen. Sie verortet ihre Romanhandlung allerdings nicht in den Einwanderungsmilieus und sie gestaltet ihre Geschichte mit einem großen Figurenensemble auch wesentlich vielschichtiger als Haenel und Sinha. …

Paul Auster: 4 3 2 1

Wie wäre unser Leben wohl verlaufen, wenn eine kleine Facette der äußeren Einflussfaktoren anders gewesen wäre? Oder wenn wir uns an irgendeiner Stelle anders entschieden hätten? Wenn die Eltern sich hätten scheiden lassen, oder wenn sie es eben nicht getan hätten; wenn ein Elternteil nicht so früh gestorben wäre, wenn die Familie in eine andere Stadt gezogen wäre, wenn die finanzielle Situation anders gewesen wäre, wenn die Eltern andere Freunde gehabt oder wir in andere Schulen gegangen wären, wenn wir uns anderen Freunden angeschlossen hätten, uns in andere Menschen verliebt, eine andere Sportart oder einen anderen Sportverein gewählt hätten? Wenn die gesellschaftspolitischen Entwicklungen andere gewesen wären? Wären wir dann ganz andere geworden als die, die wir heute sind? Paul Auster ist in seinem Roman „4 3 2 1“ genau diesen Fragen nachgegangen. Er erzählt uns die Geschichte von Archibald Ferguson, aber nicht nur von einem, sondern gleich von vier. Alle sind sie Enkel Isaac Reznikoffs, der genau am 1.1.1900 in New York an Land gegangen ist. Er kam aus Minsk, hat sich mit ein paar …

Ernst-Wilhelm Händler: München. Gesellschaftsroman

Als Gesellschaftsroman bezeichnet Ernst-Wilhelm Händler seinen Roman im Untertitel und erzeugt damit ganz konkrete Erwartungen bei seinen Lesern: Eine Großstadt mit ihren verschiedenen Bewohnern und ihren gesellschaftlichen Verwerfungen gerate hier unter das Brennglas des Autors, so meint der Leser, wie in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, wie in John Lancasters „Kapital“. Nach Berlin und London nun also München, so der Romantitel. Damit hat Händler schon einmal eine falsche Spur ausgelegt, denn in seinem Roman werden weder gesellschaftliche Unterschiede ausgelotet noch komplexe Handlungsstränge verschiedener Figuren kunstvoll ineinander verwoben. In München spielt der Roman und zeigt viel Lokalkolorit, aber er spielt nur in einer Gesellschaft, der besseren nämlich. Alle Figuren sind auf sehr viel Geld recht weich gebettet, gehen in den angesagten Münchner Shops großzügig einkaufen und zeigen mit den angesagten Modemarken, wer sie sind. Sie verkehren auf Partys von RTL-Größen, an den Kulturplätzen der Stadt oder auch beim Charity-Dinner auf Schloss Herrenchiemsee, wenn dort Prinz Franz seinen achtzigsten Geburtstag in angemessener Kulisse begeht. [Zum Weiterlesen hier entlang]