Monat: März 2018

Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen

Seit dem 19. Jahrhundert sind Menschen aus aller Herren Länder ins Ruhrgebiet gekommen. Sie sind den schlechten Lebensbedingungen in ihrer Heimat entflohen und haben hier Arbeit gefunden, „unter Tage“ beim Kohleabbau oder in den Stahlwerken beim „Stahl kochen“. Sie haben schwere und oft auch gefährliche Arbeit geleistet, haben ihre Gesundheit ruiniert bei Arbeitsunfällen und durch das schleichende Gift des Kohlenstaubs. Sie haben sich oft ihr Leben lang nicht heimisch gefühlt in der neuen Heimat in Bottrop oder Dinslaken, in Gelsenkirchen oder Dortmund und in den kleinen, ärmlichen Bergbauwohnungen direkt neben dem Pütt. Aber sie haben zumindest mit ihren Familien gelebt, sind an einem Ort geblieben und haben Freundschaften geschlossen. Und manch einer hat neue Hobbys gefunden, den Fußball oder die Taubenzucht. Heute sind die Zechen nördlich der Ruhr längst geschlossen. Der Hunger der Welt nach Energie wird in den Ölfeldern gestillt, die Arbeit ist dorthin gewandert, mit ihr die Arbeiter. Wie damals unter Tage arbeiten nun Männer verschiedenster Nationalitäten auf den Ölplattformen, aber sie gehen nach der Arbeit nicht zu ihrer Familie nach Hause, sondern …

Tanguy Viel: Selbstjustiz

Tanguy Viels Roman hat viele Ähnlichkeiten mit Norbert Scheuers Roman vom „Grund des Universums“. Wie Scheuer hat Viel seinen Roman in der Provinz angesiedelt, am bretonischen „Ende der Welt“, im Finistère, in der Nähe von Brest, an der Küste mit dem oft grauen Wetter, dem rauen Atlantik, dem Kreischen der Vögel. Wie bei Scheuer gibt es auch hier einen Immobilienmakler als Inkarnation des Raubtierkapitalismus, der den Politikern und den Bewohnern der vom Strukturwandel geplagten Region – hier ist es die Marinebasis, die mehr und mehr Mitarbeiter mit jeweils schönen Abfindungen entlässt – das Blaue vom Himmel verspricht. Und wie bei Scheuer spielt auch hier die Natur eine große Rolle, die Landschaft, das Wetter und das Meer, die allesamt ihre Spuren bis in die Erzählungen, bis in die Sprache der Menschen hinterlassen haben. Der Immobilienentwickler heißt Antoine Lazenec und kommt mit perfekt geputzten spitzen Schuhen, in schwarzer Anzugjacke und mit nach Pariser Art offen stehendem Hemd, vor allem standesgemäß in einem cremefarbenen Sportwagen zur Ortsbesichtigung. Wenn er das „Schloss“ des Ortes, eigentlich nur ein großes Haus …

Norbert Scheuer: Am Grund des Universums

Nach den Leseausflügen nach Paris, New York, Istanbul und wiederum Paris könnte die Eifelgemeinde Kall, in der die Romane Norbert Scheuers angesiedelt sind, kaum gegensätzlicher sein. Aber auch wenn dort alles einige Nummer kleiner ist als in den Weltmetropolen, so sind die Fragen der Menschen an das Leben, ihre Lebenspläne, ihr Glück und ihr Unglück, ihre Liebe und ihr Verrat doch gar nicht so verschieden zu den Problemen der Großstadtbewohner. Die Rolle von Wolkenkratzern, Museen und Galerien, Parks und U-Bahnen übernimmt die Landschaft, die das Leben der Menschen, ihre Träume und ihre Erzählungen prägt. Von einer übersichtlichen Menschenschar in Kall erzählt also Norbert Scheuer in seinem Roman und zeigt im Kleinen, dass es hier keineswegs ums Provinzielle geht, sondern durchaus um die großen und wichtigen Themen des Lebens. Wer nach Kall reisen möchte, der nimmt in Köln den Zug in Richtung Trier. Fährt durch Bad Münstereifel und dann durch den Tunnel, hinter dem das alte Bergbaugebiet anfängt, das Kall vor Jahrzehnten zu einer wohlhabenden Gemeinde gemacht hat. Die aufgelassenen Stollen, Gänge und Höhlen, das Unsichtbare …