Alle Beiträge, die unter Identität gespeichert wurden

Yannic Han Biao Federer: Tao

Es sind gleich zwei Verluste, die Tobi belasten. Da hat einmal gerade Miriam mit ihm Schluss gemacht und er muss sich eine neue Bleibe suchen. Es wird ein Einzimmer-Apartment in Köln-Kalk, der Eingang liegt zwischen dm und einem Pizza- und Döner-Imbiss, hinter dem Haus ein Parkplatz vor dem Aldi-Markt, gegenüber dem Haus die Fassade eines alten Kaufhofs, in den gerade ein Kaufland einzieht. Das Zimmer riecht nach Kunststoff und die Küchenmöbel haben auch schon bessere Tage gesehen, aber der Hausverwalter überlässt sie ihm, einfach so. Es scheint, als spiegele sich Tobis innere Welt in der ungemütlichen äußeren. Warum Miriam Schluss gemacht hat, das weiß er nicht genau. Sie kennen sich seit Schultagen. Aber damals war sie mit Markus zusammen. Der hat ihn immer „Schlitzi“ gerufen, weil Tobis Vater Chinese ist. Und einmal hat er ihn auch übel verprügelt im Keller der Schule, weil es das Gerücht gab, Tobi habe mit Miriam geschlafen. Tobi und Miriam haben sich später erst in Freiburg wiedergetroffen und sind dann zusammen nach Köln gezogen. Miriam ist die einzige, die ihn …

Natasha Brown: Zusammenkunft

Natasha Browns Ich-Erzählerin könnte die Kollegin von Carole sein, einer der Figuren aus Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ sein: eine junge schwarze Frau, die sich durch Bildung und gute Leistungen eine Karriere im Finanzsektor erarbeitet hat, ein Einkommen bezieht, das eine schöne Wohnung in einem der georgianischen Townhouses in London ermöglicht, die eine soziale Stellung erreicht hat, die ihr einen Freund beschert aus einer der ganz alten englischen Familien, einer mit Standesbewusstsein, Großgrundbesitz und so viel Geld, dass die Familienmitglieder von den Zinsen leben können. Die biographischen Daten vom Aufstieg, von dem zwar anstrengenden, aber doch gelingenden Weg in die begüterte Mittelschicht, lassen eine Heldinnengeschichte vermuten. Aber die ersten Sätze, die ersten Vignetten, ätzende Momentaufnahmen einzelner Situationen, machen mehr als deutlich, dass hier eine Erzählerin nicht stolz auf das Erreichte schaut, sondern davon erzählt, dass die Diskriminierung nie aufhöre. Eine Diskriminierung, die sie als Frau trifft und besonders als schwarze Frau. Eine Diskriminierung, die sie zum Objekt macht, nicht nur, wenn es um die dummen sexistischen Sprüche geht, die jede Frau zur Genüge kennt. …

Caroline Fourest: Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss Linker Identitärer. Eine Kritik

Noch nie ist es so einfach gewesen, den eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten nach zu leben und die eigenen Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen, wie in unserer modernen Welt. Noch nie so einfach also, eigene Vorstellungen vom Leben umzusetzen, die sich auch im Laufe der Zeit ändern dürfen, wenn wir offen bleiben für Veränderungen. Das gipfelt sogar in der – wenn auch fragwürdigen – Floskel davon, dass wir uns völlig neu erfinden können. Das ist die eine Seite der Identität, die Seite, die jeder selbst formen und gestalten können. Schwieriger ist es mit der Identität als politischem Begriff. Wenn Aspekte wie Herkunft, Geschlecht, Religion und Ethnie genutzt werden, um auf mehr oder weniger Möglichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe hinzuweisen, wenn sie genutzt werden, um über Chancengerechtigkeit, über Diskriminierungen und patriarchale Strukturen zu debattieren. Das ist gut und sinnvoll, weil nur durch einen Diskurs, durch Zuhören und Empathie, durch Hineinversetzen und gemeinsames Suchen nach Lösungswegen gesellschaftliche Entwicklungen angestoßen werden können. Wenn diese Begriffe aber so genutzt werden, dass eine Gesellschaft wiederum zerfällt in die einen, die …

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

Als die Angst sie so richtig gepackt hat, als sie schon längst nicht mehr schlafen kann in der Nacht und am Tag nur wenige Stunden, als die Angst sie vollkommen überwältigt, sodass sie Angst hat vor dem ständigen Grübeln, dem Einschlafen, vor allen möglichen Situationen, auch vor den Gesichtern der Menschen in der U-Bahn, da stürzt die Ich-Erzählerin völlig ab. Später erinnert sie sich, wie sie auf dem Tisch einer Bar stand, tanzend und trinkend, wie sie auf der Toilette Speed nahm, hat vage Erinnerungen an die Heimfahrt im Taxi mit einem unbekannten Mann, vage Erinnerungen an Sex in einem abgewrackten Gebäude. hingeschmiert „Ich weiß nicht, wie lange ich aus war, vielleicht 20 Stunden, aus den Augenwinkeln sehe ich nervös flackernde Schatten. Mein Herz rast seit Stunden, ich gucke Serien, esse Chips und Kakaopulver mit dem Löffel; nach draußen zu gehen, um an der Tankstelle etwas zu essen zu kaufen, ist keine Option, Essen bestellen auch nicht, niemand darf mich sehen.“ Sie liest im Internet Abschiedsbriefe von Menschen, die sich selbst getötet haben, probiert aus, …

Brit Bennett: Die verschwindende Hälfte

In Philip Roth´ Roman „Der menschliche Makel“ ist es Professor Coleman Silk, der sich, als Schwarzer mit sehr heller Haut auf dem Bewerbungsbogen der Navy als „weiß“ bezeichnet. Niemand stutzt, niemand stellt seine Zugehörigkeit in Frage. So lebt er das Leben eines weißen Professors an einer Universität, wird gar Dekan, hat eine große Familie. Nun, 71-jährig und bereits emeritiert, lässt er sein akademisches Leben mit einigen Lehrveranstaltungen langsam ausklingen. Und spricht dort, weil zwei Studentinnen häufig fehlen, von ihnen als „dunkle Gestalten“. Es sind die 2000er Jahre, in denen solche Bemerkungen schnell den öffentlichen Furor anheizen und zu unangenehmen Problemen führen können, zumal wenn die, über die gesprochen wird, tatsächlich People of Color sind. Ausgerechnet Coleman Silk strauchelt also über diese Bemerkung. Seine Kolleg*innen in der Fakultät lassen ihn fallen, seine Frau stirbt bei den Aufregungen. Trotz der offensichtlich ungerechten Verurteilung durch sein Umfeld offenbart Coleman Silk seine wahre Identität nicht. Wir Leser*innen ahnen, welche Hürde Silk einst genommen hat, wir ahnen, welche Kraftanstrengung es gewesen sein muss, in der weißen Gemeinschaft zu leben, ständig …