Jahr: 2020

Vom Lesen in Zeiten von Corona – ein Rückblick auf das Lesejahr 2020

Was für ein Jahr! In dem wir kennengelernt haben, was eine Pandemie ist und wie rasend schnell sie sich in einer globalisierten und mobilen Welt bis in die letzte Ecke ausbreitet. An dessen Ende wir nun, nach eigentlich unglaublich kurzer Zeit, aber auch die Hoffnung haben können, durch die verschiedenen Impfstoffe im nächsten Jahr wieder mehr normales Leben leben zu können. Es ist toll, was die Wissenschaft in der kurzen Zeit geleistet hat! Mein Lesen ist in diesem aufregenden Jahr ziemlich auf der Strecke geblieben. Mein literarisches Lesen jedenfalls. Denn gelesen habe ich mehr als genug: Ich kenne nun die Bedienungsanleitungen von mindestens vier Videokonferenzprogrammen, ich habe mich durch moodle- und logineo-Anleitungen gelesen, durch Padlet-, Oncoo- und Etherpad-Kurzfortbildungen geklickt, mein ganzes Unterrichtsmaterial neu organisiert, sodass es auf alle erdenklichen Lernplattformen hochgeladen werden kann, und Woche für Woche mehr als hundertdrölfundneunzig eingereichte digitale Hausaufgaben gelesen und zum Teil kommentiert. Für literarisches Lesen ist da wenig Muße – und vor allem Lust – geblieben. Fürs Bloggen über meine literarischen Lektüren noch viel weniger. So gibt es in …

Deniz Ohde: Streulicht

Die Erzählerin kommt zurück in den Ort ihrer Kindheit und Jugend, kommt zurück in den Vorort von Frankfurt, der durch die Chemie-Industrie geprägt ist. Wenn sie jetzt die Wege läuft, dann erinnert sie sich an ihre Abenteuer der Kindheit und Jugend, zusammen mit Sophia und Pikka und immer im Schatten der Chemiefabriken auf der anderen Seite des Flusses. Es ist ein unwirtlicher Ort, aus der Zeit gefallen fast. Denn als, zum Ende der 1980er Jahre, im Ruhrgebiet die Anstregungen des Umweltschutzes längst gegriffen hatten und die Luft schon wieder so gut war, dass weiße Wäsche draußen bedenkenlos getrocknet werden konnte, fällt hier Industrieschnee und es riecht immer sauer. Die namenlose Ich-Erzählerin, Tochter eines Industriearbeiters und einer Mutter, die der Enge des türkischen Dorfes entkommen wollte und dann in der Enge einer Kleinfamilie in einem Vorort festsitzt, kommt an den Ort ihrer Kindheit und Jugend zurück, weil Sophia und Pikka heiraten. Die drei, beste Freunde seit Kindertagen, haben sich voneinander entfernt, als die Erzählerin zum Studium weggezogen ist. Pikka und Sophia dagegen sind geblieben. Pikka hat …

Live-Literatur bei der Wuppertale Literatur Biennale

Hinweis: Das Programm wird nun online stattfinden. Links dazu findet ihr hier. Nach den vielen Monaten fast ohne Kino, Konzert, Theater und Lesung ist die Freude auf Kulturabende ganz besonders groß. Und so ist es ja fast nicht zu glauben, dass die ursprünglich für Mai geplante Literatur Biennale nun doch noch stattfinden soll, wenn auch mit gekürztem Programm an nur 4 statt 10 Tagen. Dass trotzdem auch schon zwei Veranstaltungen dieses Programms abgesagt wurden, macht deutlich, dass die steigende Zahl der Corona-Infizierten, die sich bildenden Hot-Spots hier und da, die Bedenken der Beteiligten stärken und ihr Reisen verhindern.   In dieser Woche haben das Kulturbüro der Stadt Wuppertal und der Koordinierungskreis als vorbereitende Teams der Literatur Biennale zu einer Pressekonferenz geladen und den diesjährigen Themenschwerpunkt und das Programm vorgestellt. Schon vor zweieinhalb Jahren sei das Thema festgezurrt worden, das in diesem Jahr und mit den Erlebnissen und Erfahrungen einer Pandemie ganz besonders aktuell sei: Tier, Mensch, Maschine – Berührungen. So gebe es auf der einen Seite einen Paradigmenwechsel beim Verhältnis zwischen Mensch und Tier, da …

Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite

Arthur Galleij ist auf seinem Weg in das Leben als Erwachsener ein einziges Mal falsch abgebogen. Und für sechsundzwanzig Monate im Gefängnis gelandet. Nun ist er entlassen und kann ein Jahr lang in der Wohngemeinschaft von „weitermachen e.V.“ leben, mit Therapiesitzungen bei Konstantin Vogl, genannt Börd, täglichen Gesprächsrunden mit den anderen Jungs auf ihrem Resozalisierungsweg und ständigen Bewerbungen um Praktika oder Ausbildungsstellen. Aber mit diesem Makel im Lebenslauf ist es gar nicht so einfach, in ein Leben zurückzukehren, das auf mehreren Märkten stattfindet: dem Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt, dem Partnermarkt. Mal davon abgesehen, dass Arthur sich ja auch ganz allgemein im Leben nicht so richtig zu Hause fühlt. Birgit Birnbacher erzählt in ihrem Roman den Weg Arthurs während dieses Resozialisierungsjahres nach seiner Entlassung. Dass am Gefängnistor nicht seine Eltern stehen, sondern die schwer kranke Grazetta, das erklärt schon einige seiner Probleme. Und die zeigen sich im Laufe dieses Jahres in vollem Ausmaß. Dann, wenn sich Arthur zurückerinnert an sein Leben in Hallein in der Eisenbahnersiedlung oder im Hospiz in Spanien. Und wenn er für seine Therapie …

Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe, hrsg. von Katharina Raabe und Frank Wegner

Menschen, die sich für Bücher interessieren oder gar etwas mit Büchern zu tun haben, braucht man wohl kaum zu fragen über ihre Gründe des Lesens. Da wundern sich dann eher die Zuhörerinnen ohne besondere Bindung ans Buch, was für eine Argumentationslawine Leserinnen lostreten, wenn sie zu ihrer Passion befragt werden. Und dabei haben doch die Nicht-Leser oft das Gefühl, die Leser entziehen sich mit dem Buch auf den Knien und der Lesebrille auf der Nase schlicht der Realität und den konkreten Aufgaben, die das Leben im allgemeinen und der Alltag im Besonderen an sie stellt. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die vierundzwanzig Autoren des Suhrkamp-Verlages, darum gebeten, Gründe ihres Lesens offen zu legen, wortgewaltig erklären können, was es mit ihrer Leidenschaft auf sich hat. Da kommen, wenn man genau zählt, viel mehr als vierundzwanzig Gründe zusammen. Denn so unterschiedlich die Autoren sind, die einen schreiben Geschichten, die anderen forschen über das Zusammenleben der Menschen oder über das Gehirn, der eine übersetzt, der andere macht Musik und schreibt Gedichte und der nächste zeichnet …

Enno Stahl: Sanierungsgebiete

Lynn ist ratlos. Bald ist ihr Architekturstudium zu Ende, es fehlen nur noch die Diplomarbeit und ein mehrmonatiges Praktikum. Aber sie weiß nicht, worüber sie schreiben soll, weiß auch nicht, wie sie an eine Praktikumsstelle kommen soll, nun, da es alle Studenten absolvieren müssen. Warum sie nicht über ihre Straße schreibe, fragt Frank, ihr Kommilitone. Da sei so viel saniert worden seit der Wende, das wäre doch bestimmt ein gutes Thema. Lynn wohnt in der Rykestraße und diese Straße am Prenzlauer Berg ist ausgewiesenes Sanierungsgebiet. Hier, so hat der Senat von Berlin festgelegt, sollen bauliche Maßnahmen an den zu DDR-Zeiten lange nicht modernisierten Gebäuden unterstützt werden. Und ebenso soll die Infrastruktur verbessert werden, durch Spielplätze und Grünflächen beispielsweise und verkehrsberuhigte Zonen. Lynn nimmt die Idee auf, entwirft ein Konzept und schlägt das Thema ihrem Professor vor. Der akzeptiert es, auch wenn Lynn hier mehr soziologische als bautechnische Forschungsfragen aufwirft. Denn ihr Interesse liegt ja vor allem bei der Frage, wie die Sanierungen auf die dort wohnenden Menschen wirken. Dabei steht Lynn, die Tochter einer Anwältin …

Niklas Maak: Technophoria

Die zumeist positiv geführte Diskussion um die fortschreitende Digitalisierung, gerade noch befeuert durch ihre Lösungsansätze während der Corona-Pandemie, erinnert auch an die Technikbegeisterung vergangener Perioden. Die Lösung fast all unserer Probleme scheint durch die Digitalisierung möglich; Smarte Cities beispielsweise sollen durch eine komplette Vernetzung nicht weniger als die Umwelt- und Klimaprobleme lösen und die Sicherheit der Bürger gewährleisten, das smarte Home das Leben für seine Bewohner bei optimaler Ressourcennutzung bequem gestalten und Gadgets zur Messung verschiedener Körperwerte dazu beitragen, fit und gesund zu bleiben. Niklas Maak lässt in seinem Roman nun nicht die Titanic untergehen, um in den Abgesang auf die Idee der omnipotenten Segnungen der digitalen Technik einzustimmen. Aber er zeigt uns doch die eine oder andere Tücke der Vernetzung auf – mit für einige seiner Figuren desaströsen Ausgängen. Doch diese Probleme bleiben auf der individuellen Ebene, während das technologische Großprojekt, dessen Entwicklung und Entstehung den roten Faden des Romans bildet, umgesetzt wird, wie die Leser schon zu Beginn des Romans erfahren. Mit Blick auf die vernetzte Stadt, um die es immer wieder geht, …

Jutta Reichelt: Wie ich Schriftstellerin wurde

„Mein Leben war nicht, wie es war.“ Aus diesem einen Satz, der plötzlich aufgetaucht und da war, dieser Aussage, die, so schreibt Jutta Reichelt, ja nicht einmal plausibel sei, entwickelt sich die Geschichte des Protagonisten Christoph. Denn Christophs Leben ist nicht so geordnet und perfekt, wie es scheint und wie er selbst meint, dass es sei. Er muss erst erkunden, was ihn da, so mitten im Leben, aus der Bahn wirft. Welche Geschichten aus der Vergangenheit ihm noch anhängen und gerade jetzt ans Licht drängen. Und so entwickelt sich aus diesem einen Satz die Geschichte des Romans „Wiederholte Verdächtigungen“. Als dieser Satz als Samenkorn für eine ganze Geschichte auftauchte, da war Jutta Reichelt längst eine Schriftstellerin. Dass der Weg dahin ein langer und steiniger war, davon erzählt sie in diesem schmalen Band. Das Schreiben als Profession ist lange nicht ihr Ziel gewesen. Als Kind habe sie keine Phantasie gehabt, auch keine vollgeschrieben Tagebücher als ersten Hinweis auf die spätere Schriftstellerei. Jura habe sie erst studiert, später Soziologie. Doch beides waren wohl nicht „ihre“ Themen, vielleicht …

Thorsten Nagelschmidt: Arbeit

Ein Roman mit dem schlichten Titel „Arbeit“ lässt Erinnerungen aufkommenan die Literatur der 1970er Jahre, Literatur über körperlich harte, schwere und schmutzige Arbeit in den Fabrikhallen, den Hütten und Kohlerevieren (des Ruhrgebiets), Literatur auch, in der über die Lebensumstände der Arbeiter erzählt wurde. Mit dieser Assoziation aber liegt man – auf den ersten Blick – gründlich daneben. Thorsten Nagelschmidts Roman spielt im heutigen Berlin, auf den quirligen Straßen Kreuzbergs. Er erzählt von denen, die dafür sorgen, dass das Leben und das Feiern auch nachts weitergehen: von Heinz-Georg Baderzky, dem Taxifahrer, von Anne, der Frau vom Späti, von Felix, dem Dealer, von Tanja und Tarek, den Rettungssanitätern. Von Sabrina, die in aller Herrgottsfrühe am Samstagmorgen aufsteht und mit ihrer Küpperweisser die Spuren der Nacht auf Straße und Gehweg beseitigt. Und von Ingrid. Sie hat einmal Soziologie studiert, ein Fach, mit dessen Abschluss sie, so erklärt sie ihren Berufsweg, Taxifahrerin werden konnte oder Antiquarin. Sie besaß keinen Führerschein, also wurde es das Antiquariat. Das hat sie mit Harald geführt, ihrem Mann. Es scheint, dass sie alle Bücher …

Maggie Nelson: Die roten Stellen

Im Herbst 2004 prüft Maggie Nelson die Druckfahnen zu ihrem Gedichtband „Jane: A Murder“. 5 Jahre hat sie daran gearbeitet, hat nach Zeitungsberichten über die Michigan-Morde an mehreren jungen Frauen gesucht, hat Polizeiberichte studiert, in Janes Tagebuch gelesen, Bilder betrachtet. Und ist zu den Orten gefahren, an denen ihre Tante Jane gewesen ist, bevor sie bei einer Autofahrt von ihrer Universität nach Hause im März 1969 ermordet worden ist. Auch zu dem Friedhof, auf dem sie am Morgen nach dem Mord aufgefunden worden ist: erschossen durch zwei Kugeln in den Kopf, tiefeingegraben in den Hals eine Perlonstrumpfhose, die Gegenstände, die sie auf ihrer Reise mit sich führte, ordentlich aufgeschichtet zwischen ihren Beinen. Der Mord wurde nie aufgeklärt, aber natürlich hat er sich tief eingebrannt in das Bewusstsein der Familie Mixer. Und ist auch prägend für die Nichte Maggie, die erst 3 Jahre nach Janes Tod geboren wurde. Maggie Nelson hat sich in ihrem Gedichtband Jane genähert, hat Gedichte über sie geschrieben, hat ihr selbst eine Stimme gegeben, indem sie – nicht ohne Schuld- und Schamgefühle …

Beim Lesen reisen (3) – Mathijs Deen: Über alte Wege

Vielversprechend kündigt Mathijs Deen im Titel seines Buches das Reisen quer durch Europa an, über „alte Wege“ und auch „durch die Geschichte“. Genau die richtige Lektüre also, wenn nicht nur in Europa gerade alles still steht, wenn Reisewarnungen für Fahrten ins Ausland ausgesprochen sind, wenn plötzlich Grenzen in Europa wieder sichtbar werden, die wir schon lange vergessen haben. Wenn sich sogar innerhalb Deutschlands auf einmal Grenzen zwischen den Bundesländern zeigen, sodass man sich ein bisschen erinnert an Gauß´ Reise über die vielen Grenzen nach Berlin – zumindest in der Version von Daniel Kehlmann. Durch Europa also, auf alten Wegen. Aber zunächst einmal auf die E 8 in den Niederlanden. Da nämlich, so entsinnt Mathijs Deen sich, fuhr die Familie, als er ein Kind war, am Wochenende immer wieder von Twente zu den Großeltern, zum Utrechter Hügelrücken. An einer Abzweigung sei auf der Straße ein Pfeil gewesen, E 8 habe daneben gestanden. Und der Vater habe erklärt: „Das ist die E 8, die führt von London nach Moskau.“ Später wurde eine Autobahn gebaut, die Landstraße wurde …

Beim Lesen reisen (2) – Nava Ebrahimi: Das Paradies meines Nachbarn

Der zweite Roman meiner kleinen Reiseserie spielt in München, in Teheran und in Dubai. Anders als Sarah Jägers Geschichte ist dies aber keine Road-Novel. Die Protagonisten reisen nicht auf der Landstraße, nicht einmal auf der Autobahn und können so auch keine Abenteuer rechts und links der Straßen bestehen. Nava Ebrahimis Figuren nehmen – so wie es sich für Menschen des 21. Jahrhunderts gehört – das Flugzeug, wenn sie eine größere Reise antreten. Und so spielen Landschaften und Sehenswürdigkeiten, nicht einmal in Dubai, eine Rolle. Dass sie aber am Ende der Reise in Dubai alle in den Bars, auf den Zimmern und in den Salons der Hotels doch etwas ganz Neues erleben und mehr über sich erfahren und gelernt haben, verbindet das Setting dieses Romans mit der Road Novel. Sina Khosbin ist Produktdesigner in einer Münchner Agentur, die schon längst nicht mehr selbstständig arbeitet, sondern von einem Küchengerätehersteller aufgekauft wurde. Sina ist Ende 30, verheiratet mit Katharina, einer Resilienzforscherin, und hat eine Tochter. Seine Entwürfe von Toastern, Smoothie-Makern und Thermoskannen haben keinen Esprit mehr, die hochtrabend …

Beim Lesen reisen (1) – Sarah Jäger: Nach vorn, nach Süden

Der Blick auf die Bücher, die ich im März gelesen habe und das Buch, das ich gerade angefangen habe zu lesen, zeigt, dass sich so ganz zufällig eine schöne kleine thematische Reihe ergeben hat. Eine Romanreihe, die vom Reisen erzählt und so die Stoffe für die Erlebnisse liefert, die wir gerade in unserer Quarantäne nicht selber erfahren können, sondern nur durch das Miterleben beim Lesen. Heute geht es erst einmal los mit einem Jugendbuch. Das ist nicht unbedingt das Genre, das oft auf diesem Blog häufig vorkommt. Dafür ist aber die Autorin in der Blogwelt zumindest den meisten schon bekannt, nämlich als eine der Betreiberinnen der Seite http://www.dasdebuet.com, die in diesem Jahr schon zum fünften Mal „Das Debüt 2020 – Bloggerpreis für Literatur“ ausrichten. Und wie schön, dass sie auch selbst für ihren Erstling Monat für Monat öffentliches Lob einsammelt. So zum Beispiel den von DIE ZEIT und Radio Bremen vergebvergeben von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Nach vorne zu gehen, ist nicht jedermanns Sache. Schon gar nicht die der Ich-Erzählerin. Wenn sie …

Petra Grimm, Tobias O. Keber, Oliver Zöllner (Hg.): Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten

Neben Sarah Spiekermann bieten auch die Autoren dieses Bandes einen Einblick in die Facetten der digitalen Ethik. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis macht deutlich: Hier werden ganz konkrete Probleme verhandelt, die sich aus dem Einzug des Digitalen in mehr und mehr Lebensbereiche ergeben: Privatheit und Datenschutz, das selbstoptimierte Ich, Cyber-Mobbing, Arbeit 4.0 und die Frage der Haltung in der digitalisierten Welt, um nur einige zu nennen. Die Autorinnen und Autoren sind oder waren alle Mitarbeiter am Institut für digitale Ethik an der Hochschule für Medien in Stuttgart. Dieses Buch, so schreiben sie einleitend, sei entstanden aus ihren Vorträgen und der Bitte der Zuhörer, die doch zum Nachlesen aufzuarbeiten. Bevor sich die Autorinnen und Autoren den uns alle betreffenden Problemen zuwenden, entwickeln sie einen kurzen theoretischen Unterbau ihrer weiteren Erörterungen. So machen sie zum einen deutlich, dass ethische Fragen nur klären kann, wer über grundlegende Informationen der jeweiligen Sachverhalte und mögliche Konflikte, die aus ihnen erwachsen, verfügt. Auf dieser Grundlage erst können wir immer wieder neu über Normen und Werte verhandeln, können nur so Werte immer wieder …

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus

Die Reportage ist eine ganz besondere journalistische Textsorte. Damit die Leser bedeutsame Situationen miterleben und nachempfinden, damit sie das Gefühl haben, bei den Ereignissen mit vor Ort zu sein, dort zu sehen und hören, was passiert, wird der Reporter zu einem übermittelnden Medium. Er schreibt auf, was er am Schauplatz der wissenswerten und aufregenden, vielleicht auch erstaunlichen Vorgänge erlebt hat, er notiert, mit wem er gesprochen und was er beobachtet hat, er erzählt die Geschichte einer Betroffenen. Er übermittelt also die Situation so lebensnah wie möglich, mit dem Ziel, beim Leser ein „Kopfkino“ zum Laufen zu bringen. Damit diese eine Situation, die hier für ein vertieftes Verständnis beim Leser sorgen soll, aber auch umfassend verstanden werden kann, bedarf es einer Einordnung der erzählten Szenen in einen faktenorientierten Hintergrund. Hier kommt also die journalistische Recherche zum Zug, hier werden Daten vermittelt, hier wird reflektiert und analysiert. Und es geht natürlich auch immer um die Frage nach der Wahrheit, der Überprüfbarkeit und der Echtheit – sowohl der erzählten Situation als auch der dazugehörenden Informationen. Da löste der …

Ulrike Draesner: Kanalschwimmer

Die Fakten sind denkbar klar: Die Luftlinie zwischen Dover und Calais beträgt ca. 32 km, doch wer den Kanal schwimmend durchquert, legt wegen der starken Strömung und der Gezeiten oft eine längere Strecke zurück. Dabei gilt: Je schwächer der Schwimmer ist, desto mehr wird er abgetrieben und desto länger wird die Strecke. Und das bei Wassertemperaturen selbst im Hochsommer von ca 17 Grad. Dabei wird ein Swim nur gewertet, wenn man ihn so bewältigt, wie es der Pionier dieses Langstreckenschwimmens, Captain Matthew Webb, 1875 vorgemacht hat, nämlich mit Badehose oder Badeanzug, Schwimmbrille und Schwimmhaube, alle anderen Hilfsmittel sind tabu. Ein Mitglied eines der Verbände, der die Überquerung festhält und protokolliert – und der Versicherung gegenüber im Fall der Fälle erklärt, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist – sitzt im Beiboot. Das wird gesteuert von einem „Piloten“, dieser hier heißt Brendan, der dafür sorgt, dass der Schwimmer regelmäßig isst und trinkt, der darauf achtet, nicht in die Fahrrinne der Schiffe zu gelangen und der seinen Schützling im Falle einer totalen Erschöpfung frühzeitig aus dem Wasser …

Isabel Bogdan: Laufen

Wer durch den Band „Die Philosophie des Laufens“ blättert, der wird dort zwischen Überlegungen zum Laufen mit Sokrates, Aristoteles, Platon und Kant, den Reflexionen über die Veränderungen von Physis und Psyche auf dem Weg zum Läufer und den kritischen Betrachtungen zum Laufen als Instrument der Selbstoptimierung auch einen Beitrag von Isabel Bogdan finden. Darin erzählt sie über ihre sehr leichtfertige Anmeldung zum Alster-Lauf, genau einen Monat, bevor der Lauf startet. Ein Monat bleibt also nur für das Training, denn sie läuft zwar, hat aber noch nie 10 Kilometer hinter sich gebracht. Den Roman „Laufen“ schreibt also eine Autorin, die sich auskennt mit dem Laufen, mit der Überwindung des inneren Schweinehundes, der immer wichtige Argumente ins Feld führt, um sich nicht auf den Weg machen zu müssen. Die um die Anstrengungen weiß und die Verlockungen des Aufgebens, die aber auch den Stolz und die Zufriedenheit kennt, wenn sie den Laufparcours bewältigt hat. Und die sich auskennt mit dem, was sich da beim gleichmäßigen Trab über die Straßen, durch die Parks und an der Alster entlang alles …

Sarah Spiekermann: Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Seite http://www.bingereader.org in der Rubrik „Women in Science„. Dort sind viele weitere interessante Artikel über Frauen und ihre Forschungen zusammengetragen. Also: Unbedingt vorbeischeuen! In ihren Seminaren zum Thema Innovationsmanagement an der Wirtschaftsuniversität Wien stellt Sarah Spiekermann ihre Studierenden vor die Aufgabe, eine Produkt-Roadmap für den fiktiven Lieferdienst FoodIS, dessen Geschäftsmodell an denen von Foodora und Deliveroo angelehnt ist, zu erstellen. Hier setzen die Studierenden um, was sie gelernt haben, wenn sie die technischen Raffinessen eines selbstlernenden, eines intelligenten Systems mit Blick auf die verschiedenen Nutzer – die Kunden, die Restaurants und Fahrradkuriere, den Betreiber der App – erarbeiten und darlegen. Sie denken daran, dass die Handy-App den Kurieren immer den schnellsten Weg weist, über ihre Ortung aber auch erkannt werden kann, wie lange sie Pausen machen. Sie wollen eine App entwickeln, die Aufträge mit einer nach einem Menschen klingenden Stimme weitergibt und sie so bearbeitet und bündelt, dass eine hohe Effizienz entsteht. Und weil sie im Seminar von Sarah Spiekermann sitzen, denken die Studenten auch daran, Werte wie Datensicherheit …