Lesen, Romane

Beim Lesen reisen (3) – Mathijs Deen: Über alte Wege

Vielversprechend kündigt Mathijs Deen im Titel seines Buches das Reisen quer durch Europa an, über „alte Wege“ und auch „durch die Geschichte“. Genau die richtige Lektüre also, wenn nicht nur in Europa gerade alles still steht, wenn Reisewarnungen für Fahrten ins Ausland ausgesprochen sind, wenn plötzlich Grenzen in Europa wieder sichtbar werden, die wir schon lange vergessen haben. Wenn sich sogar innerhalb Deutschlands auf einmal Grenzen zwischen den Bundesländern zeigen, sodass man sich ein bisschen erinnert an Gauß´ Reise über die vielen Grenzen nach Berlin – zumindest in der Version von Daniel Kehlmann.

Durch Europa also, auf alten Wegen. Aber zunächst einmal auf die E 8 in den Niederlanden. Da nämlich, so entsinnt Mathijs Deen sich, fuhr die Familie, als er ein Kind war, am Wochenende immer wieder von Twente zu den Großeltern, zum Utrechter Hügelrücken. An einer Abzweigung sei auf der Straße ein Pfeil gewesen, E 8 habe daneben gestanden. Und der Vater habe erklärt: „Das ist die E 8, die führt von London nach Moskau.“ Später wurde eine Autobahn gebaut, die Landstraße wurde zur Nebenstraße, Pfeil und Bezeichnung verschwanden.

Es war ein ambitioniertes Projekt, das die Alliierten schon während des Krieges entwickelten und das zwischen 1947 und 1950 bei den Sitzungen der Wirtschaftskommission der Vereinten Nationen in Genf bearbeitet wurde. Gegenseitige Erreichbarkeit, so das Ziel, sei eine gute Chance, die Zukunft Europas friedlicher zu gestalten – sicherlich auch wirtschaftsfreundlich. 1950 war der Plan eines Straßennetzes, der die ehemaligen Feinde in Europa verbinden sollte, fertig. Und bis 1975 haben 26 europäische Nationen ihn unterzeichnet. Da war der ursprüngliche Plan von der Realität eines schnell wachsenden Straßen- und Autobahnsystems von Irland im Westen bis in die Türkei im Osten und zur Grenze von Syrien längst überholt.

Das alte System, das sich zum Teil noch an historische Routen durch Europa anlehnte, wenn zum Beispiel die E 1 von London durch Paris nach Rom führte, musste überarbeitet werden. Und es kamen dabei Strecken heraus, die eben nicht mehr an historische Wurzeln anknüpfte. So beginnt die neue E 1 im nordirischen Larne und endet in Sevilla, zum großen Teil führt sie über den Atlantik.

Auch wenn es bei der UN immer noch eine Abteilung gibt, die sich mit dem Projekt auseinandersetzt, so richtig hat sich die Idee der transnationalen Trassen nicht durchgesetzt. Und Mathijs Deen denkt darüber nach, warum es in Europa nicht gibt, was in Amerika zum Reisetraum vieler – auch europäischer – Touristen und Suchenden nach dem eigenen Ich völlig selbstverständlich gehört: einmal die USA auf der Route 66 zu durchqueren oder gleich den Doppelkontinent auf der Transamericana von Nord nach Süd zu bereisen. Solche Traum-Fernwege gibt es in Europa nicht.

Ob es, überlegt Deen, daran liegt, dass sich in Europa die Menschen seit jeher kriegerisch begegnet sind. So wie die Römer, die Straßen durch Europa bauten, um darauf ihre Armeen marschieren zu lassen. Deen macht sich „auf den Weg“ in die Geschichte Europas und nimmt die Leser mit auf unterschiedliche Reisen quer durch Europa in unterschiedlichen Zeiten. Und tatsächlich: Gewalt, auch in der abscheulichsten Form spielt immer wieder eine Rolle. Aber auch Pilgerreisen und Autorennen. Und immer wieder kommt es zu kulturellem Austausch, gelangen kunsthandwerkliche Schätze an das andere Ende Europas oder mit den religiös Verfolgten Theaterstücke von der iberischen Halbinsel nach Amsterdam und weiter an den schwedischen Königshof.

Deen besucht die Archäologen in London, die an der Küste Großbritanniens, ungefähr 100 Kilometer nördlich der heutigen Themsemündung, die ältesten Anzeichen von Menschen in Europa gefunden haben. Wie frische, gerade erst entstendene Spuren im Sand sehen sie aus, die Fußabdrücke, die drei Erwachsene und zwei Kinder an der Küste hinterlassen haben – vor 800.000 Jahren. Dies müssen dünn behaarte Menschenaffen gewesen sein, die in einer ersten Welle vor 2 Millionen Jahren aus Afrika nach Norden gewandert sind. Die voran kamen, weil sie rennend Wild verfolgten und dabei ihre Siedlungsgebiete die Mittelmeerküste entlang ausdehnten.

Im Laufe dieser Wanderung über viele Generationen entwickelte sich ihr Hirn weiter. Als Folge mussten nun die Kinder länger umsorgt und ernährt werden, bis sie erwachsen waren. Die Kinder wurden also zu einem wertvollen Gut jeden Familienclans. Bei Streitigkeiten schadete man dem Feind besonders, wenn man seine Kinder erschlug. „Sie wurden fachgerecht geschlachtet“, erklärt Maria, die die 430.000 Jahre alten Knochenfunde in Atapuerca, in Spanien, untersucht. Ebenso fachmännisch, wie sonst ihre Tiere. Da also sind die. die ersten Spuren von Gewalt.

Deen erzählt auch über einen sehr ungewöhnlichen silbernen Kessel, der 1891 beim Torfstechen im Norden Dänemarks gefunden wurde. Es ist ein keltischer Kessel, der offenkundig aus der Grenzregion Rumäniens und Bulgariens, aus Thrakien, stammt. Wir haben sofort den Kessel des Miraculix vor Augen, in dem er seinen Zaubertrank zusammenbraut. Tatsächlich, so erzählt der Leiter des Museums, habe Uderzo, der Zeichner des Asterix, das Museum besucht und diesen Kessel angeschaut.

Und wahrscheinlich ist der Kessel auch schon 100 Jahre vor unserer Zeitrechnung dazu genutzt worden, Kriegern, die in die Schlacht zogen, den Kessel zu zeigen und sie daraus trinken zu lassen. Und Deen klärt nun die möglichen Wege, die dieser Kessel genommen hat. Wie er zu den Kimbern gekommen sein könnte, nachdem sie nach einer Springflut und einer nachfolgenden Hungersnot ihr Siedlungsgebiet in Dänemark verlassen haben. Und die den Flüssen folgend plündernd nach Süden gezogen sind. Erst die Elbe entlang, später an der Donau weiter. Die dann in Thrakien in den Besitz des Silberkessels gelangten und ihn mitnahmen über die Alpen nach Westen und in die Schlachten gegen die Römer, die letztendlich in der Po-Ebene über diese blonden Barbaren siegten. Aber einige Kimbern werden den Rückweg nach Dänemark geschafft haben und den Kessel mit nach Norden genommen haben.

Aus ganz anderem Grund fand die Reise Gudrids zur ersten Jahrtausendwende nach Rom statt. Sie, eine christianisierte Wikingerin, die auch schon nach Amerika gereist war, wollte nach Rom pilgern, um den Papst zu befragen, ob sie im Himmel ihre – heidnischen – Angehörigen wiedersehen würde. So erzählt es Mathijs Deen und schmückt die Grönland-Saga um Gudrid aus. Er zeichnet ihren Weg nach über den Rhein und dann im Frühjahr über die Alpen nach Ittalien. Viel mehr als von der Reise erzählt er aber von ihren Gefühlen des Fremdseins in der Pilgergruppe, von ihren Gedanken und Sorgen um ihre Ahnen. Erzählt also von möglichen inneren Monologen. Die Mönche auf dem Weg, sogar der Papst, der aus höchst egoistischen Gründen mit ihr spricht, machen ihr jedenfalls keine Hoffnung auf ein Wiedersehen mit ihren Toten.

Deen erzählt von Reisen durch Europa, weil Menschen fliehen mussten, aus wirtschaftlicher Not, aus religiösen Gründen,. Er erzählt vom kulturellem Austausch, oft von Plünderungen, wenn Armmen von Norden nach Süden, die napoleonische Armee von Westen nach Osten zieht.Er erzählt von einem ersten mafiösen Straßenräuber auf der Via Appia, von einem Rennfahrer zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Und er wendet seinen Blick mehr und mehr von den historisch belegten Fakten, die er auch in den Gesprächen mit Forschern und Musuemsleitern gewinnt, mehr und mehr seinen Figuren zu, die jeweils eine Geschichte durch Europa tragen. Dann erzählt er aus ihren Perspektive, als personaler Erzähler, von ihren gedanken, ihren Sorgen und Nöten.

Gerade diese Erzählungen, gerade diese Übernahme der Perspektive seiner Protagonisten sind aber die Schwachstelle des Buches. Statt vom Reisen zu erzählen, statt die Bedingungen und Erschwernisse deutlich zu machen, die Landschaften zu schildern, von Herbergen längs der Handelswege zu berichten, vom Reisen zu Fuß oder mit der Postkutsche, versucht Deen uns persönliche Schicksale und charakterliche Entwicklungen nahe zu bringen. Von einer der größten Motivationen des Reisens, dem Handel nämlich, berichtet er gar nicht.

Das Staunen, das er mit der Geschichte über die Besiedelung Europas und über die ältesten Spuren am Strand von England hervorruft, das Wundern darüber, dass ein thrakischer Silberkessel mit keltischen Motiven in Dänemark geunden wurde, das alles erreichen die anderen Geschichten seines Buches nicht mehr.

Mathijs Deen (2019): Über alte Wege. Eine Reise durch die Geschichte Europas, Köln, DuMont Verlag

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6 Kommentare

  1. Hallo Claudia,
    danke für diese Vorstellung. Das Buch war gedanklich schon vorgemerkt, aber deine bedauernden und sehr nachvollziehbaren Kritikpunkte lassen mich doch wieder Abstand davon nehmen. Eine gute Woche und liebe Grüße
    Anna

    • Liebe Anna,
      bitte lass dich nicht von meinen Leseeindrücken beeinflussen. Vielleicht siehst du das Buch ja ganz anders. Und du findest vielleicht sogar über die Perspektiven der Figuren gut in ihre Zeit.
      Die Idee des Buches ist ja so toll, zum Teil ist der Autor die Strecken auch nachgereist, um sich einen eigenen Eindruck zu verschaffen. Vielleicht hätte ich einfach auch gerne andere Geschichten gelesen, eben über die Händler, die ja sicherlich auch einen großen Anteil an der Entwicklung eines Wege- und Straßensystems hatten. Oder über Menschen, die neugierig waren und losgezogen sind. Vielleicht über Minnesänger, die von Hof zu Hof reisten und so Nachrichten verbreitet haben. Natürlich aber musste Mathijs Deen auch Schwerpunkte setzen und konnte sich nicht allen Reiseanlässen im Laufe der Jahrhunderte zuwenden.
      Viele Grüße, Claudia

      • Nee nee, liebe Claudia,
        da ich Corona und dessen Begleiterscheinungen als Vorwand genutzt habe, mir wieder alle möglichen und unmöglichen Bücher zu kaufen, muss dieses jetzt leider draußen bleiben 😉
        LG Anna

  2. Liebe Claudia,
    Reisen durch Europa aus der Perspektive einzelner Personen? Das klingt für mich gar nicht nach Schwachstelle, sondern macht das Buch nur umso interessanter. Danke für den Tipp!
    Herzliche Grüße
    Niamh

    • Gerne! Wenn ich dich trotz meiner Mäkelei neugierig gemacht habe, dann finde ich das großartig. Und hoffe, demnächst bei dir über die „alten Wege“ zu lesen :-).
      Viele Grüße, Claudia

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