Alle Beiträge, die unter Debüt gespeichert wurden

Ursula Knoll: Lektionen in dunkler Materie

Der Astronaut Edward White ist voll und ganz mit seinem ersten Weltraumspaziergang beschäftigt. Er bemerkt nicht, dass sich ein ungesicherter Ersatzhandschuh langsam aus der Kiste löst und in den Weltraum auf und davon macht. Der Handschuh findet sich auf einer Umlaufbahn um die Erde ein, nimmt Geschwindigkeit auf und rast fortan mit 28.000 Stundenkilometern durch den Weltraum. Würde er auf ein Hindernis treffen, dann wäre aus dem ziemlich harmlosen Weltraumhandschuh ein fulminantes Geschoss geworden: „Der getroffene Körper wäre zerrissen, der Satellit, die Raumstation oder der Versorgungstransporter zu unkontrollierbar schwebenden Einzelteilchen zersiebt, ein paar Menschenleben ausgelöscht, ein paar weitere beschädigt, GPS-Systeme und Datenübertragung auf die Erde lahmgelegt, Illusionen verletzt, Eitelkeiten vernichtet.“ Mit ihrem Prolog legt Ursula Knoll Ton und Tempo ihres Episodenromans fest: Zwischen Himmel und Erde passieren schon mal Dinge, die so eigentlich nicht passieren sollten. Zufälle und Unfälle, die bei all unseren Maßnahmen zur Risikovermeidung dann doch ab und zu mal für großes Chaos sorgen. Und das trotz der dunklen Materie, die, mit der großen Schwerkraft, die sie ausübt, „wie ein Kitt die Strukturen …

Natasha Brown: Zusammenkunft

Natasha Browns Ich-Erzählerin könnte die Kollegin von Carole sein, einer der Figuren aus Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ sein: eine junge schwarze Frau, die sich durch Bildung und gute Leistungen eine Karriere im Finanzsektor erarbeitet hat, ein Einkommen bezieht, das eine schöne Wohnung in einem der georgianischen Townhouses in London ermöglicht, die eine soziale Stellung erreicht hat, die ihr einen Freund beschert aus einer der ganz alten englischen Familien, einer mit Standesbewusstsein, Großgrundbesitz und so viel Geld, dass die Familienmitglieder von den Zinsen leben können. Die biographischen Daten vom Aufstieg, von dem zwar anstrengenden, aber doch gelingenden Weg in die begüterte Mittelschicht, lassen eine Heldinnengeschichte vermuten. Aber die ersten Sätze, die ersten Vignetten, ätzende Momentaufnahmen einzelner Situationen, machen mehr als deutlich, dass hier eine Erzählerin nicht stolz auf das Erreichte schaut, sondern davon erzählt, dass die Diskriminierung nie aufhöre. Eine Diskriminierung, die sie als Frau trifft und besonders als schwarze Frau. Eine Diskriminierung, die sie zum Objekt macht, nicht nur, wenn es um die dummen sexistischen Sprüche geht, die jede Frau zur Genüge kennt. …

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

Als die Angst sie so richtig gepackt hat, als sie schon längst nicht mehr schlafen kann in der Nacht und am Tag nur wenige Stunden, als die Angst sie vollkommen überwältigt, sodass sie Angst hat vor dem ständigen Grübeln, dem Einschlafen, vor allen möglichen Situationen, auch vor den Gesichtern der Menschen in der U-Bahn, da stürzt die Ich-Erzählerin völlig ab. Später erinnert sie sich, wie sie auf dem Tisch einer Bar stand, tanzend und trinkend, wie sie auf der Toilette Speed nahm, hat vage Erinnerungen an die Heimfahrt im Taxi mit einem unbekannten Mann, vage Erinnerungen an Sex in einem abgewrackten Gebäude. hingeschmiert „Ich weiß nicht, wie lange ich aus war, vielleicht 20 Stunden, aus den Augenwinkeln sehe ich nervös flackernde Schatten. Mein Herz rast seit Stunden, ich gucke Serien, esse Chips und Kakaopulver mit dem Löffel; nach draußen zu gehen, um an der Tankstelle etwas zu essen zu kaufen, ist keine Option, Essen bestellen auch nicht, niemand darf mich sehen.“ Sie liest im Internet Abschiedsbriefe von Menschen, die sich selbst getötet haben, probiert aus, …

Beim Lesen reisen (1) – Sarah Jäger: Nach vorn, nach Süden

Der Blick auf die Bücher, die ich im März gelesen habe und das Buch, das ich gerade angefangen habe zu lesen, zeigt, dass sich so ganz zufällig eine schöne kleine thematische Reihe ergeben hat. Eine Romanreihe, die vom Reisen erzählt und so die Stoffe für die Erlebnisse liefert, die wir gerade in unserer Quarantäne nicht selber erfahren können, sondern nur durch das Miterleben beim Lesen. Heute geht es erst einmal los mit einem Jugendbuch. Das ist nicht unbedingt das Genre, das oft auf diesem Blog häufig vorkommt. Dafür ist aber die Autorin in der Blogwelt zumindest den meisten schon bekannt, nämlich als eine der Betreiberinnen der Seite http://www.dasdebuet.com, die in diesem Jahr schon zum fünften Mal „Das Debüt 2020 – Bloggerpreis für Literatur“ ausrichten. Und wie schön, dass sie auch selbst für ihren Erstling Monat für Monat öffentliches Lob einsammelt. So zum Beispiel den von DIE ZEIT und Radio Bremen vergebvergeben von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Nach vorne zu gehen, ist nicht jedermanns Sache. Schon gar nicht die der Ich-Erzählerin. Wenn sie …

Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen

Seit dem 19. Jahrhundert sind Menschen aus aller Herren Länder ins Ruhrgebiet gekommen. Sie sind den schlechten Lebensbedingungen in ihrer Heimat entflohen und haben hier Arbeit gefunden, „unter Tage“ beim Kohleabbau oder in den Stahlwerken beim „Stahl kochen“. Sie haben schwere und oft auch gefährliche Arbeit geleistet, haben ihre Gesundheit ruiniert bei Arbeitsunfällen und durch das schleichende Gift des Kohlenstaubs. Sie haben sich oft ihr Leben lang nicht heimisch gefühlt in der neuen Heimat in Bottrop oder Dinslaken, in Gelsenkirchen oder Dortmund und in den kleinen, ärmlichen Bergbauwohnungen direkt neben dem Pütt. Aber sie haben zumindest mit ihren Familien gelebt, sind an einem Ort geblieben und haben Freundschaften geschlossen. Und manch einer hat neue Hobbys gefunden, den Fußball oder die Taubenzucht. Heute sind die Zechen nördlich der Ruhr längst geschlossen. Der Hunger der Welt nach Energie wird in den Ölfeldern gestillt, die Arbeit ist dorthin gewandert, mit ihr die Arbeiter. Wie damals unter Tage arbeiten nun Männer verschiedenster Nationalitäten auf den Ölplattformen, aber sie gehen nach der Arbeit nicht zu ihrer Familie nach Hause, sondern …

Katharina Winkler: Blauschmuck

Günter Grass sah die große Leistung der Literatur darin, dass sie nicht wegschaue, nicht vergesse, sondern das Schweigen breche. Genau das ist auch die große Leistung Katharina Winklers und ihres Debütromans „Blauschmuck“, dem sie die Anmerkung „Nach einer wahren Begebenheit“ voranstellt. Hier erzählt Winkler die Geschichte von Filiz, die in einem kurdischen Dorf aufwächst, heiratet, später mit ihren Kindern nach Österreich ausreist. Und sie erzählt vor allem von dem Ehe-Martyrium Filiz´, das erst nach Jahren endet, weil die Nachbarn in der neuen Heimat dafür sorgen, dass sie in ein Krankenhaus kommt und dann in einem Frauenhaus leben kann, als Yunus, der Ehemann, sie nicht nur, wie sonst üblich, geschlagen und vergewaltigt, sondern regelrecht zusammengeknüppelt hat. Katharina Winkler findet eine ganz besondere Sprache und eine besondere Erzählhaltung für die Geschichte von Filiz, die die Leser gar nicht ertragen könnten, wäre sie nicht genau so erzählt, wie sie erzählt wird. Winkler lässt Filiz erzählen, als Ich-Erzählerin, die es geschafft hat, sich von sich selbst zu distanzieren, die ihre Umgebung nur beobachtet, die eigenen Handlungen beschreibt und das, …

Kamel Daoud: Der Fall Meursault – eine Gegendarstellung

Es gibt Stoffe in der Literatur, die durch die Zeiten immer wieder neu erzählt werden. Sie haben einen narrativen Kern, der quasi zeitlos ist, sie haben narrative Ränder, die immer in andere Zeiten und Räume transformiert werden können. Camus´ Roman „Der Fremde“ scheint solch ein Stoff zu sein. Die Urgeschichte lebt fort, findet seit siebzig Jahren begeisterte Leser, die Figuren und ihre Ideen finden Eingang in andere literarische Werke, werden zu Zitaten, zu Referenzen. Der Stoff selbst, die Handlung, die Motive, die Art des Erzählens inspiriert auch immer wieder Schriftsteller. So bleibt der sinnlose Tod des namenlosen Arabers natürlich nicht ohne Antwort in Algerien. Und nun hat auch Kamel Daoud, ein algerischer Journalist, sich mit dem Stoff in seinem Debütroman auseinandergesetzt. Nichts weniger als eine Gegendarstellung ist dabei herausgekommen, eine Sicht der Dinge aus der Perspektive des jüngeren Bruders des Ermordeten, der nun, als alter Mann, endlich erzählen möchte, wie die Tat für ihn war. Jeden Abend sitzt Haroun in der Bar und trinkt seinen Wein. Er wartet seit Jahren schon auf den Zuhörer, der …

Mercedes Lauenstein: nachts

Wer nachts durch die dunklen Straßen geht, der stellt sich wohl schon die Frage, was die Menschen tun in den Wohnungen, in denen die Lampen leuchten. Und fragt vielleicht weiter, was das für Menschen sind, wie alt sie sind, wie sie wohnen, warum sie wach sind. Das erleuchtete Fenster jedenfalls, das einen knappen Blick gewährt in ein anderes Leben, regt die Fantasie an und macht neugierig. Mercedes Lauensteins schickt ihre namenlose Ich-Erzählerin los, um die Geheimnisse hinter den nachts erleuchteten Fenstern zu erkunden. Die Erzählerin, selbst schlaflos, wandert durch die Straßen der Stadt, sucht nach Mitternacht nach Lichtern in den Zimmern und hofft, dass, je später es wird, wenigstens eines der Fenster in jeder Straße erleuchtet bleibt – dass also wenigstens einer außer ihr selbst noch wach ist. Und eines Nachts, es regnet stark, da fasst sie den Entschluss, bei einer solchen Wohnung zu klingeln. Während sie die Treppen hinaufsteigt, überlegt sie sich eine Erklärung für ihren nächtlichen Besuch, erfindet sich eine Art Forschungsprojekt, durch das sie – so erklärt sie – erkunden möchte, welche …

Johannes Anyuru: Ein Sturm wehte vom Paradiese her

Johannes Anyuru erzählt in seinem in Schweden mehrfach ausgezeichneten Roman eine Geschichte über Flucht und Entwurzelung. Er erzählt von einem Mann, der in die Mühlsteine der afrikanischen Politik und Kriege gerät, der seinen Traum, Pilot zu werden, nicht verwirklichen kann, statt dessen jahrelang auf der Flucht ist. Der, als er schließlich in Schweden ankommt, auch dort keine Heimat findet. Anyurus bedrückende Geschichte des Mannes aus Uganda, der nach dem Putsch Idi Amins nicht mehr in seine Heimat zurückkehren kann, weil er einer anderen, der falschen, Volksgruppe angehört, lässt sich lesen als Beispiel der Lebensnöte, die die Menschen – auch jetzt – zur Flucht zwingen, weil sie im eigenen Land eben keine Heimat haben, weil sie drangsaliert und verfolgt werden. Anyuru erzählt in seinem Roman aber auch die Geschichte des eigenen Vaters, eines ugandischen Kampfpiloten, der sich am Ende einer Odyssee durch die Verhörzimmer und Flüchtlingslager Tansanias, den erzwungenen Aufenthalt im Guerilla-Lager eines ugandischen Oppositionellen und der Flucht nach Kenia durch die Heirat mit einer Schwedin nach Europa retten kann, hier aber immer fremd bleibt. „P“ …

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen

Shumona Sina hat ihren Roman in Frankreich schon 2011 veröffentlicht. Sie stammt aus Indien, hat dort bereits Gedichtbände auf bengalisch veröffentlicht und lebt seit 2001 in Frankreich. Dort hat sie auch den Job gehabt, den sie nun ihrer Protagonistin auf den Leib schreibt: Sie ist Dolmetscherin bei der Einwanderungsbehörde, kennt das Innere eines Amtes, weiß um das Prozedere bei den Anhörungen von Asylbewerbern und bei den medizinischen Untersuchungen, sie hat den manchmal zermürbenden Arbeitsalltag zwischen Verwaltungsvorschrift, Formularwesen und Lüge selbst erlebt. Als ihr Roman „Erschlagt die Armen“ veröffentlich war, hat sie die Kündigung bekommen, ihr Text sei den Behörden vor der Veröffentlichung nicht zu Genehmigung vorgelegt worden, hieß es. Sie scheint also mit ihrem schmalen Roman, der den Titel eines Gedichts Charles Baudelaires trägt, der Administration und weiteren staatlichen Stellen ordentlich auf die Füße getreten zu haben. Und tatsächlich: Schon alleine der Erzählton der namenlosen Ich-Erzählerin ist von einer ganz anderen Energie, einer Wut geradezu, die beispielsweise in Jenny Erpenbecks Roman „Gehen, ging, gegangen“ ganz und gar nicht zu finden ist. Schon im ersten Satz …