Alle unter Angst verschlagworteten Beiträge

Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen

Zum Ende der Probe reißt eine Saite über dem Steg von Emilias Geige. Ihr Bruder, der Pianist, möchte eine Passage noch einmal proben, ihm ist ihr Tempo zu schleppend. Aber die Reservesaiten im Geigenkasten musste Emilia am Flughafen in Zürich abgeben. Sie könne die Drähte ja auch als Waffe nutzen, hatte der Beamte der Flugsicherheit gemeint. Sie hat weitere Saiten im Reisegepäck, das schon im Hotel ist. Da die Zeit bis zum Beginn der Matinee reicht, beschließt sie, mit dem Taxi zum Hotel zu fahren. Die Berliner Straßen sind leer, es ist ein Sonntag im Oktober, zudem ein Feiertag. Der Fahrer, graumeliert und mit leichtem arabischen Dialekt, stellt ihr den kleinen Hund vor, der vorne im Beifahrerfußraum mitfährt, den Hund seiner Tochter, den er immer sonntags beaufsichtigen muss. Und Emilia, die tief den Geruch des Hundes einatmet, erinnert sich an den Hund ihres verstorbenen Mannes. Sie hebt ihn auf die Rückbank, er legt sich neben sie, die Schnauze auf ihrem Oberschenkel.  Emilia bittet den Fahrer, an einer Kreuzung kurz anzuhalten. Sie kurbelt das Fenster herunter …

Juli Zeh: Neujahr

In erstaunlich vielen jüngst veröffentlichten Romanen spielt Angst eine zentrale Rolle: In Kathrin Gerlofs Roman „Nenn mich November“ hat Marthes Angst vor der finanziellen Zukunft dazu geführt, dass sie einen ihrer Arme nicht mehr als zu sich gehörend empfindet. In Andreas Lehmanns Roman „Über Tage“ trägt Joscha Farnbach auch als Erwachsener noch schwer am Trauma des Unfalltodes seiner Eltern. Und auch in Juli Zehs „Neujahr“ kämpft Henning mit immer wiederkehrenden Panikattacken. Im Unterschied zu Joscha Farnbach aber hat er keine Idee, woher die Angst kommt. Es fing mit den Attacken vor ungefähr zwei Jahren an, kurz nachdem das zweite Kind, die Tochter Bibbi, geboren wurde. Zuerst kamen sie nur nachts, mittlerweile aber auch am Tag. Zuerst hat er seine Frau Theresa nachts geweckt und sie hat versucht, ihm zu helfen. Hat vorgelesen, seine Hand gehalten, einen Tee gemacht, die Wärmflasche gebracht, den Fernseher eingeschaltet und sie haben es auch mit Sex versucht. Aber nichts von alledem konnte Henning beruhigen. Und seit Henning weiß, dass Theresa ihm gar nicht helfen kann, ist es noch schlimmer. „Seitdem …

Niroz Malek: Der Spaziergänger von Aleppo

Als Niroz Malek 1946 in Aleppo geboren wurde, um genau zu sein am 17. April, feierte Syrien genau an diesem Tag seine Unabhängigkeit von Frankreich, der vom Völkerbund in Syrien und Libanon seit dem Ersten Weltkrieg eingesetzten Mandatsmacht. „Sohn des Friedens“ wurde Malek also wegen seines ganz besonderen Geburtstages genannt und er habe, so schreibt er in seinem Nachwort, lange daran geglaubt, dass es nie wieder Weltkriege geben werde. Die Demonstrationen, die in Syrien 2012 sechs Monate lang friedlich stattfanden, bei denen breite Schichten der Bevölkerung und vor allem die jungen Menschen solche Dinge einforderten wie „Freiheit“ und „Würde“, die „Reformierung der staatlichen Institutionen“ und das „Ende der Korruption“ gingen dann aber, statt in eine Kommunikation mit allen beteiligten zu kommen, doch in einen „internationalen, zerstörerischen, barbarischen, schmutzigen Krieg“ über. So schmutzig und barbarisch, dass immer wieder – und gerade in diesen Tagen  – von Giftgastoten die Rede ist. Und so wird Malek, was er nie vermutet hätte, er wird zu einem „Sohn des Kriegs“ und erlebt in Aleppo den Krieg aus nächster Nähe. Viele …

Heinz Bude: Gesellschaft der Angst

Sie wird gerade wieder kräftig bespielt, die Klaviatur der Angst. Mit jeder neuen Gewalttat werden nahezu reflexhaft und manchmal so schnell, dass noch gar keine gesicherten Informationen vorliegen, Beschuldigungen in verschiedene Richtungen laut, es werden Ausgrenzungen und Abgrenzungen vorgenommen, es wird konsequent vereinfacht und es werden einfachste Lösungen feilgeboten: die Angst vor „den Anderen“ wird ganz gezielt geschürt, es entsteht eine mehr und mehr aufgeheizte, hysterische Atmosphäre, die vor allem eines ist, nämlich politisches Kalkül. Heinz Bude, der an der Universität Kassel Soziologie lehrt, hat sich in diesem 2014 erschienen Band nicht nur mit dieser „Angst vor den Anderen“– und auch der „Angst der Anderen“ – auseinandergesetzt, sondern geht weiteren soziologischen Facetten der zahlreichen Ängste nach, die die Menschen unserer Gesellschaft umtreiben, je nachdem, in welcher Situation und in welcher gesellschaftlichen Schicht sie sich befinden. Bude belässt es nicht bei dieser Darstellung, sondern setzt sich auch mit den Folgen der Ängste für die Politik auseinander und skizziert Lösungsansätze, die gerade auch mit Blick auf die lauten populistischen Äußerungen unserer Tage interessant sind. Angst, so stellt …