Lesen, Romane

Juli Zeh: Neujahr

In erstaunlich vielen jüngst veröffentlichten Romanen spielt Angst eine zentrale Rolle: In Kathrin Gerlofs Roman „Nenn mich November“ hat Marthes Angst vor der finanziellen Zukunft dazu geführt, dass sie einen ihrer Arme nicht mehr als zu sich gehörend empfindet. In Andreas Lehmanns Roman „Über Tage“ trägt Joscha Farnbach auch als Erwachsener noch schwer am Trauma des Unfalltodes seiner Eltern. Und auch in Juli Zehs „Neujahr“ kämpft Henning mit immer wiederkehrenden Panikattacken. Im Unterschied zu Joscha Farnbach aber hat er keine Idee, woher die Angst kommt.

Es fing mit den Attacken vor ungefähr zwei Jahren an, kurz nachdem das zweite Kind, die Tochter Bibbi, geboren wurde. Zuerst kamen sie nur nachts, mittlerweile aber auch am Tag. Zuerst hat er seine Frau Theresa nachts geweckt und sie hat versucht, ihm zu helfen. Hat vorgelesen, seine Hand gehalten, einen Tee gemacht, die Wärmflasche gebracht, den Fernseher eingeschaltet und sie haben es auch mit Sex versucht. Aber nichts von alledem konnte Henning beruhigen. Und seit Henning weiß, dass Theresa ihm gar nicht helfen kann, ist es noch schlimmer.

„Seitdem verbirgt Henning die Attacken. Nachts tigert er durchs Haus und bemüht sich, niemanden zu wecken. Seit es auch tagsüber passiert, hat er gelernt, sich äußerlich normal zu verhalten. Sein Herz rast und stolpert, er schwitzt, alle Muskeln verspannen sich. Aber er tut so, als wäre nichts, redet, isst, spielt mit den Kindern, telefoniert. Manchmal geht er ins Bad und guckt in den Spiegel. Unfassbar, dass man ES nicht sieht. Während das Herz einen irrsinnigen Tanz mit tödlichen Pausen tanzt, sieht sein Gesicht aus wie immer. Vielleicht sind die Augen ein bisschen rot. Natürlich merkt Theresa, was mit ihm los ist. Aber sie sagt nichts dazu. ES ist Hennings Privatsache geworden.“

Auch nun, im Weihnachtsurlaub mit der Familie auf Lanzarote, bleibt er nicht verschont von seiner Angst. Dabei hatte Henning sich diese Reise gewünscht, denn er wollte einfach mal weg von zu Hause in eine andere Umgebung. Aber statt den Urlaub mit den beiden kleinen Kindern zu genießen, schauen er und Theresa aus ihrem Reihenhaus sehnsüchtig nach den schönen Urlaubsvillen, die sie sich nicht leisten können, und Theresa beschwert sich über den kalten Wind, da können die Kinder nicht draußen spielen. Überhaupt ist es schwer, mit den Kindern den Urlaub zu genießen, es scheint so als, wäre „das Leben noch anstrengender als sonst“.

Am gestrigen Silvesterabend haben sie Sitzplätze in einem Hotel gebucht für ein 4-Gang-Menü in der ersten Schicht von 18 bis 20:30 Uhr. Henning hat das als als „demütigend“ empfunden, aber zum Tagesablauf mit zwei kleinen Kindern passt die Zeit gut. Eigentlich ist auch alles gut gelaufen an diesem Abend, zum Schluss ist Henning sogar noch mit mit beiden Kindern auf die Tanzfläche gegangen. Dort aber hat er Theresa entdeckt, tanzend mit einem Franzosen, an dessen Tisch sie im Laufe des Abends öfter mal gestanden und geredet hat. Da ist es dann auch nicht verwunderlich, dass ihn in dieser Nacht wieder eine Panikattacke heimsucht. So schlimm dieses Mal, dass er doch Theresa weckt. Und Theresa, sagt nur, bevor sie sich herumdreht und weiter schläft:

„Ich habe die Schnauze voll von diesem Theater. Glaubst du, es dreht sich alles nur um dich.“ Und weiter: „Deine Neurosen belasten die ganze Familie. Reiß dich endlich zusammen.“

Am Neujahrsmorgen setzt er sich dann endlich aufs Fahrrad mit dem Ziel, den nächsten Berg zu erklimmen. Für den Urlaub hat er sich vorgenommen, endlich wieder öfter Fahrrad zu fahren, als er es zuletzt zu Hause geschafft hat. Er hat extra ein Mountainbike gemietet, dessen Miete eigentlich viel zu teuer ist für das Familienbudget. Nach der verkorksten Nacht und ohne Frühstück, ohne Proviant und Wasser, macht er sich mit seinem Mountainbike über asphaltierte Straßen auf den Weg. Und hängt auf dem Rad, während er zunächst flach durch die Ebene auf den Berg zu gleitet, seinen Gedanken nach.

Und so erfahren wir Leser etwas über sein Leben: Er arbeitet als Lektor in einem Sachbuchverlag, Theresa ist Steuerberaterin. Seit die Kinder da sind, haben sie beide Teilzeitjobs, teilen sich die Hausarbeit, vor allem die Betreuung der Kinder, denn genau das ist ihnen besonders wichtig. Bei dem Konzept verdient Theresa aber mehr als Henning – Wirtschaftsjob schlägt eben Job in Kultur und Wissenschaft. Jedenfalls weiß Henning, „dass er ihr dafür etwas schuldet. Um den gerechten Ausgleich wiederherzustellen, müsste er etwas Zusätzliches für Theresa beziehungsweise für die Familie tun.“

Einmal mehr erweist sich hier, so wie in der Szene bei der nächtlichen Panikattacke, dass es eine merkwürdige Ehe ist, die die beiden da führen, dass Hennings Einschätzung, dass sie als Paar „ziemlich gut funktionieren“, eine sehr zutreffende, eine fast schon zu wohlwollende Beschreibung, eine wenig romantische ist. Und auch wenn seine Gedanken immer wieder darum kreisen, wie sie als Paar miteinander umgehen, welche Beziehung die Kinder zu ihm haben und zu Theresa, und wie wichtig es ihm ist, dass es den Kindern mehr als gut geht, so ist Hennings Konflikt, so ist der Ursprung seiner Panikattacken, keineswegs in seiner wenn auch anstrengenden Rolle als teilzeitbeschäftigter Familienvater und finanziell abgehängter Ehemann zu sehen.

Vielmehr lotet „Neujahr“ aus, wie wir diejenigen geworden sind, die wir sind. Vor Jahren nämlich hat Henning als Lektor einen Autor betreut, der sich mit dieser Frage auseinandergesetzt hat. Der Autor hat in seinem Buch die These vertreten, dass Kinder von ihrer Umwelt, vor allem von den Eltern, in bestimmte Rollen – und er meinte hier die geschlechtsspezifischen Rollen – gedrängt werden. Sein Buch mit dem schönen Titel „Das gemachte Ich“ war so erfolgreich, dass es „bis heute seine Stelle finanziert“. Seit Henning selbst Kinder hat, sieht er die Thesen und Argumente des Autors jedoch höchst kritisch. Er meint: „Kinder sind, was sie sind“, sie verhalten sich so, wie sie es für richtig halten, egal, welche Rollenbilder ihnen ihre Eltern anbieten.

Henning wird, am Ende seiner Fahrradtour in Femés und dann, als er bei einem Haus oberhalb des Ortes, zu dem es ihn unerklärlicherweise hinzieht, angekommen ist, seine Erinnerung an ein Erlebnis aus seiner frühen Kindheit wiederfinden. Damit findet er endlich die Ursache seiner Angst, ausgelöst durch ein völlig verantwortungsloses und egoistisches Verhalten seiner Eltern. Und es bietet sich direkt an, den Faden weiter zu spinnen und in diesem Erlebnis auch die Ursache dafür zu erkennen, dass Henning Theresa und ihrer ätzenden Art so wenig entgegensetzt.

Dass Schriftsteller sich in jüngster Zeit in ihren Romanen mit der Angst auseinandersetzen, dass sie Formen der Angst so anschaulich beschreiben, dass sie die Geschichten dahinter erzählen, die verschiedenen Gründe für die Angst aufdecken – von der Angst, die sich aus der ausweglosen Situation der Privatinsolvenz ergibt, bis zur Angst, die durch die Missachtung von Kindern durch die eigenen Eltern ausgelöst wird -, das ist wichtig, zum Nachfühlen, zum Verständnis bekommen, ja, um das Thema in die Gesellschaft zu tragen und für die Akzeptanz derjenigen werben, die davon betroffen sind und nicht nur mit der Angst, sondern auch mit ihrer Scham umgehen müssen.

Juli Zeh erzählt nah am Leben mit einer klaren und präzisen Sprache. Ihre Figuren meinen wir aus dem Freundeskreis zu kennen, manches haben wir vielleicht sogar selbst so erlebt. Hennings genaue Reflexionen, die er beim Fahrradfahren entwickelt, jedenfalls verweisen doch auf die Überforderungen so vielen junger Eltern, die doch mindestens richtig, wenn nicht perfekt machen wollen. Auch den scharfen Ton, der sich in der letzten Zeit schon einmal bei Theresa und Henning einschleicht, können wir ja gut erklären, es ist ja nicht einfach mit den zwei kleinen, manchmal eben auch quengeligen Kindern, dem halben Job und dem reduzierten Geld, dem großen Wunsch, den Kindern eine gute Kindheit zu bereiten und einen guten Start ins Leben und der gleichzeitigen Sehnsucht nach mehr Luxus. Als sich zeigt, welches Drama Henning in seiner eigenen Kindheit erlebt hat, welche Lieblosigkeit die Beziehung seiner Mutter zu ihren Kindern kennzeichnet, da kann man schon verstehen, dass Henning von ständigen Angstattacken heimgesucht wird. Das ist dann keine Angst vor einer (finanziellen) Zukunft, das sind die Auswirkungen von einem einschneidenden Erlebnis und seinem Verdrängen.

Und trotzdem: Es ist alles so glatt in diesem Roman. Die Sprache so wenig poetisch, der Spannungsbogen so vorhersehbar, die Motive und Bilder und Geschehnisse so deutlich geformt, oft als Spiegel zwischen zwei Zeitebenen, dass ihre Funktion zum Fortschritt der dramatischen Handlung so klar erkennbar ist. Wie eben die schwarzen Steine, die Hennings Mutter bemalt hat, seit er ein Kind war. Die als ein Beweis dafür fungieren, dass er mit seiner Familie schon einmal in dem Haus oberhalb von Femés gewesen ist. Genau so ist der überhastete Aufbruch am Morgen konstruiert, ausgelöst durch den Silvesterabend und die desaströse Nacht, der dazu führt, dass Henning völlig entkräftet und dehydriert der Besitzerin des Hauses vor die Füße sackt. Das wird einem Radfahrer  nicht passieren, denn der weiß um den üblen „Hungerast“ oder auch „den Mann mit dem Hammer“. Hier ist der körperliche Zusammenbruch aber nötig, damit die Besitzerin ihn ins Haus einlädt und wieder aufpäppelt. Und ihm dort, beim Gang durch das Haus, endlich alles wieder einfällt. Und so liest der Roman sich glatt und funktional und läuft auf eine Aufklärung zu wie ein Krimi – und ist doch das schmerzhafte Wiederentdecken eines alten Traumas.

Juli Zeh (2018): Neujahr, München, Luchterhand Verlag  

4 Kommentare

  1. Ich teile deine Kritikpunkte und finde es schade, dass Juli Zeh damit ihr interessantes Thema ein wenig verspielt. Trotzdem habe ich den Roman ganz gern gelesen. Liebe Grüße!

    • Wir haben „Neujahr“ in meinem Literaturkreis gelesen und ich muss gestehen, dass ich die einzige Leserin war, die diese Kritikpunkte genannt hat. Die drei anderen Leser haben den Roman durchweg gerne gelesen. Ich glaube, dass ich mehr und mehr diese ganz und gar „auserzählten“ Romane, in denen es nur noch wenig Leerstellen für den Leser gibt, kritisch sehe.
      Viele Grüße, Claudia

  2. Guten Morgen, Claudia,
    auch ich habe den Roman gerne gehört. Tatsächlich habe ich ihn mir auch zum Jahreswechsel gekauft. So wie du, fand ich es unglaubwürdig, dass ein Radfahrer so schlecht ausgerüstet losfährt. Vielleicht hätte es da eine andere Lösung gegeben. Mich hat auch ein wenig die „wir trennen und sms“ von Hennings Frau gestört. Da hätte ich ein wenig mehr Erläuterung benötigt. So bleibt die Ehesituation offen: ist eine gute funktionierende Ehe ausreichend?
    Nichtsdestotrotz war es ein kurzweiliges von Florian Lukas gut gesprochenes, ungekürztes Hörerlebnis.
    Liebe Grüße von Susanne

  3. Die „auserzählten“ Romane – das geht mir ebenso, wenn eigentlich alles gesagt und ausgedeutet ist und dadurch eher der Bestätigung (oder dem Widerspruch) der eigenen Haltung und Anschauungen dient und nicht anregt, selbst weiterzudenken, zu interpretieren, keine Haken legt – das ist irgendwie „zu wenig“. „Neujahr“ habe ich ausgelassen und so wird es wohl jetzt auch erst einmal bleiben …

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