Alle unter Asyl verschlagworteten Beiträge

Abbas Khider: Ohrfeige

Abbas Khiders Roman hätte der Roman des Frühjahrs zur aktuellen Flüchtlingsthematik werden können; er hätte der Roman werden können, der den Lesern literarisch zeigt, wie das Leben im Wartestand zwischen den Bewilligungen der Behörden, den Umzügen zwischen den Flüchtlingsheimen und der ewigen Untätigkeit und Langeweile ist; er hätte der Roman werden können, der zeigt, wie auch Behörden Menschen demütigen können, alleine, weil sie ihnen ausgeliefert sind. All diese Aspekte sind enthalten in Khiders Roman. Khiders Roman ist nicht im Jetzt angesiedelt, sondern in den Jahren 2000 bis 2003. Im Irak herrscht Saddam Hussein, aber Karim Mensy flieht nicht, weil er politisch aktiv war, sondern aus einem sehr persönlichen Grund. Ihm sind zur Jugendzeit weibliche Brüste gewachsen, die er nun durch Kleidung zu verbergen sucht. Sein Leben hat sich seitdem sehr verändert, Schwimmbäder und Fußballplätze sind tabu, die Sommer verbringt er wegen der luftigen Kleidung lieber zu Hause und beginnt Comics zu zeichnen. Aber nach dem Abitur steht der Wehrdienst an. Nicht auszudenken, was ihm dann geschieht: „Im Fernsehen sah ich oft, wie die Soldaten mit …

„Erschlagt die Armen“ – Warum Gespräche über Literatur so wertvoll und wichtig sind

Kai und ich haben uns vor ein paar Wochen auf dem Blog verabredet, Shimona Sinhas Roman gemeinsam zu lesen, darüber jeweils eine Besprechung zu veröffentlichen und über ein Interview miteinander ins Gespräch zu kommen (hier lest Ihr Kais Besprechung). Schon bei unseren Besprechungen ist deutlich geworden, dass wir ganz unterschiedlich auf den Roman geschaut haben, dass Kais Beurteilung deutlich kritischer ist. Trotzdem hat sein Blickwinkel mir noch einmal eine weitere Ebene der Rezeption erschlossen, nämlich gerade durch seinen viel genaueren Blick auf die Rolle der Frau in der indischen Gesellschaft. Nun folgt also unser Interview, das wir auf beiden Blogs veröffentlichen – und Eure Kommentare sind uns herzlich willkommen, damit wir weiter intensiv über Literatur sprechen können. Interview mit Kai Claudia: Lieber Kai, Du hast ja nun auch Shumona Sinhas Roman „Erschlagt die Armen“ gelesen. Mich hat der Roman unheimlich fasziniert, sodass ich ihn gar nicht mehr aus der Hand legen wollte. Doch trotz der nur wenig über 100 Seiten, hat die Lektüre schon seine Zeit gebraucht. Wie ist es Dir beim Lesen ergangen? Kai: …

Jenny Erpenbeck: Gehen, ging, gegangen

Beim Sprachunterricht der afrikanischen Flüchtlinge, die es in ein Berliner Altersheim verschlagen hat, hängen die Verben an der Wand: gehen, ging, gegangen. Jenny Erpenbeck hat in ihrem Roman ein ganz aktuelles Thema aufgegriffen, hat quasi den Roman zur Flüchtlingsthematik dieses Spätsommers geschrieben. Dabei spürt sie in ihrem Roman einem Flüchtlingsdrama nach, das sich vor zwei Jahren ereignet hat, als Afrikaner, die über das Mittelmeer nach Italien gelangt sind, die Abgabe ihres Asylantrags in Deutschland, entgegen den Regeln von Dublin II, erzwingen wollten und dazu monatelang in Berlin auf dem Oranienplatz gelebt haben, um so auf ihre Situation aufmerksam zu machen. „We become visible“, haben sie auf Schilder geschrieben. Sie selbst wollten sichtbar werden, sie wollten ihr Problem sichtbar machen, den Kampf nämlich gegen den europäischen Paragrafendschungel, der doch alles zu tun scheint, um sie dem öffentlichen Sichtfeld zu entziehen. Die Geschichte des Streiks vom Oranienplatz nimmt Jenny Erpenbeck zum Ausgangspunkt ihres Romans. Vor den zeitlichen Verläufen der realen Geschichte um die streikenden Afrikaner, ihr Abkommen mit dem Berliner Senat, das sich ein paar Wochen später …

Shumona Sinha: Erschlagt die Armen

Shumona Sina hat ihren Roman in Frankreich schon 2011 veröffentlicht. Sie stammt aus Indien, hat dort bereits Gedichtbände auf bengalisch veröffentlicht und lebt seit 2001 in Frankreich. Dort hat sie auch den Job gehabt, den sie nun ihrer Protagonistin auf den Leib schreibt: Sie ist Dolmetscherin bei der Einwanderungsbehörde, kennt das Innere eines Amtes, weiß um das Prozedere bei den Anhörungen von Asylbewerbern und bei den medizinischen Untersuchungen, sie hat den manchmal zermürbenden Arbeitsalltag zwischen Verwaltungsvorschrift, Formularwesen und Lüge selbst erlebt. Als ihr Roman „Erschlagt die Armen“ veröffentlich war, hat sie die Kündigung bekommen, ihr Text sei den Behörden vor der Veröffentlichung nicht zu Genehmigung vorgelegt worden, hieß es. Sie scheint also mit ihrem schmalen Roman, der den Titel eines Gedichts Charles Baudelaires trägt, der Administration und weiteren staatlichen Stellen ordentlich auf die Füße getreten zu haben. Und tatsächlich: Schon alleine der Erzählton der namenlosen Ich-Erzählerin ist von einer ganz anderen Energie, einer Wut geradezu, die beispielsweise in Jenny Erpenbecks Roman „Gehen, ging, gegangen“ ganz und gar nicht zu finden ist. Schon im ersten Satz …

Andrea Di Nicola, Giampaolo Musumeci: Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen

Eines der Themen, über das Zeitungen, Fernsehnachrichten und Internetseiten jeden Tag berichten, ist das der vielen Flüchtlinge, die in diesem Jahr ihre Einreise nach Europa versuchen. Von 600.000, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen, ist die Rede, vielleicht werden es auch 750.000 [1] oder 800.000. Auf welchen Wegen diese Menschen nach Europa gelangen, welchen Risiken sie sich aussetzen und welchen Händen sie ihr Leben anvertrauen, das haben die beiden italienischen Autoren Andrea Di Nicola, der als Kriminologe mit dem Schwerpunktthema „organisierte Kriminalität“ an der Universität Trient lehrt, und Giampaolo Musumeci, Fotograf und Dokumentarfilmer, in diesem Buch dargestellt. Sie haben an den üblichen Routen mit den vielen Schleusern gesprochen und gewähren so einen tiefen Einblick in „die größte kriminelle Reiseagentur der Welt“. Für ihr Buch haben sie 2013 und 2014 recherchiert, also noch bevor die ganz großen „Reisebewegungen“ eingesetzt haben, die wir in diesem Jahr beobachten können. Der Titel, dies sei zu Beginn festgehalten, ist recht auffallend, vielleicht gar reißerisch – und dies ist auch kein Übersetzungsfehler, sondern er entspricht durchaus dem italienischen Original – …