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Katharina Winkler: Blauschmuck

Günter Grass sah die große Leistung der Literatur darin, dass sie nicht wegschaue, nicht vergesse, sondern das Schweigen breche. Genau das ist auch die große Leistung Katharina Winklers und ihres Debütromans „Blauschmuck“, dem sie die Anmerkung „Nach einer wahren Begebenheit“ voranstellt. Hier erzählt Winkler die Geschichte von Filiz, die in einem kurdischen Dorf aufwächst, heiratet, später mit ihren Kindern nach Österreich ausreist. Und sie erzählt vor allem von dem Ehe-Martyrium Filiz´, das erst nach Jahren endet, weil die Nachbarn in der neuen Heimat dafür sorgen, dass sie in ein Krankenhaus kommt und dann in einem Frauenhaus leben kann, als Yunus, der Ehemann, sie nicht nur, wie sonst üblich, geschlagen und vergewaltigt, sondern regelrecht zusammengeknüppelt hat. Katharina Winkler findet eine ganz besondere Sprache und eine besondere Erzählhaltung für die Geschichte von Filiz, die die Leser gar nicht ertragen könnten, wäre sie nicht genau so erzählt, wie sie erzählt wird. Winkler lässt Filiz erzählen, als Ich-Erzählerin, die es geschafft hat, sich von sich selbst zu distanzieren, die ihre Umgebung nur beobachtet, die eigenen Handlungen beschreibt und das, …

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Die „Katze Erinnerung“ so sinniert Gesine Cresspahl sei „unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Gesell, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält.“ (Uwe Johnson: Jahrestage, 2. Februar 1968) In Uwe Johnsons „Jahrestage“ erinnert Gesine ihre Familiengeschichte, spricht sie auf Band, um sie für die Tochter Marie zu erhalten für den Fall, dass ihr etwas passiert. Sie rekonstruiert die Vergangenheit bis in die Jugendtage ihrer Eltern und versucht so für Marie die Wurzeln sichtbar zu machen, die ihr sonst in New York, weit weg von der mecklenburgischen Heimat der Mutter und der Großeltern, verloren gingen. Auch Katja Petrowskaja begibt sich auf Spurensuche, denn ihre Familiengeschichten sind verloren gegangen im Laufe des stürmischen 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen und wechselnden Herrschaftssystemen, mit Wanderungen, Vertreibungen, mit der Vernichtung durch den Holocaust. Sie ist in Kiew aufgewachsen glücklich, fröhlich und geliebt, in einer Familie mit Eltern, Geschwistern, Großmüttern, Onkeln, Tanten und Cousinen. Es gab Familienfeste an langen Tafeln, „laut“ und „überbordend“, und doch hört sie durch das muntere Lärmen mehr und mehr einen „Missklang“, fühlt …

Boris Cyrulnik: Rette dich, das Leben ruft!

Vielleicht ist es ja tatsächlich so, dass Boris Cyrulnik kein Arzt geworden wäre, kein bekannter Psychiater, kein Resilienzforscher, wenn er nicht diese besonderen Erlebnisse in seiner Kindheit gehabt hätte, die auf viele andere sicherlich eher niederdrückend, lähmend, ängstigend gewirkt hätten. Offensichtlich konnte Boris Cyrulnik auf Ressourcen zurückgreifen, so dass er trotz seiner Erlebnisse nicht verzweifeln ist, sondern seinen Weg gefunden hat, so dass er beim Blick auf seine Geschichte nicht wie Lots Frau zur Salzsäule erstarrt ist. Solche in Krisen stärkenden Faktoren zu erforschen, hat sich die Resilienzforschung zur Aufgabe gemacht. Seit der 1950er Jahren wird erforscht, welche Kräfte Menschen helfen können, Krisensituationen zu  überstehen und welche Lehren daraus gezogen werden können, um traumatisierten Menschen zu helfen. Und in seiner Biografie erkennt Boris Cyrulnik zahlreiche Faktoren, die ihm geholfen, ihn gestärkt haben. Geboren ist Boris Cyrulnik 1938 in Bordeaux als Sohn von jüdischen Einwanderern aus der Ukraine. Wie viele andere Juden auch bewundern sie die französische Kultur, verbinden mit ihr die Umsetzung der Menschenrechte, die Chance auf ein gutes Leben. Über den latenten Antisemitismus in …

Wolfgang Herrndorf: Arbeit und Struktur

An dem Wochenende, als Wolfgang Herrndorfs Buch veröffentlicht wurde, musste man im Zeitschriftenladen eines Vorortbahnhofs, der üblicherweise über ein recht schmales Buchsortiment nicht allerhöchsten Niveaus verfügt, geradezu über Herrndorfs Tagebuch klettern, denn es lag dort gleich in mehreren großen Stapeln bereit. Offensichtlich erwartete man auch im Vorort einen reißenden Absatz. Und in den Feuilletons überschlugen sich die Rezensenten vor Begeisterung. In der ZEIT verstieg sich die Kritikerin gar zu diesen schier unglaublichen Aussagen: Arbeit und Struktur trifft Deutschland zur Adventszeit. Nicht nur zur kalendarischen, sondern zu einer gefühlt schon viel zu lange andauernden emotionalen Festzeit, in einem Zustand kollektiver Weihnachtsmarktverfettung, in dem das Land es sich gemütlich gemacht hat, ohne sich dabei selbst ganz geheuer zu sein. Wie ein Weckruf schrillt die Ich-Geschichte durch die „Deutschland geht es gut“-Melodie, diese ewig frohe Lähmungsbotschaft der Kanzlerin. Gibt es hierzulande vielleicht doch mehr Menschen, als man denkt, die das Einbetoniertsein im Positiven als Stillstandshorror empfinden? Schade. So viel Hype, soviel merkwürdige Begeisterung, so viel Spiel mit Voyeurismus und Sensation, die Instrumentalisierung des Autors gar zum Erwecker einer …

Meine Empfehlung – Juli Zeh, David Finck: Kleines Konversationslexikon für Haushunde

Ein Gastbeitrag von Felix, dem Hund Ich bin der Einladung zu diesem Gastbeitrag auf einem Literaturblog gerne nachgekommen, wohl wissend, dass die Herausgeberin des Buches, das ich den Lesern, gerade den Haushunden und ihren Besitzern unter Euch, gerne ans Herz legen möchte, Euch wohl eher als Schriftstellerin, manchen auch als Juristin, bekannt ist. Nun ist es ja so, dass Juli Zeh gerne mit Hunden zusammenlebt und aus dieser Koexistenz hat sich ein Projekt ergeben. Denn Othello, der Hund, der mit ihr gemeinsam an deutschen Universitäten Juravorlesungen besucht und den Veranstaltungen am Deutschen Literaturinstitut gelauscht hat, weiß um die Bedeutung der Sprache. Vor allem aber weiß er, dass es für Hund einfach gut ist, die menschliche Sprache mit ihren Hürden und Klippen, ihrer unlogischen und ihrer verschwätzten Vielfalt bestens zu kennen, um sich in der Welt der Menschen zurecht zu finden. Aber, so macht Othello schon in seinen einleitenden Anmerkungen deutlich: Es ist für Hund besser, nicht zu erkennen zu geben, dass er die Sprache aus dem Effeff beherrscht, denn nur das Leben derjenigen, die schweigen, …

Sam Savage: Firmin. Ein Rattenleben

Angeregt durch die Gestaltung des Buchcovers, des in der Innenseite des Klappendeckel abgebildeten Bildes des Autors sowie dem guten Ratschlag von Dennis Scheck („Also vertrauen Sie mir, ich weiß, was ich tue, und lesen Sie Sam Savages ´Firmin`“) gehörte dieser Roman über Firmin, die lesende Ratte– zugegebenermaßen schon vor etlichen Monaten – unbedingt auf meine Leseliste. Und es geht gleich mit den wichtigen Fragen des Lebens und Lesens los: Warum fängt man eigentlich mit dem Lesen an, wenn doch alle anderen Geschwister lieber balgen und streiten? Wie kommt es, dass man sich zum Lesen, zur Literatur so hingezogen fühlt, dass man geradezu süchtig danach ist? Entgeht einem das Leben, wenn man liest? Oder: Lebt man gerade intensiver durch das Lesen? Macht Literatur anders? Oder: Ist sowieso anders, wer gerne liest? Und: Kann Literatur helfen, das Leben zu bewältigen, weil Probleme und Schwierigkeiten, ja das Leben selbst, in einem neuen Licht erscheinen, wenn man liest? Firmin, um den es hier geht, ist tatsächlich anders. Er ist einer von dreizehn Rattengeschwistern und beschreibt die Unterschiede so: Sie …

Und meine Empfehlung ist dies: Hunde unter Wasser

Können Hunde tauchen? Meine Hunde können gut schwimmen und sie können auch alles mögliche aus dem Wasser holen, aber ob sie tauchen können, das weiß ich nicht. Ich weiß es nicht, weil wir zum Schwimmen immer einen Ball mitnehmen, der auch sicher alleine  schwimmen und den „Kopf über Wasser“ halten kann. Wenn ich die Vorsorge, die ich immer treffe, wenn wir ans Wasser gehen, genauer betrachte, zeigt sie mir, dass ich – meinen – Hunden das Tauchen, vor allem das richtige Tauchen, eigentlich nicht zugetraut habe. Der Tier-Fotograph Seth Castell hat durch Zufall herausgefunden, dass Hunde sehr wohl tauchen können und das auch mit wahrer Hingabe. Bei einem ganz normalen  Shooting hat sich sein Fotomodell Buster sein eigenes Spiel ausgedacht: Buster schubste einen Tennisball in den Pool, sprang hinterher und tauchte nach ihm.  Schnell kaufte der Fotograf eine Unterwasserkamera und knipste Buster bei seinen Tauchgängen. Das war dann der Beginn einer Fotoserie über tauchende Hunde. Und daraus ist dann dieser tolle Bildband geworden, der die verschiedensten Hunde unterschiedlicher Rassen und verschiedenen Alters beim Tauchen zeigt. …

Alan Bennett: Die souveräne Leserin

Die Queen liest – Ein Buch über die subversive Kraft des Lesens Beim Staatsbesuch in Kanada ist die Queen „übellaunig“. Ihre emotionale Befindlichkeit zeigt sie ganz auf ihre Art: „Im hohen Norden warteten die wenigen Eisbären, die sich auftrieben ließen, lange auf Ihre Majestät, und als die sich nicht blicken ließ, machten sie sich auf einer vielversprechenden Scholle davon. Zahllose Holzstämme verkeilten sich im Fluss, Gletscher kalbten ins eisige Meer, alles vom königlichen Gast unbeachtet, denn die blieb in ihrer Kabine.“ Was ist passiert, dass die Queen, die ihre Aufgaben immer pflichtbewusst wahrnimmt, immer pünktlich und adrett erscheint, nun nicht einmal mehr zu den Niagara-Fällen fahren möchte? Die Queen hat entdeckt, wie wunderbar das Lesen ist. Gemeinsam mit ihrem persönlichen Leseberater Norman, der vor diesem Sprung in die Höhen des königlichen Beraterstabs Küchenjunge war, hat sie eine Lesekiste für den Staatsbesuch in Kanada gepackt. Die ist aber niemals angekommen, und nun sitzt sie ohne Lektüre und geistige Nahrung in der Natur Kanadas. Von ihrem Leseeifer ist der Hof nämlich wenig begeistert. So warnt ihr Privatsekretär, …