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Verena Mermer: Autobus Ultima Speranza

Es ist ein paar Tage vor Weihnachten am Busbahnhof in Wien. Die Fahrer bereiten die Busse für die nächsten langen Fahrten vor oder machen eine Pause, erste Fahrgäste für die nächsten Touren treffen ein. Hier, am Busbahnhof, kommen die zusammen, die sich auf eine Reise begeben. Aber die, die hier eintreffen, fahren nicht in den Urlaub oder starten zu einer Besichtigungstour. Die, die hier losfahren, pendeln zwischen ihrer Arbeit und ihren Familien. Die meisten der Passagiere des Busses mit dem pinken Logo der Gesellschaft Speranza fahren über die Weihnachtstage nach Cluj in Rumänien. Sie besuchen dort ihre Familien, die sie das Jahr über kaum sehen, weil sie in Österreich, in Deutschland, in Großbritannien arbeiten. Nur wenige Mitreisende fahren zurück nach Cluj, weil sie ihre Familien schon besucht haben und sie mit Kommilitonen oder Freunden feiern werden. Verena Mermer erzählt in ihrem Roman von dieser einen Fahrt von Wien nach Cluj im Autobus der Linie Speranza. Wir lernen Fahrer und Passagiere kennen, manche kurz nur, manche länger und genauer. Und dabei bekommen wir Einblicke in die …

Terézia Mora: Die Liebe unter Aliens

Aus dem Buchregal genommen habe ich Terézia Moras Erzählband, weil die Autorin, so wurde Anfang Juli bekannt, die diesjährige Büchner-Preisträgerin ist. Eine gute Gelegenheit also, die Lektüre des vor zwei Jahren schon veröffentlichten und immer noch ungelesenen Erzählbandes endlich nachzuholen. Und dann ergab sich auf einmal ein ganz stimmiger Zusammenhang mit den vorher gelesenen Büchern – denn auch Terézia Moras Geschichten umkreisen das Thema Stille. Angefangen hat meine kleine, wenn auch ungeplante Reihe zum Thema mit Céline Minards Protagonistin, die die einsame Bergwelt aufsucht, um zu erproben, ob ihr Leben dort, und auch die dazugehörende Stille, sie zu einer Erleuchtung führe – oder eben nicht. Erling Kagge stellt schon mit dem Titel seines Buches klar, dass er sich mit dem Phänomen der Stille beschäftigt, und beleuchtet dann Momente der Stille und Wege zur ihr. In Moras Erzählungen sind es wiederum die Protagonisten, die ein besonderes Verhältnis zur Stille haben. Es sind oft Figuren, die alleine leben oder die sich selbst dann  einsam fühlen, wenn es Lebenspartner gibt. Es ist eine Stille, die sie umgibt, die …

Ayelet Gundar-Goshen: Löwen wecken

Etan Griens Leben verändert sich in dem sprichwörtlichen einen Moment. Gerade noch braust er mit seinem Jeep in der Nacht zu den lauten Klängen der Musik Janis Joplins durch die Wüste bei Beer Sheva, die letzten Spuren des Noradrenalins nach einer langen Schicht im Krankenhaus geben ihm noch einmal genug Energie für dieses Abenteuer. Und das alles bei dem Schein des schönsten Mondes, den er je gesehen hat. „Und sie kreischte tatsächlich, voll aufgedreht, und auch der Motor kreischte und kurz darauf stimmte Etan selbst mit ein – kreischte begeistert auf der rasanten Abfahrt, kreischte übermütig beim Schwung bergauf, kreischte aufgelöst in der Kurve am Hügel. Und dann fuhr er stumm (Janis Joplin sang weiter, unglaublich, die Stimmbänder dieser Frau), fiel jedoch gelegentlich, wenn sie ihm gar zu einsam klang, in den Refrain mit ein. (…) Im Rückspiegel schielte er nach dem Mond, der mächtig und majestätisch schien.“ (S. 30) Und schon ist es passiert – schon hat er einen Menschen überfahren, mitten in der Nacht, mitten in der Wüste. Etan hält den Wagen an, …