Jahr: 2023

Ursula Knoll: Lektionen in dunkler Materie

Der Astronaut Edward White ist voll und ganz mit seinem ersten Weltraumspaziergang beschäftigt. Er bemerkt nicht, dass sich ein ungesicherter Ersatzhandschuh langsam aus der Kiste löst und in den Weltraum auf und davon macht. Der Handschuh findet sich auf einer Umlaufbahn um die Erde ein, nimmt Geschwindigkeit auf und rast fortan mit 28.000 Stundenkilometern durch den Weltraum. Würde er auf ein Hindernis treffen, dann wäre aus dem ziemlich harmlosen Weltraumhandschuh ein fulminantes Geschoss geworden: „Der getroffene Körper wäre zerrissen, der Satellit, die Raumstation oder der Versorgungstransporter zu unkontrollierbar schwebenden Einzelteilchen zersiebt, ein paar Menschenleben ausgelöscht, ein paar weitere beschädigt, GPS-Systeme und Datenübertragung auf die Erde lahmgelegt, Illusionen verletzt, Eitelkeiten vernichtet.“ Mit ihrem Prolog legt Ursula Knoll Ton und Tempo ihres Episodenromans fest: Zwischen Himmel und Erde passieren schon mal Dinge, die so eigentlich nicht passieren sollten. Zufälle und Unfälle, die bei all unseren Maßnahmen zur Risikovermeidung dann doch ab und zu mal für großes Chaos sorgen. Und das trotz der dunklen Materie, die, mit der großen Schwerkraft, die sie ausübt, „wie ein Kitt die Strukturen …

Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert

Wie war es doch einfach, in der ersten eigenen Wohnung für Freunde zu kochen oder gleich mit ihnen zusammen. Da wurden Spaghetti gekocht oder Bleche mit Pizzateig und Zutaten belegt. Alle saßen beengt um den Küchentisch und aßen vom zusammengewürfelten Geschirr. Alles war einfach und mal eben so vorbereitet, die Abende wurden lang und lustig. Diese Leichtigkeit ist der Protagonistin in Teresa Präauers Roman, die durchgängig als „Gastgeberin“ und ohne individuellen Namen benannt ist, völlig abhandengekommen. Die Gastgeberin wohnt nun, ungefähr 40-jährig, endlich in einer der angesagten Altbauwohnungen im richtigen Bezirk der Stadt. Sie besitzt einen schönen Esstisch aus Holz, ein dänisches Designerstück. Zum Kochen wird sie eine besondere Schürze tragen können, auch aus Dänemark, und Geschirrtücher aus Kopenhagen liegen ebenfalls bereit. Die Möblierung ist sorgsam kuratiert und besteht aus Designerstücken, die neben Flohmarktfunden stehen. Die Bühne ist also bestens vorbereitet, so denkt es sich die Gastgeberin wohl, um Gäste einzuladen: ein offenes, freundliches Haus für ihre Freunde wünscht sie sich. An diesem Abend haben die Gastgeberin und ihr Partner ein befreundetes Ehepaar eingeladen, das …

Nell Zink: Avalon

Avalon – das ist doch die Insel, auf der Morgan le Fay mit ihren Schwestern lebt und das alte, mythische Wissen bewahrt. Die Insel, auf der sie den Halbbruder Artus gesund pflegt. Eine paradiesische Welt also, in der man sich von der harten Realität erholen kann. Brans Leben ist alles andere als paradiesisch. Sie lebt in prekären Verhältnissen bei einer White-Trash-Familie, die ihre Arbeitskraft als Kind und Jugendliche ausbeutet. Avalon begegnet ihr in Form einer kapitalistischen Touristenhochburg auf Catalina Island, südlich von Los Angeles. In den drei Büchern, die ihre Mutter ihr hinterlassen hat. Und in Form eines klapprigen Autos, das den schönen Modellnamen trägt. Und es gibt auch den blitzgescheiten Peter, der sich dem ritterlichen Konzept der Minne verschrieben hat. Aber der Reihe nach. Bran, abgeleitet von Brandy, ist eine moderne Waise. Ihre Eltern haben sie sitzengelassen. Doug, ihr nicht ehelicher Stiefvater, erzählt ihr, da ist sie 16, dass ihr Vater die kleine Familie verlassen habe, als sie 11 Monate alt gewesen sei. Er sei nach Australien verschwunden, Kontakt zu seiner Tochter hat er …

Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord

Es ist der 13. Seetag auf dem Frachter S.S.Arabella, der durch ruhige See auf dem Weg von Honolulu nach Panama ist. Da passiert am frühen Morgen Ungeheuerliches: Henry Preston Standish steht an seinem Lieblingsplatz an Bord, dort, wo er dem Wasser am nächsten sein kann, und beobachtet den Nachthimmel, der so langsam verblasst. Beim Beobachten des Himmels sinniert er darüber, wie schlicht hier im Pazifik der Sonnenaufgang im Vergleich zum farbenprächtigen Sonnenuntergang ist. Dabei setzt er den linken Fuß zurück und in eine Öllache. Er versucht noch das Ausrutschen mit dem rechten Fuß auszugleichen, verliert aber das Gleichgewicht und stürzt kopfüber ins Meer. Sein erster Gedanken beim Eintauchen ins Meer ist es, bloß nicht in die Nähe der Schiffsschraube zu geraten. Doch findet er sich im Sog des Schiffes wieder, gegen den er sich nicht wehren kann. So lässt er sich hierhin und dorthin ziehen, zum Teil so weit unter Wasser, dass ihm die Ohren schmerzen. Dann taucht er auf und hat nicht einmal Wasser geschluckt. Und der Schiffsschraube ist er auch nicht zu nah …