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Nell Zink: Avalon

Avalon – das ist doch die Insel, auf der Morgan le Fay mit ihren Schwestern lebt und das alte, mythische Wissen bewahrt. Die Insel, auf der sie den Halbbruder Artus gesund pflegt. Eine paradiesische Welt also, in der man sich von der harten Realität erholen kann.

Brans Leben ist alles andere als paradiesisch. Sie lebt in prekären Verhältnissen bei einer White-Trash-Familie, die ihre Arbeitskraft als Kind und Jugendliche ausbeutet. Avalon begegnet ihr in Form einer kapitalistischen Touristenhochburg auf Catalina Island, südlich von Los Angeles. In den drei Büchern, die ihre Mutter ihr hinterlassen hat. Und in Form eines klapprigen Autos, das den schönen Modellnamen trägt. Und es gibt auch den blitzgescheiten Peter, der sich dem ritterlichen Konzept der Minne verschrieben hat. Aber der Reihe nach.

Bran, abgeleitet von Brandy, ist eine moderne Waise. Ihre Eltern haben sie sitzengelassen. Doug, ihr nicht ehelicher Stiefvater, erzählt ihr, da ist sie 16, dass ihr Vater die kleine Familie verlassen habe, als sie 11 Monate alt gewesen sei. Er sei nach Australien verschwunden, Kontakt zu seiner Tochter hat er nie aufgenommen. Und Brans Mutter zieht in ein buddhistisches Kloster, als Bran 10 Jahre alt ist, ein paar Wochen nach dem Ausflug nach Avalon, wo Mutter und Freund Doug und der Stiefbruder fliegende Fische beobachtet und im Hafen Burger gegessen haben. Das einzige, was Bran von ihrer Mutter bleibt sind drei Bücher: „König auf Camelot“, „Flammender Kristall“ und „Taran und das Zauberschwert“.

Dass sie Bran bei den Hendersons, der Familie von Doug, zurücklässt, ist besonders verantwortungslos. Denn die Hendersons leben auf einer heruntergekommenen Farm, in der neben den zerschlissenen Möbeln immer nur das neueste Fernsehmodell davon zeugt, dass die Familie mit ihrer Baumschule – und allen möglichen anderen krummen Geschäften, in die Großvater Larry mit seiner Biker-Gang möglicherweise auch noch verstrickt ist – Geld verdient.

„Ob in den Schiffscontainern mit Zielhafen Long Beach jemals etwas anderes als tropische Pflanzen eintrifft und ob die motorradfahrenden Freunde der Hendersons mit dessen Verteilung irgendetwas zu tun haben, weiß ich nicht. Ich bin nie als Familienmitglied betrachtet worden, es sei denn, sie wollten was von mir.“

Neben den illegalen Arbeitern, die in der Baumschule mitarbeiten, und denen Grandpa Larry immer die Namen Eric, Roger und Simon gab, macht Bran die besonders eintönigen, manchmal auch schweren Arbeiten: sie putzt die Rückstände der Pflanzenschutzmittel von den Blättern, damit die als ökologische Pflanzen für einen besseren Preis verkauft werden können. Oder bringt 800 Ligustersträucher in eine konische Form mit einer Kugel am oberen Ende. Die Motorheckenschere kann Bran kaum halten und wenn sie 100 Sträucher geschnitten hat, dann kann sie die ersten schon wieder nachschneiden:

„Die Pflanzen immer wieder nachzubearbeiten, ist doch gerade der Witz“, fügte Doug hinzu, „So werden sie schön dicht. So entsteht die Qualität der Bourdon-Farm-Produkte, die den Premiumpreis rechtfertigen.“

Geld für ihre Arbeit zahlen die Hendersons nie. Das Kindergeld des Staates nehmen sie, ohne ein weiteres Wort zu verlieren. Dafür berechnen sie Bran aber seit ihrem 17. Geburtstag – das ist der Tag, ab dem man zur Army gehen kann – Miete für ihren Bretteranbau ohne Heizung, in dem sie haust. Immerhin darf Bran zu High-School gehen, aber nach ihrem Abschluss steckt sie drin in der Schuldknechtschaft. Und eine Bewerbung an einem College oder einer Universität ist für sie ohne jegliches eigene Geld nicht möglich.

Brans Erzählung könnte ein Bildungsroman sein oder eine Geschichte vom Ausbruch aus der sozialen Klasse, in der die Heldin entweder heroenhaft ihrer Herkunft entkommt oder bemitleidenswert an der bösartigen Umgebung scheitert. In solchen Kategorien scheint Bran aber nicht zu denken. Bemerkenswert abgeklärt, wahrscheinlich aus zeitlicher Distanz, erzählt sie ihre Geschichte einem Gegenüber, spricht die Lesenden ab und zu mit einem „du“ an. Sie macht kein großes Aufheben von den guten Dingen ihres Lebens, von ihrer Klugheit und ihrer Schönheit, sie spricht über ihre große Traurigkeit nur einmal, und auch den Bedingungen auf der Henderson-Farm räumt sie keinen großen Erzählraum ein.  

Viele Freunde hat Bran in der Schule erst einmal nicht. Ein Lichtblick in ihrem Leben ist Jay, der neu an die Schule kommt und sich mit ihr anfreundet als sie 12 Jahre alt ist. Die beiden sind zwei Außenseiter, Jay, weil er schwul ist, und Bran, weil sie oft schmutzig von der Arbeit in die Schule kommt, weil sie ihr Gesicht hinter einer Gardine aus Haaren und ihren mageren, aber doch weiblicher werdenden Körper in viel zu großen Männerhemden und -hosen versteckt – besser ist diese Kostümierung bei den sexuell immer etwas aufgeladenen Biker-Freunden der Familie auf jeden Fall. Jay und Bran verbringen jede freie Minute zusammen und später, als Jay zur High-School geht, geht Jay mit, auch wenn sie dazu ein Schuljahr überspringen muss. In der High-School erweitert sich der Freundeskreis um Will und Fifi und Henry. Alle Freunde Brans stammen aus reichen Elternhäusern, in denen sie auch Zeit verbringt. Keiner der Eltern, es sind auch Anwälte dabei, kommt auf die Idee, Bran zu helfen.

Später, am College lernt Jay Peter kennen und bringt ihn mit in die Freundesclique. Peter stammt von der Ostküste und findet an der Westküste alles sehr oberflächlich. Er ist sehr belesen und verschont seine Umgebung nicht mit seinen Zitaten und konsum- und wirtschaftskritischen Betrachtungen. In Bran ist er sehr verliebt, aber er stellt gleich klar, dass aus ihnen nichts wird, weil eine anstrengende – oder fordernde? – Frau wie Bran ihn nur bei seinen Karriereplänen behindern würde. Während der Weihnachtsferien verlobt er sich mit Yasira, deren Wünsche an eine Ehe Kinder sind, um die sie sich kümmern werde, Peter könne in Ruhe seiner Arbeit nachgehen. So muss Bran sich mit einer platonischen Beziehung zufriedengeben.

Aber Peter versorgt Bran mit Lektüretipps, sodass sie sich im Selbststudium erarbeitet, was ihre Freunde an der Uni lesen. Und einmal rettet er sie auch tatkräftig von der Farm und versteckt sich ein paar Tage mit ihr im Hotel, damit die Hendersons sie nicht finden. Bran kommt im Haus von Wills Eltern unter und beschließt, Drehbuchautorin zu werden. Ob ihre Ideen eines Drehbuchs, in dem sie sich wild aus allen Genres bedient, von Erfolg gekrönt ist, das erfahren die Lesenden nicht.

Peter also, der edle Ritter, der Klaus Theweleits „Männerfantasien“ und Adornos „Minima Moralia“ zitiert und an allem faschistoide Entwicklungen ausmacht, versucht sich am Konzept der Minne. Da hat er aber die Rechnung ohne Bran gemacht.

Nell Zinks Roman von Bran und Avalon ist also so viel mehr als die moderne Version der mythischen Geschichte von Branwen, dem Aschenputtel am Hof des Königs von Irland. Dabei ist alleine schon Brans kraftvolle und mutige Erzählstimme ein Lesegenuss. Tief in die sehr realistisch erzählte Geschichte aber sind philosophische, soziologische und literarische Verweise eingesponnen. Da ist das mythische Avalon, die ritterliche Liebe Peters und der am Ende auch noch auftretende große Hund über den Peter stöhnt: „Jemand muss diesen Rabelais’schen Hund aus meinem Leben entfernen.“ Da ist Adorno mit seinem Zitat, dass es kein richtiges Leben im falschen gebe. Da ist Theweleit mit seiner Untersuchung des männlichen Lebensprinzips, das Gefühle ausschließe, eine soldatische Pflichterfüllung verlange und Männerbünde dem Umgang mit Frauen vorziehe – fast eine Beschreibung des Lebens auf der Henderson-Farm.   

So also kann eine äußerst kluge und unterhaltsam-herausfordernde Geschichte über den Ausbruch aus der Enge der Verhältnisse sein. Um dabei gleich auch noch den Versprechungen des Mythos um Avalon eine Absage zu erteilen. Ein großer Lesespaß.

Nell Zink (2023): Avalon, aus dem Englischen von Thomas Überhoff, Hamburg, Rowohlt Verlag

4 Kommentare

  1. Hi Claudia
    Danke für die Vorstellung des scheinbar sehr lesenswerten Buchs. Wir werden es uns anschauen.
    Einen schönen Sonntag wünschen
    The Fab Four of Cley
    🙂 🙂 🙂 🙂

    • Lieber Klausbernd,
      ich freue mich, wenn ich euch neugierig gemacht habe.
      Viele Grüße über das Meer, Claudia

  2. Schön von Dir zu lesen, Claudia. Ich fand den Peter ja ein wenig anstrengend und teils auch überheblich Bran gegenüber. Gut, dass man sich den Schluss selbst aussuchen darf …
    Viele Grüße!

    • Liebe Marina,
      anstrengend, arrogant und sehr inkonsequent finde ich Peter auch. Also auf keinen Fall der tolle Ritter auf dem schönen Pferd, der die Prinzessin retten kommt :-). Er führt Klaus-Theweleit- Zitate an und will diese merkwürdig antiquierte Ehe mit Yasira. Ich weiß auch nicht, was Bran mi ihm will, eigentlich sollte sie ihn zum Teufel jagen.
      Offene Enden sind immer toll. Da lässt sich schön über den Fortgang fantasieren.
      Viele Grüße und einen schönen Restsonntag, Claudia

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