Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch
Da sitzt eine Mutter auf dem Boden vor dem Bett ihres Sohnes, seinen Kopf in ihren Schoß gebettet. Sie hat unruhig geschlafen, hat wohl schon geahnt, dass er in dieser Nacht sterben wird. So ist sie früh aufgestanden, noch im Dunkeln, um nach ihm zu schauen und hat ihn leblos vor seinem Bett gefunden. Er ist nicht einfach eingeschlafen, friedlich, wie man so sagt, sondern hat sich vor das Bett gesetzt, in der Hoffnung wohl, dass ihm dort sitzend das Atmen leichter falle. Die Mutter hat sich neben ihn gesetzt und wartet auf den Sonnenaufgang, erst dann will sie den Arzt rufen. Es ist sicherlich immer eine ungeheuerliche Situation, wenn ein Kind vor den Eltern stirbt. Auch in diesem Fall ist das so, auch wenn der Sohn erwachsen ist und die Mutter ihn seit einem Jahr pflegt. Aber aus einem ganz anderen Grund, als man erwartet. Denn nun, nach seinem Tod, kann die Mutter ihm endlich das alles erzählen, was sie ihm immer verschwiegen hat, kann endlich ihr Leben erzählen, wie sie es ihm nie …