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Vanessa F. Fogel: Hertzmann´s Coffee

Fogel_2Weite Bögen spannt Vanessa F. Fogel in ihrem Roman: geografische – von Berlin über Caracas bis nach New York -, zeitliche – von den 1930er Jahren bis heute – und thematische – vom Überleben nach dem Holocaust, von Generationenkonflikten bis zu Geschwisterrivalitäten. Die Familie ist dabei die wichtige Konstante, die Familie, die das (Über-)Leben nach den Traumatisierungen garantiert, die Ort der Konflikte ist und letztendlich erzwingt, den Konflikten ins Auge zu blicken, die Familie also, die kleine Einheit, an deren Leben sich über die Generationen auch die Zeitläufte ablesen lassen.

Alles beginnt auf der Geburtstagsfeier Doras, am 1. April. Geburtstagsfeiern sind in der Familie Hertzmann im New York der 2000er Jahre immer auch Gesellschafterversammlungen, weil ja die Familienmitglieder auch Teilhaber des Unternehmens Hertzmann´s Coffee sind. Und in diesem Jahr wartet Yankele, der fünfundachtzigjährige Patron, der das operative Geschäft schon vor Jahren an seine Kinder Jasmin und Leonard abgegeben hat, mit einem wahren Paukenschlag auf. Er entbinde, so verkündet er, Jasmin und Leonard von der Geschäftsführertätigkeit und betraue Eliot mit dieser Aufgabe. Der Aufschrei der beiden Geschwister ist groß, ausgerechnet Eliot, das schwarze Schaf der Familie. Was habe Eliot bisher schon erreicht, außer, dass er auf der Suche nach sich selbst durch Europa gereist sei, habe er nichts geschafft, mal von den Coffeeshops in Amsterdam abgesehen – und es ist nicht zu erfahren, ob Yankele sich über das besondere Sortiment der niederländischen Coffeeshops im Klaren ist. In dem entstehenden Tumult landet ein Stuhl so unglücklich auf dem Arm Yankeles, dass der Geburtstag im Krankenhaus endet.

In der Nacht kann er nicht schlafen, der Streit mit seinen Kindern belastet ihn. Er weiß, dass er nachholen muss, was Dora und er ein Leben lang verpasst haben, weil sie sich nach dem Krieg geschworen haben, niemanden von ihren Erlebnissen als Juden im Deutschland der 1940er Jahre zu erzählen. Sie wollten alles richtig machen, nicht ihre Kinder mit den Erinnerungen belasten, sondern als ganz „normale“ Familie leben. Und nun erkennt er, dass ihre Kinder, die von diesen traumatischen Erlebnissen nicht wissen, nicht mehr verstehen können, was den Eltern so wichtig ist. Aber Dora und er haben sich versprochen, mit keiner Person über den Holocaust zu sprechen, und es fällt ihm schwer, dieses Versprechen zu brechen.

Ich sagte zuerst nichts, denn ich wollte das Versprechen, das wir einander gegeben hatten, nicht brechen. So heilig wie ein Ehegelübde war auch das Versprechen, die Vergangenheit nicht mehr zu erwähnen, zu atmen, zu leben. Wir wollten keine Opfer mehr sein. (S. 241)

Aber Yankele hat etwas gehört von der neuen Technik, der Begriff „YouTube“ ist gefallen, offensichtlich ein Fernsehkanal, bei dem ein eigenes Programm eingespielt werden kann. Und so marschiert er am nächsten Tag in einen Elektronikladen, erwirbt eine Kamera und erzählt nachts in seinem Arbeitszimmer in das Kameraauge hinein die Geschichte der Familie Hertzmann. Damit, so sein Kalkül, verstößt er nicht gegen die Abmachung mit Dora.

Während Yankele in New York die Nächte vor der Kamera verbringt, grämt Marc, einer seiner Enkel, der in Berlin lebt, sich durch schreckliche Wochen, denn seine Eltern haben die sommerliche Reise zu den Großeltern abgesagt. Darauf aber hat Marc sich so gefreut, denn neben dem U-Bahn-Fahren liebt er es zu puzzlen und sein großer Traum ist es, an einem der amerikanischen Wettkämpfe teilzunehmen – nach einem Sieg würden seine Eltern ihn endlich anerkennen.

Und in Caracas steht José-Rafael zur selben Zeit am Bett seiner sterbenden Mutter. Die Mutter isst nicht, sie spricht nicht, wird immer weniger, aber sie kann nicht vom Leben lassen. Der Arzt meint, es gebe sicher noch etwas, das die Mutter zu Ende bringen müsse, vorher würde sie nicht sterben können.

Drei Erzählstimmen, drei Orte, drei Geschichten aus einer Familie, in der jede Generation auch mit den Geschwistern hadert: Yankele, der meint, seine ganze Familie in den Konzentrationslagern der Lager verloren zu haben, bis er, ein paar Jahre nach dem Krieg, eine seiner Schwestern wiederfindet. Sie, die ein Kind war, als die Familie auseinandergerissen wurde, erkennt ihren Bruder, der damals ein Jugendlicher gewesen ist, nicht wieder – oder kann ihn nicht wiedererkennen, weil die Erinnerungen zu schwer wiegen. José-Rafael hat als kleines Kind seinen Bruder verloren, er wurde entführt und ermordet. Und Marc kämpft den pubertären Kampf um Anerkennung und Zuneigung der Eltern, die immer nur an ihm herumnörgeln, weil er nicht genug für die Schule arbeite.

Vanessa F. Fogel erzählt die Familiengeschichte mit Licht – aber auch mit Schatten. In Erinnerung bleibt Yankele, der sich des Nachts darüber freut, dass sein Körper einen Schatten an die Wand wirft, denn das ist für ihn das untrügliche Zeichen zu leben. In Erinnerung bleibt, wie Yankele und Dora zum Ende des Krieges beginnen, mit Kaffee zu handeln, wie sie sich Wissen über Kaffee aneignen, selbst ausprobieren, wie Bohnen geröstet werden müssen, damit sie einen guten Kaffee ergeben. In Erinnerung bleibt Marc mit seiner Puzzlelust. Immer trägt er ein Puzzleteil in der Hosentasche, das gibt ihm Sicherheit und erklärt ihm ein Stück auch, wie die Welt funktioniert, letztendlich nämlich passen ja doch immer alle Teile zueinander. In Erinnerung bleibt vor allem auch der Konflikt der den Roman trägt nämlich die Frage danach, welche Bedeutung der Vergangenheit eingeräumt wird, nicht irgendeiner Vergangenheit, sondern der Erinnerung an die Erlebnisse während des Holocaust: Soll sie lebendigen Anteil haben, den Kindern erzählt werden, als Familienmythos aufrechterhalten werden oder führt gerade dieses Erzählen, dieses Erinnern dazu, wieder in die Rolle des Hilflosen, des Ohnmächtigen, des Opfers gedrängt zu werden, dazu also, diese Rolle so auch den eigenen Kindern weiterzugeben, ja, sie ihnen gleichsam zu vererben.

Sind die Figuren der drei Erzählstimmen noch komplex gezeichnet, sind die Nebenfiguren, vor allem Yankeles Kinder, mehr Klischees als lebendige Figuren. Da ist ja nicht nur der Coffeeshops betreibende Eliot, sondern auch Jasmin, die Tochter, die wohl eine Reihe Kleinsthunde besitzt, so klein sind sie, dass sie sie alle gleichzeitig auf dem Arm tragen kann. Das lässt sich vielleicht als New Yorker Chic ansehen oder auch als Kritik daran. Dass Jasmin die Hunde aber als Babys mit den „zuckersüßen Hundeschnäuzchen“ bezeichnet und ihnen die wundervollen Namen Fiffi, Rexi und Lalli gegeben hat, ist schon hart an der Grenze. Und die Ehe zwischen Yankele und Dora, so sehr auch „alten“ Ehen ganz viel Gemeinsamkeit und Harmonie zu wünschen ist, ist von einem ebensolchen Zuckerguss überzogen, dass er dem Leser manchmal nicht gut bekommt. Und schon fängt er an, darüber nachzugrübeln, ob Yankele nicht ein reichlich naiver Mensch ist und ob seine Karriere zum Kaffeeimporteur ihm überhaupt zugetraut werden kann. Und ist die sich abzeichnende Übernahmeschlacht überhaupt denkbar, immerhin sollte Yankele sich mit den kaufmännisch-rechtlichen Gepflogenheiten zum Erhalt seines Unternehmens auskennen, schließlich hat er ein Unternehmen in den USA gegründet und zum Erfolg geführt. Dass zum Schluss Marc die Geschichte rettet und sich so seine Lebensweisheit, dass schließlich doch jedes Puzzleteil an seinem Platz einrastet, bewahrheitet, ist dann auch nicht mehr wirklich überraschend. Dies alles ist schade angesichts des Potenzials, das in der Geschichte liegt.

Vanessa F. Fogel (2014): Hertzmann´ s Coffee, Frankfurt am Main, weissbooks GmbH

Eine weitere Besprechungen findet Ihr hier.

4 Kommentare

  1. Liebe Claudia,
    danke für Deine wunderbare Besprechung. Dieses mal aber bin ich leider gar nicht froh, dass Du mir ein Buch ‚ersparst‘, denn ich war recht gespannt auf diesen Titel. Das Thema ist für mich ein ganz wichtiges, auch angesichts dessen, dass die letzten Überlebenden, die man noch befragen könnte bald nicht mehr da sein werden.

    Immerhin, Du schreibst:

    „In Erinnerung bleibt vor allem auch der Konflikt der den Roman trägt nämlich die Frage danach, welche Bedeutung der Vergangenheit eingeräumt wird, nicht irgendeiner Vergangenheit, sondern der Erinnerung an die Erlebnisse während des Holocaust: Soll sie lebendigen Anteil haben, den Kindern erzählt werden, als Familienmythos aufrechterhalten werden oder führt gerade dieses Erzählen, dieses Erinnern dazu, wieder in die Rolle des Hilflosen, des Ohnmächtigen, des Opfers gedrängt zu werden, dazu also, diese Rolle so auch den eigenen Kindern weiterzugeben, ja, sie ihnen gleichsam zu vererben.“

    Um so mehr bedauere ich es, dass das Buch diese Frage offensichtlich nicht wirklich überzeugend literarisch umsetzt. Wobei ich übrigens überhaupt nicht glaube, dass man diese Frage endgültig beantworten kann oder gar muss. Aber das Nachdenken darüber, über die nicht endenden Auswirkungen des Holocaust, das ist wichtig.

    Auf jeden Fall hast Du Recht, das Thema birgt ein riesiges soziologisches und auch literarisches Potenzial.Schade, dass es hier nicht ausgeschöpft wurde. Andererseitsi: das ist ja auch was vom Alleeschwierigsten. So gesehen hat Vanessa F.Vogel es immerhin versucht, und allein das ist schon viel wert.

    Liebe Grüsse
    Kai

    • Lieber Kai,
      ich habe mich beim Klappentext von Fogels Roman an meine Cyrulnik-Lektüre aus dem letzten Jahr erinnert. Cyrulnik, ein jüdisch-französischer Junge, hat den Holocaust überlebt, weil ganz viele Menschen ihm geholfen haben, ihn immer wieder versteckten und so über die letzten Kriegsjahre retteten. Und nach dem Krieg, so beschreibt er so eindrücklich, habe niemand gesprochen über seine Erlebnisse: Die Franzosen wollten es nicht hören, waren selbst noch viel zu erschüttert über das, was sie unterstützt und wozu sie beigetragen haben, die Überlebenden haben kaum Worte für ihr Leiden gefunden und wenn sie etwas erzählten, dann stießen sie nur auf ungläubige Ohren. Es hat Jahre, Jahrzehnte gedauert, bis erste Filme sich mit der Thematik beschäftigt haben, erste Romane entstanden, erste Gerichtsverhandlungen Täter überführten und so auch die Überlebenden endlich anfangen konnten zu erzählen. Und irgendwie habe ich erwartet, mehr von diesen Konflikten in Fogels Roman zu finden. Statt dessen zeichnet sie recht „dünne“ Figuren und eine nicht immer ganz überzeugende Handlung.
      Aber vielleicht begibst Du Dich doch selbst auch auf die Reise nach Berlin und Caracas und New York und berichtest über Deine Eindrücke…
      Viele Grüße ins rosenmontagsgeplagte (?) Rheinland, Claudia

  2. Liebe Claudia,
    ich hoffe, es verärgert Dich nicht allzu sehr, wenn ich mich erstmal nicht auf diese Reise begebe? Aber Du bist es ja auch selber schuld, denn Dein Hinweis auf Deinen Post über das Buch von Cyrulnik hat mich natürlich sofort nach dieser Besprechung, die ich offensichtlich und eindeutig bedauerlicherweise verpasst haben muss, suchen lassen. Und nachdem ich die gelesen habe, musste ich mir dieses Buch sofort bestellen. Ist natürlich ein bisschen anders gelagert, aber mir scheint, es lohnt sich zu Lesen.
    Liebe Grüsse ins (karnevalsfreie???) Bergische
    Kai

    P.S.: ist zwar heute in der Tat der Höhepunkt des rheinischen Karnevals, aber wir wohnen glücklicherweise ein bisschen ab vom Schuss, sitzen also quasi im sonnigen Wohnzimmer, haben den Kamin an (et is a….kalt do drusse) und geniessen den Blick in den Garten und den Wald dahinter. Trotzdem: habe ich immerhin gefreut, heute morgen zu hören, dass die Kölner klammheimlich doch noch einen Wir sind Charlie-Wagen auf die Zugreise geschickt haben. Wo kommen wir hin, wenn wir uns von solchen Idioten unser Handeln bestimmen lassen. Nach Kopenhagen?

    • Lieber Kai,
      da freue ich mich gleich doppelt und dreifach, dass Cyrulnik zu Dir gefunden hat. Ich bin auf Buch und Autor im letzten Jahr in einer Scobel-Sendung zum Thema Resilienzforschung gestoßen, bei der einige Wissenschaftler darüber diskutierten, wie Menschen, die Traumatisches erlebt haben, gestärkt werden können. Und in diesem Zusammenhang gab es einen kleinen Film, in dem Cyrulnik vorgestellt wurde. Da musste ich dann auch das Buch lesen. Und ich kann mir gut vorstellen, dass Du es gerne lesen wirst. Jedenfalls möchte ich schrecklich gerne eine Besprechung auf Deinem Blog lesen.
      Auch im Bergischen wird Karneval gefeiert, es gibt sogar einen sonntäglichen Zug. Dass Karneval stattfindet und es auch einen Charlie-Wagen gibt, finde ich auch richtig und wichtig, es wäre so furchtbar, wenn wir uns an der Stelle rpressen lassen würden. Und ich sehe noch den sehr traurigen blau-weiß gewandeten Karnevals“soldaten“ aus Braunschweig vor mir, der gestern vor lauter Enttäuschung über den abgesagten Zug seine Tränen nicht zurückhalten konnte. Soweit soll es wirklich nicht kommen! Trotzdem ist Karneval nicht meins. Ich stamme auch aus dem äußersten Nordosten Wuppertals, bis zur Eingemeindung 1929 gehörte dieses Gebiet nach WESTFALEN! Das erklärt wohl alles :-).
      Einen schönen sonnig-wohligen Montag im Wohnzimmer wünscht Claudia

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