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Annie Ernaux: Die Scham

Ein Ereignis aus der Kindheit ist es, dass die Ich-Erzählerin in diesem schmalen Buch immer wieder umkreist. Es hat sich am 15. Juni 1952 ereignet und es hat sie zutiefst erschüttert. Es ist das Ereignis, von dem sie sagt, dass es ihr Leben in ein „vorher“ und „nachher“ gliedert, das Ereignis, das ihre Kindheit beendet und ihren Prozess des Loslösens vom Elternhaus einleitet. An diesem Tag gab es einen Streit zwischen ihren Eltern, das ganze Mittagessen lang. Und ihr Vater, der den Nörgeleien seiner Frau sonst meistens nichts entgegensetzte, wurde so wütend, dass er erst zitterte und keuchte, dann die Mutter packte, in die Vorratskammer schleifte und schrie. Als die Erzählerin, von der Mutter gerufen, hinzukam, hielt er mit der einen Hand die Mutter an Hals oder Schulter fest, mit der anderen hielt er das Beil. So beginnt die Erzählerin ihren Text mit dem Satz: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Es sei hier das erste Mal, so berichtet die Erzählerin, dass sie dieses Kindheitsereignis notiere. Es habe ihr …