Monat: Januar 2015

Nino Haratischwili: Das achte Leben (Für Brilka)

Die Rezensenten im Feuilleton und die Besprechungen auf den Blogs haben – zumeist – eines gemeinsam: Sie übertreffen sich fast gegenseitig beim euphorischen Lob über Haratischwilis Roman. Dabei sehen sie Positives auf allen Ebenen, die einen Roman ausmachen: die spannende Handlung, die über 100 Jahre reicht und uns dabei die Fährnisse nahebringt, die die Mitglieder der Familie Jaschi während des 20. Jahrhunderts in Georgien – und damit in einem kommunistischen, vom Geheimdienst eisern unterjochten Land – erleiden; die eindringliche, bunte und mitreißende Sprache, umso überzeugender, als dass Haratischwili keine Muttersprachlerin ist; die chronologisch-linear erzählten Geschichten der sechs Generationen bzw. der sieben Leben, zum Teil sich zeitlich verschränkend und immer im Kontext der geschichtlichen Ereignisse, die manchmal mehr, manchmal weniger direkten Einfluss auf die handelnden Personen haben. Nino Haratischwili entfaltet tatsächlich ein weites Panorama: Sie entführt uns nicht nur in ganz verschiedene geografische Bereiche, nach Tbilissi in Georgien, nach Petrograd/Leningrad, nach Moskau, Prag, London, Berlin und Wien, sondern sie schickt uns auch ins 20. Jahrhundert zurück, gleich Jahrhundertwende, als in Georgien Anastasia, genannt Stasia, geboren wird, …

Heike Geißler: Saisonarbeit

Es gibt wenig Literatur darüber, wie es so abläuft in unseren Produktionshallen, Büros und Eventagenturen. Romane, die sich mit der Welt der Arbeit und ihrer Auswirkungen auf die Menschen beschäftigen, Romane, die sich damit auseinandersetzen, wie weit das Primat der Wirtschaft in alle gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen ist, sind kaum zu finden. Auch in den neuesten Verlagskatalogen drängeln sich Entwicklungsromane und die üblichen Geschichten zu Liebe, Lust und Leidenschaft und ihren dramatischen Seiten, flankiert von den Geschichten, die uns in die Vergangenheit entführen. Kaum ein deutscher Roman setzt sich dagegen mit ganz aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen auseinander. So muss der interessierte Leser also zu Fachpublikationen greifen oder ist froh, wenn es wenigstens mal einen Essay, eine Reportage zum Thema gibt. Und einen Essay hat nun Heike Geißler geschrieben über ihre Zeit als Weihnachtssaisonkraft im Leipziger Lager von Amazon – und gleich noch eine Auseinandersetzung über die wirklich alle Energie aussaugende prekäre Arbeit. Auch wer schon einmal an einer Kasse im Supermarkt, an einer Maschine in der Produktion oder an der nach Prinzipien der Arbeitsteilung bis in kleinste …

Joshua Ferris: Mein fremdes Leben

Nur auf den ersten Blick hat es Paul O´Rourke, Zahnarzt in Manhattan, mit einem Diebstahl seiner Identität im Internet zu tun, wie es Titel, Cover, Klappentext und Verlagsinformationen erwarten lassen. Wer nun eine spannende Geschichte über das Katz- und Mausspiel im Internet, wer gar kriminologische Recherchen und Verfolgungen erwartet, wer sich ein bisschen erschrecken möchte über die gespenstischen Möglichkeiten des Datenmissbrauchs im Internet, wer gar eine kritische Auseinandersetzung mit den Wirkungen sozialer Medien auf die reale Persönlichkeit, und das in Verbindung mit dem Doppelgängermotiv, erwartet: der wird enttäuscht. Sicher gibt es da einen jemand, der nicht nur eine Website der Praxis ins Netz gestellt hat, sondern im Laufe der folgenden Tage und Wochen auch in immer mehr sozialen Netzwerken unter dem gekaperten Namen sehr präsent ist. Aber da ist eben kein Möchtegern-Doppelgänger am Werk, der sich für den realen Zahnarzt ausgeben will, um sich in seinem realen Leben breitzumachen – gute Vermögensverhältnisse inklusive, leider keine Frau, keine Kinder. Vielmehr ist der erste und direkte Ansprechpartner der Aktionen Paul selbst, denn er wird aus dem virtuellen …

Katja Petrowskaja: Vielleicht Esther

Die „Katze Erinnerung“ so sinniert Gesine Cresspahl sei „unabhängig, unbestechlich, ungehorsam. Und doch ein wohltuender Gesell, wenn sie sich zeigt, selbst wenn sie sich unerreichbar hält.“ (Uwe Johnson: Jahrestage, 2. Februar 1968) In Uwe Johnsons „Jahrestage“ erinnert Gesine ihre Familiengeschichte, spricht sie auf Band, um sie für die Tochter Marie zu erhalten für den Fall, dass ihr etwas passiert. Sie rekonstruiert die Vergangenheit bis in die Jugendtage ihrer Eltern und versucht so für Marie die Wurzeln sichtbar zu machen, die ihr sonst in New York, weit weg von der mecklenburgischen Heimat der Mutter und der Großeltern, verloren gingen. Auch Katja Petrowskaja begibt sich auf Spurensuche, denn ihre Familiengeschichten sind verloren gegangen im Laufe des stürmischen 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen und wechselnden Herrschaftssystemen, mit Wanderungen, Vertreibungen, mit der Vernichtung durch den Holocaust. Sie ist in Kiew aufgewachsen glücklich, fröhlich und geliebt, in einer Familie mit Eltern, Geschwistern, Großmüttern, Onkeln, Tanten und Cousinen. Es gab Familienfeste an langen Tafeln, „laut“ und „überbordend“, und doch hört sie durch das muntere Lärmen mehr und mehr einen „Missklang“, fühlt …