Lesen, Reportagen, Wirtschaft

Heike Geißler: Saisonarbeit

Geißler_1Es gibt wenig Literatur darüber, wie es so abläuft in unseren Produktionshallen, Büros und Eventagenturen. Romane, die sich mit der Welt der Arbeit und ihrer Auswirkungen auf die Menschen beschäftigen, Romane, die sich damit auseinandersetzen, wie weit das Primat der Wirtschaft in alle gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen ist, sind kaum zu finden. Auch in den neuesten Verlagskatalogen drängeln sich Entwicklungsromane und die üblichen Geschichten zu Liebe, Lust und Leidenschaft und ihren dramatischen Seiten, flankiert von den Geschichten, die uns in die Vergangenheit entführen. Kaum ein deutscher Roman setzt sich dagegen mit ganz aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen auseinander.

So muss der interessierte Leser also zu Fachpublikationen greifen oder ist froh, wenn es wenigstens mal einen Essay, eine Reportage zum Thema gibt. Und einen Essay hat nun Heike Geißler geschrieben über ihre Zeit als Weihnachtssaisonkraft im Leipziger Lager von Amazon – und gleich noch eine Auseinandersetzung über die wirklich alle Energie aussaugende prekäre Arbeit. Auch wer schon einmal an einer Kasse im Supermarkt, an einer Maschine in der Produktion oder an der nach Prinzipien der Arbeitsteilung bis in kleinste Schritte aufgeteilten Dateneingabe bei der Annahme eines Kreditvertrages gearbeitet hat, wird hier viele Parallelen entdecken.

Heike Geißler ist preisgekrönte Schriftstellerin und Übersetzerin und sagt zu Beginn ihrer Abhandlung ganz deutlich, dass ihre Motivation nicht gewesen sei, eine Reportage aus der Arbeitswelt schreiben zu wollen, anschaulich und farbig auf der Grundlage eigener Erlebnisse und Erfahrungen oder gar investigativ mit dem Ziel, die möglicherweise unhaltbaren Zustände beim Großkapitalisten darzustellen. Sie hat sich auf eine Stelle im Lager beworben, weil ihr Konto gerade im Minus war, so viele Aufträge als Übersetzerin gibt es nicht immer, so viele ihrer Bücher verkaufen sich nicht immer und manche ihrer Kunden zahlen auch nicht so pünktlich.

Nun, einige Zeit später, schreibt Heike Geißler doch das Buch über ihre Zeit als Saisonkraft. Und sie wählt dazu ein ganz besonderes Vorgehen, denn sie schickt uns Leser auf die Erlebnistour durch die Arbeitswelt im Lager, schickt uns zum Bewerbungsverfahren, lässt uns dort zum Test arbeiten bei der Warenannahme, beim Warenversand, begleitet uns sodann, da wir den Job bekommen haben, zur ersten Schulung, die unentgeltlich stattfindet und die uns schon einmal in die Amazon-Geschäftsphilosophie einführt:

(Robert) sagt: Wir bei Amazon denken: Jeder Tag ist ein erster Tag. Das müsst ihr euch merken. Das ist jetzt eine gute Gelegenheit, sich das zu merken und einzusteigen und aufzusteigen. Noch werden Stellen vergeben, noch ist das hier ein aufstrebendes Unternehmen, aber unter uns: Jeder weiß, dass nichts ewig wachsen kann. Hier ist zwar eine Menge Potenzial, aber irgendwann wird das vielleicht anders sein. Also nutzt eure Chance. Sie beginnt jetzt, und ihr habt schon vieles richtig gemacht, indem ihr hierher gekommen seid. (S. 43)

Wir sind das Gegenüber, das Heike Geißler beobachtend und reflektierend begleitet, manchmal verreist sie auch, während wir uns mit den schweren Kisten plagen, manchmal sitzt sie mit einer Freundin im Café, wenn wir unsere schmutzigen und zerschundenen Hände betrachten, uns müde auf den Heimweg machen, zu Hause noch gleich am Küchentisch einschlafen aus Erschöpfung.
Nicht Heike Geißler läuft das Treppenhaus im Banana Tower hinauf, liest die Aufforderung „Handlauf benutzen!“ und benutzt ihn extra nicht, nein, wir sind es, die dort gehen. Nicht Heike Geißler ärgert sich darüber, dass die Kollegen auf der Palette neben ihrem Arbeitsplatz so viele Produkte stapeln, bis der Turm umzufallen droht, weil sie keine Lust haben, Produkte zu einem weiter entfernt liegenden Platz zu bringen, sondern wir. Nicht Heike Geißler friert immer, weil sich ein Tor nicht richtig schließen lässt, sondern wir Leser landen ein paar Tage später mit einer Erkältung und Fieber im Bett. Wir sind es, die Werkzeugkoffer, die so schwer sind, dass wir sie kaum tragen können, ins System einbuchen, Aquarien und Leuchtgloben, Wohltätigkeitstassen, Plüschtiere, Stoffpuppen, Vampirromane.

Sie buchen die anderen Tassen ein und fragen sich, wer kauft diese Tassen, wer kauft all die anderen Dinge. Inmitten der für den Verkauf vorzubereitenden Produkte werden Sie nicht gierig auf Dinge, sondern immun dagegen. Sie sehen das Lächerliche eines reflexhaften Konsums dermaßen deutlich vor sich (…). (S. 117)

Heike Geißlers Essay ist nicht hauptsächlich eine Streitschrift gegen die Arbeit im Lager von Amazon. Es ist auch eine Auseinandersetzung damit, was – angelernte – Arbeit jedweder Art, und das trifft zum großen Teil sicherlich auch auf so manche Bürotätigkeit zu, mit Menschen macht: Sie werden unfreundlich zueinander, gehen ungeduldig miteinander um, interessieren sich nur noch für den eigenen Vorteil, auch wenn sie anderen damit schaden. Wir, die wir dort ja arbeiten, werden auch missmutig, warten nicht mehr auf Kollegen, schlingen das Mittagessen hinunter, nehmen Fehler achselzuckend in Kauf, Hauptsache, es gibt keine Komplikationen.

Heike Geißler stiftet dazu an, darüber nachzudenken, ob es bei dieser Art von Arbeit nicht sogar um Leben und Tod gehe. Zwar erleiden – natürlich – nicht alle Arbeitnehmer sofort den physischen Tod, aber diese Arbeit, die so sehr den Körper fordert und so wenig den Kopf und die eine so unglaubliche und unsagbare Müdigkeit erzeugt, bringt über kurz oder lang das „Hirn zum Stillstand“, saugt alle Ideen, alle Energie aus den Beschäftigten, reduziert sie darauf, nur noch zu funktionieren. Sie verkaufen ihre Lebenszeit für € 6,95 die Stunde an das Unternehmen, zum Teil geschickt von der Agentur für Arbeit. Hier gibt es keine Solidarität mehr zwischen den Arbeitern, hier setzen sich Betroffene nicht zusammen und klären mit dem Arbeitgeber, wie die Situation sich verbessern lässt, die Gesetze zur Mitbestimmung werden zwar im Buchsortiment verkauft, gelebt werden sie nicht. Und so zitiert Geißler Byung-Chul Han, der geschrieben hat: „Aus erschöpften, depressiven, vereinzelten Individuen lässt sich keine Revolutionsmasse formen.“ (S. 195)

Während die Lagerarbeiter ihr Soll beim Einbuchen der neuen Ware zu erreichen versuchen, am Ende der Schicht gibt es ein Feedback, und da bekommen sie genau erklärt, bei welchen Artikeln sie über oder unter dem Leistungsniveau der Schicht lagen, wird Heike Geißler in der Leipziger Innenstadt zu einer Lesung eingeladen. Vorgestellt wird das Buch „Endlich wieder Montag! Die neue Lust an der Leistung“. Und noch ein anderer Titel ist Heike Geißler besonders in Erinnerung „Das Frustjobkillerbuch. Warum es egal ist, für wen Sie arbeiten.“ Beide Titel machen den Lesern, so Geißler, deutlich, dass es allein auf den Einzelnen ankomme, auf seine Einstellung zur Arbeit. Und die lasse sich leicht verbessern, wenn er einfach mal den Ideen der positiven Gedanken folge. Der Kontrast zu der beschriebenen Arbeit, zum Umgang der Mitarbeiter miteinander und zu den Folgen der Arbeit für die Menschen könnte kaum größer sein.

Und zum Ende ihrer Zeit bei Amazon wird Heike Geißler gebeten, die Schicht zu wechseln und so lernt sie die Kollegen der Turboschicht kennen. Die sind ganz besonders schnell bei ihrer Arbeit, sind Vorbild für alle anderen, denn sie buchen ganz besonders viele Waren ein. Und das funktioniert so: Die Gabelstaplerfahrer bedienen die Mitarbeiter dieser Schicht mit den Paletten, auf denen die Produkte leicht zu zählen sind. Die werden dann, ohne weitere Kontrolle, ob die Waren in Ordnung sind, ganz schnell eingebucht. Für die anderen Schichten bleiben dann die Paletten mit den vielen unterschiedlichen Waren, die alle einzeln in die Hand genommen werden müssen, um sie zu scannen: So lassen sich Zielvorgaben natürlich leicht übertreffen.

Es ist zu wünschen, dass es weitere Bücher gibt wie dieses von Heike Geißler, die sich mit dem Arbeitsleben beschäftigen oder die sich damit auseinandersetzen, was die Ideen der Messbarkeit, der Effizienz, des ständigen Ausgleichs zwischen Soll-und-Haben aus den Menschen macht, wie sie ins Leben, Denken und Fühlen eindringen und dort ihren Schaden anrichten.

Heike Geißler (2014): Saisonarbeit, Leipzig, Spector Books

4 Kommentare

  1. Deinen Worten über Lücken im Verlagsangebot stimme ich zu. Es geht ja noch weiter: Man fragt sich oft: Was arbeiten die Hauptfiguren eigentlich? Und wenn man es erfährt, dann sind es Journalisten, Marketingleute oder Beamte, was auf mich seltsam fantasielos wirkt. Oder es wird gleich klassenkämpferisch.
    K. Wecker veröffentlichte 1981 „Es sind nicht immer die Lauten stark“. Das ist das einzige, was mir zum Thema Arbeitswelt einfällt.

    • Du hast Recht, nicht einmal der Beruf und die Berufswelt spielen bei vielen Protagonisten der jüngsten Romane eine Rolle. Ich habe da ja das ganz böse Vorurteil, dass die Schriftsteller – zumindest die jüngeren und die mit einer westdeutschen Sozialisation – halt selbst noch in keiner Produktionshalle gestanden und in keinem Büro gesessen haben und deswegen auch gar nicht wissen, was da so los ist und welche Wirkungen der tägliche Lauf im Arbeitshamsterrad so hat. Es soll ja auch nicht nur Literatur aus der Welt der Arbeit geben, das würde ja bedeuten, dass die Wirtschaftswelt auch komplett in die Literatur eingewandert wäre, aber der eine oder andere Roman mit Bezug zur Arbeitswelt über die Redaktionsstube, das Lehrer- oder Arztzimmer hinaus, das wäre doch was.
      Viele Grüße, Claudia

  2. Liebe Claudia,
    mir fällt da noch der Büroroman von Walther E. Richartz ein http://www.diogenes.de/leser/katalog/nach_autoren/a-z/r/9783257205749/buch und natürlich Post Office zw. der Man mit der Ledertasche vom Buk http://www.kiwi-verlag.de/buch/mann-mit-der-ledertasche/978-3-462-03430-1/ . Sonst iweiss ich da auch nix.
    Analog zum Geissler-Buch vielleicht noch die ersten Wallraff-Bücher, wenn auch mit einem etwas anderen Ansatz. Aber das sind ja sozusagen unsachliche Sachbücher.
    Deine Besprechung hat mir gut gefallen, das Buch werde ich mir wohl demnächst besorgen. Diese Art der Arbeitswelt, genauer, diese prekäre Arbeitswelt und was sie mit den, ich sag mal, Geschädigten, macht, ist ein viel zu selten ernsthaft diskutiertes Thema. Komisch eigentlich, denn es ist ja abzusehen, dass mit der Zeit immer mehr Menschen damit konfrontiert sein werden. Vielleicht, weil man es nicht wissen will, dass es ganz schnell geht und man ist auch dabei?
    Liebe Grüsse
    Kai

    • Lieber Kai,
      der „Büroroman“ ist ja interessant, den kannte ich gar nicht. Mir fällt noch Lenz` „Fundbüro“ und natürlich sein „Mann im Strom“ ein. Ein paar Romane gibt es schon, die die Arbeit thematisieren, aber dann sind es auch gleich Romane, die nur auf die Arbeit schauen. Es finden sich nur ganz selten komplexe Figuren, die auch einen Beruf haben und insofern noch mehr Dramatik – oder auch Halt – in ihrem Leben vorweisen können, als den Konflikt, den sie gerade im Roman durchleiden. In diesem Sinne ist Geißlers Text eine schöne Ausnahme, denn sie hat – fast schon literarisch – die Arbeitswochen und ihre Wirkungen beschrieben, manchmal (selbst-)ironisch, manchmal auch bitterböse. Und die zwei Titel, die ich in meine Besprechung übernommen habe, die gibt es wirklich. (Ich habe sie leider bei amazon gesucht und sehe sie nun dankenswerterweise ständig, wenn ich meine Facebook-Seite besuche :-).) Und dort arbeiten ja viele Menschen, die sich gar nicht anders entscheiden können, weil sie von der Arbeitsagentur – zum Teil mit ganz fantastischen Anreisewegen – geschickt wurden, zum Teil, weil sie gar keine andere Mögichkeit zur Arbeit haben, wenn sie nicht auf Hartz IV zurückfallen wollen. Und das alles für diesen Hungerlohn. Und Du hast Recht: das geht manchmal ganz schnell, dass man da landet.
      Einen wunderschönen Sonntagabend, Claudia

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.