Jahr: 2022

Hanna Bervoets: Dieser Beitrag wurde entfernt

Was passiert eigentlich, wenn wir bei Instagram und Co einen Beitrag melden? Weil er schockierende Bilder oder Handlungen zeigt, Krieg, Gewalt gegen Menschen und Tiere, Pornografie, Selbsttötung. Oder Verschwörungen thematisiert und anderen Unfug verbreitet. Dann landet der Beitrag bei sogenannten Content-Moderatorinnen und Moderatoren und wird nach Regeln der Plattform geprüft. In die Arbeitswelt dieser Content-Moderatorinnen treten wir in Hanna Bervoets Roman ein und erleben nicht nur die rigiden Arbeitsbedingungen, unter denen die Moderatoren und Moderatorinnen ihren Job erledigen müssen, sondern eben auch das, was der Job mit ihnen macht. Weil es ja eine Wirkung auf die Menschen haben muss, wenn sie den ganzen Tag konfrontiert werden mit den Grässlichkeiten dieser Welt. Kayleigh, die Ich-Erzählerin, nimmt den Job bei Hexa an, einem Subunternehmen einer der großen Plattformen, deren Namen, das schreibt der Arbeitsvertrag vor, niemand nach außen nennen darf. Sie ist schlechte Arbeitsbedingungen gewöhnt, denn vorher hat sie sich in einem Callcenter von unzufriedenen Kundinnen anbrüllen lassen müssen. Da kommen ihr die Bedingungen beim Überprüfen des Contents fast paradiesisch vor. Und außerdem muss sie Schulden zurückzahlen …

Deesha Philyaw: Church Ladies

Wer sind sie, diese Church Ladies? Frömmelnde Betschwestern, deren Lebensinhalt sich in den Ritualen der Gemeinde erschöpft, die aber sonst an den Anforderungen des alltäglichen Lebens scheitern? Wahrscheinlich ließe sich mit solchen Charakteren nicht gerade Furore machen und der Verlag könnte kaum über den „sensationellen Erzählband“ frohlocken. Jedenfalls klingt „Church Ladies“ schon einmal wesentlich interessanter und spannender als eine mögliche deutsche Übersetzung in Kirchendamen oder Kirchgeherinnen. Und noch spannender klingt der amerikanische Originaltitel: „The secret lives of church Ladies.“ Auch wenn die Übersetzung ins Deutsche eine gewisse Konnotation mit sich bringen würde, so dreht sich, so unterschiedlich die einzelnen Erzählungen auch sind, durchaus alles um die Sexualität. Und die aber muss ja, mit Blick auf die vor allem lustfeindlichen Werte der Kirche, im Geheimen stattfinden. Gleich in der ersten Geschichte landen wir Leserinnen und Leser in einem Hotel. Dort treffen sich die Ich-Erzählerin Caroletta und Eula schon seit ein paar Jahren regelmäßig und verbringen die Silversternacht zusammen. Sie bringen selbstgemachtes Essen mit und trinken die eine und die andere Flasche Sekt. Und sie landen regelmäßig …

Yannic Han Biao Federer: Tao

Es sind gleich zwei Verluste, die Tobi belasten. Da hat einmal gerade Miriam mit ihm Schluss gemacht und er muss sich eine neue Bleibe suchen. Es wird ein Einzimmer-Apartment in Köln-Kalk, der Eingang liegt zwischen dm und einem Pizza- und Döner-Imbiss, hinter dem Haus ein Parkplatz vor dem Aldi-Markt, gegenüber dem Haus die Fassade eines alten Kaufhofs, in den gerade ein Kaufland einzieht. Das Zimmer riecht nach Kunststoff und die Küchenmöbel haben auch schon bessere Tage gesehen, aber der Hausverwalter überlässt sie ihm, einfach so. Es scheint, als spiegele sich Tobis innere Welt in der ungemütlichen äußeren. Warum Miriam Schluss gemacht hat, das weiß er nicht genau. Sie kennen sich seit Schultagen. Aber damals war sie mit Markus zusammen. Der hat ihn immer „Schlitzi“ gerufen, weil Tobis Vater Chinese ist. Und einmal hat er ihn auch übel verprügelt im Keller der Schule, weil es das Gerücht gab, Tobi habe mit Miriam geschlafen. Tobi und Miriam haben sich später erst in Freiburg wiedergetroffen und sind dann zusammen nach Köln gezogen. Miriam ist die einzige, die ihn …

Natasha Brown: Zusammenkunft

Natasha Browns Ich-Erzählerin könnte die Kollegin von Carole sein, einer der Figuren aus Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ sein: eine junge schwarze Frau, die sich durch Bildung und gute Leistungen eine Karriere im Finanzsektor erarbeitet hat, ein Einkommen bezieht, das eine schöne Wohnung in einem der georgianischen Townhouses in London ermöglicht, die eine soziale Stellung erreicht hat, die ihr einen Freund beschert aus einer der ganz alten englischen Familien, einer mit Standesbewusstsein, Großgrundbesitz und so viel Geld, dass die Familienmitglieder von den Zinsen leben können. Die biographischen Daten vom Aufstieg, von dem zwar anstrengenden, aber doch gelingenden Weg in die begüterte Mittelschicht, lassen eine Heldinnengeschichte vermuten. Aber die ersten Sätze, die ersten Vignetten, ätzende Momentaufnahmen einzelner Situationen, machen mehr als deutlich, dass hier eine Erzählerin nicht stolz auf das Erreichte schaut, sondern davon erzählt, dass die Diskriminierung nie aufhöre. Eine Diskriminierung, die sie als Frau trifft und besonders als schwarze Frau. Eine Diskriminierung, die sie zum Objekt macht, nicht nur, wenn es um die dummen sexistischen Sprüche geht, die jede Frau zur Genüge kennt. …

Heinrich Steinfest: Amsterdamer Novelle

Aus Heinrich Steinfests Geschichten sind wir einige ungewöhnliche Vorfälle gewöhnt. Und auch die wunderbarsten Berufe begegnen uns immer wieder. Der Manager, der seine Berufung als Bademeister findet, der chinesische Kosmetikentwickler, der zum Küchengehilfen auf einer Alm in den Alpen wird, die Meeresbiologin, die ihre moralische Schuld durch Bügeln abzahlen möchte. So ist es auch in Steinfests neustem Werk, der Amsterdamer Novelle. Hier ist Roy Paulsen der Protagonist, ein dreimal geschiedener Toningenieur aus Köln, der nach einem Zweimonatskurs den Job als Visagist beim WDR bekam, weil der Personalabteilung die Bewerbung eines Mannes so gut gefallen hat. Paulsen also kennt schon von Berufs wegen aus mit dem Sein und dem Schein. Sein Sohn Tom ist nach Amsterdam gezogen und arbeitet als Spieleprogrammierer. Für ein Computerspiel, in dem Rembrandt durch eines seiner Bilder in die Zukunft, also in unsere Zeit, fällt, sucht Tom, durch die Amsterdamer Straßen spazierend, nach einer geeigneten Kulisse. Dabei fotografiert er Häuser, vor allem die alten Kaufmannshäuser, die auch schon zu Rembrandts Zeiten dort gestanden haben. Als er sich eines Abends seine Fotos anschaut, …

Das Lesejahr 2021 – Ein Rückblick

Im letzten Jahr habe ich nicht viel gelesen und noch weniger über meine Leseeindrücke geschrieben. Eine schwere Krankheit im nächsten Familienumfeld hat Kraft gekostet und ganz andere Prioritäten gesetzt.Trotzdem habe ich geschaut, welche Bücher aus dem letzten Jahr mir besonders gut in Erinnerung geblieben sind. Das Suchen nach ihnen und das Schreiben über sie ist also ein erster Gehversuch hin zu einer wieder aktiveren Zeit auf dem Blog. Und es sind drei Bücher auf meiner Rückblicksliste gelandet, die mir wegen ihrer Idee, wegen ihrer sprachlichen Gestaltung, wegen ihres Stils so besonders gut gefallen haben. Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etcÜber Evaristos Roman habe ich ja schon einen Blogbeitrag geschrieben. Die Idee, vielen unterschiedlichen Frauen eine Stimme zu geben, ihre Lebensgeschichten zu skizzieren, ihre Probleme, die manchmal ja auch gesellschaftliche Diskussionen widerspiegeln, und ihre Glücksmomente, das hat mir richtig gut gefallen. Evaristo erzählt vom prallen weiblichen Leben, vom Leben Schwarzer Frauen. Es sind aber alles Geschichten, in denen sich natürlich alle Frauen wiederfinden, es sind Figuren, die mal mehr mal weniger zur Identifikation einladen.Bernardine Evaristo (2021): Mädchen, …