Natasha Browns Ich-Erzählerin könnte die Kollegin von Carole sein, einer der Figuren aus Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ sein: eine junge schwarze Frau, die sich durch Bildung und gute Leistungen eine Karriere im Finanzsektor erarbeitet hat, ein Einkommen bezieht, das eine schöne Wohnung in einem der georgianischen Townhouses in London ermöglicht, die eine soziale Stellung erreicht hat, die ihr einen Freund beschert aus einer der ganz alten englischen Familien, einer mit Standesbewusstsein, Großgrundbesitz und so viel Geld, dass die Familienmitglieder von den Zinsen leben können.
Die biographischen Daten vom Aufstieg, von dem zwar anstrengenden, aber doch gelingenden Weg in die begüterte Mittelschicht, lassen eine Heldinnengeschichte vermuten. Aber die ersten Sätze, die ersten Vignetten, ätzende Momentaufnahmen einzelner Situationen, machen mehr als deutlich, dass hier eine Erzählerin nicht stolz auf das Erreichte schaut, sondern davon erzählt, dass die Diskriminierung nie aufhöre. Eine Diskriminierung, die sie als Frau trifft und besonders als schwarze Frau. Eine Diskriminierung, die sie zum Objekt macht, nicht nur, wenn es um die dummen sexistischen Sprüche geht, die jede Frau zur Genüge kennt. Die Rolle als Objekt aber, die hat sie so verinnerlicht, dass sie jede Kommunikation, jede Handlung, in die sie involviert ist, genauso so deutet.
In ihrem Job in der Bank gehört es zu ihren öffentlichkeitswirksamen Aufgaben, immer wieder Schulen zu besuchen, Unis, Frauen-Zirkel, Rekrutierungsmessen. Dort stellt sie – unter dem Logo ihrer Bank – die Konzepte zur Förderung der Vielfalt vor. Und ist dabei selber der beste Bewies, dass die Bank es ernst meint. Auch heute – zum Beginn der Erzählung – steht sie wieder vor einer Gruppe Mädchen und erzählt, wie es auch ihnen gelingen kann, zu einem der gut gelaunten diversen Gesichter in den grauen Anzügen auf den Folien zu werden. Die Rektorin der Schule ist begeistert von ihrem Vortrag, erklärt mehrfach, wie „inspirierend“ ihr Vortrag gewesen sei, welche Motivation für ihre Schülerinnen. Aber die Erzählerin, der der Geruch der Schule, der Gestank von zerkochtem Gemüse Übelkeit verursacht, empfindet sich mehr als Lügnerin denn als ehrlich Motivierende. Als die, die den Schülerinnen zwar Hoffnung macht auf einen sozialen Aufstieg, die auch erklärt, dass Arbeit und Selbstdisziplin notwendig seien, die aber eben nicht erzählt, wie hart dieser Aufstieg tatsächlich ist:
„Es ist eine Geschichte. Sie handelt von Herausforderungen. Sich am Riemen reißen. Hochgerollten Hemdsärmel. Sie handelt davon, wie man sich zwingt. Hoch. Bewältigung, Überwindung etc.“
Eigentlich kann sie stolz sein auf das Erreichte. Als Tochter jamaikanischer Eltern, aufgewachsenen in ärmlichen Verhältnissen, hat sie einen Studienplatz bekommen und das Mathematikstudium mit besten Noten abgeschlossen. Sie hat den Job in der City bekommen, das Versprechen, es finanziell und gesellschaftlich bis ganz nach oben zu schaffen. Aber sie sieht auch immer deutlicher den Preis, den sie dafür zahlt, wird vor allen Dingen die Angst nicht los, dass all ihr Streben und Leisten doch höchstens ausreichend ist, nur einen Schritt davor, alles wieder zu verlieren. Das ist anstrengend und erschöpft sie – und genau darüber spricht sie ja nicht:
„Die Antwort lautet: Anpassung. Der Druck ist immer da. Pass dich an, pass dich an… Lös dich auf im Schmelztiegel. Und dann fließ raus, gieß dich in die Form. Verbieg deine Knochen, bis sie splittern und knacken und du hineinpasst. Press dich in die Schablone.“
Natasha Brown hat den knappen Ausschnitt, in dem wir einen Blick in das Leben der Bankerin werfen können, sehr geschickt gewählt. Er umfasst nur eineinhalb Tage, aber diese Tage zeigen quasi verdichtet den äußeren Erfolg und die innere Erschöpfung der Protagonistin. Neben einer – wenn auch durch die Doppelbesetzung etwas vergifteten – Beförderung fährt sie am Freitagabend zur Familie ihres Freundes auf das Land. Dort feiern die Eltern ein rundes Hochzeitsjubiläum – und sie nimmt ganz offiziell als Freundin des Sohnes teil. Aber sie hadert mit allem und jedem, seziert mit absolut kritischem Blick alle Beziehungen, alles Erreichte, unterstellt dem gegenüber immer wieder besondere taktische Interessen.
Während also der Tag voranschreitet und die Erzählerin uns immer wieder durch kurze, aber sehr plastische und prägnante Beobachtungen an den verschiedenen Situationen ihres Alltags teilhaben lässt, nimmt sie uns in ihren Erinnerungen auch immer wieder zu Erinnerungen mit, lässt uns teilhaben an vergangenen Situationen, an ihrem Nachdenken, Einschätzen und Beurteilen. So erinnert sie sich immer wieder den Arztbesuch vom vergangenen Tag, an dem sich der Verdacht einer Krebserkrankung bestätigt hat.
Der durch die Nachbildung eines Bewusstseinsstroms stark fragmentierte Text bildet nachvollziehbar und lebendig die Gedankensprünge ab. Dabei wirken auch die Motive – die Orte und Zeichen des Erfolgs auf der einen Seite und die inneren Verwüstungen, bis hin zu ihrer schweren Erkrankung auf der anderen – ganz besonders stark.
So mitreißend die Erzählerin zunächst ihren Alltag und Stationen ihres Lebens schildert, so schockierend sie von den alten Problemen des Kolonialismus, des Rassismus und des Sexismus erzählt, der ihr in allen Bereichen ihres Lebens ständig begegnet, so kippt der Text doch spätestens bei der Erzählung ihrer Erlebnisse auf dem Landsitz der Eltern ihres Freundes.
Im Arbeitszimmer seines Vaters, in dem der alte Mief des britischen Empire eine Zuflucht zu haben scheint, referiert der Freund die Tradition und die Werte der Familie. Darauf scheint er durchaus stolz zu sein – und erkennt nicht, dass die sich daraus ergebenden Zwänge und Ansprüche möglicherweise dafür verantwortlich sind, dass er seinen Morgen mit einer Dosis Antidepressivum startet.
Genauso gefangen wie der Freund fühlt sich auch die Erzählerin. Und so werden ihre Gedanken und Überlegungen dann bei einem langen Spaziergang alleine über den Landsitz zu einem wütenden Essay über die Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten der britischen Gesellschaft. Dies wiederum bestärkt sie in ihrer Entscheidung, die Behandlung ihrer Erkrankung abzulehnen. Aus der Perspektive eines Romans mit lebendigen Figuren ist diese Entscheidung dann aber zu glatt und kaum nachvollziehbar.
Die Erzählerin sieht bei ihrer wichtigen existentiellen Entscheidung offensichtlich nur eine Option zwischen zwei extremen Polen, die vielen möglichen Lebensentwürfe dazwischen erkennt sie nicht. Das ist schade, erhält die Erzählerin doch so eine Rolle, die sie – obwohl sie über Intelligenz verfügt und die vielfältigen Möglichkeiten eines zumindest teilweise offenen Bildungssystems nutzen kann – in ein ähnlich enges Korsett von Erwartungen und Regeln zwängt, wie den Freund aus traditinosbewusster Familie. Oder trotz ihrer Möglichkeiten in der Rolle des Objektes.
In Bernardine Evaristos Roman spricht Carole nie offen über den Preis, den sie für ihre Anpassung zahlen muss. Dort ist es die Mutter Bummi, die der Entwicklung der Tochter eine kritische Facette hinzufügt. Weil Caroles Aufstieg dazu führt, dass sie sich sprachlich und kulturell voreinander entfernen
Natasha Brown (2022): Zusammenkunft, Berlin, Suhrkamp Verlag