Aus Heinrich Steinfests Geschichten sind wir einige ungewöhnliche Vorfälle gewöhnt. Und auch die wunderbarsten Berufe begegnen uns immer wieder. Der Manager, der seine Berufung als Bademeister findet, der chinesische Kosmetikentwickler, der zum Küchengehilfen auf einer Alm in den Alpen wird, die Meeresbiologin, die ihre moralische Schuld durch Bügeln abzahlen möchte. So ist es auch in Steinfests neustem Werk, der Amsterdamer Novelle. Hier ist Roy Paulsen der Protagonist, ein dreimal geschiedener Toningenieur aus Köln, der nach einem Zweimonatskurs den Job als Visagist beim WDR bekam, weil der Personalabteilung die Bewerbung eines Mannes so gut gefallen hat. Paulsen also kennt schon von Berufs wegen aus mit dem Sein und dem Schein.
Sein Sohn Tom ist nach Amsterdam gezogen und arbeitet als Spieleprogrammierer. Für ein Computerspiel, in dem Rembrandt durch eines seiner Bilder in die Zukunft, also in unsere Zeit, fällt, sucht Tom, durch die Amsterdamer Straßen spazierend, nach einer geeigneten Kulisse. Dabei fotografiert er Häuser, vor allem die alten Kaufmannshäuser, die auch schon zu Rembrandts Zeiten dort gestanden haben. Als er sich eines Abends seine Fotos anschaut, fällt ihm die frappierende Ähnlichkeit eines zufällig abgelichteten Fahrradfahrers vor einem dieser Häuser mit seinem Vater auf.
Aber: Roy war noch nie in Amsterdam. Er fährt auch nicht mehr Fahrrad – wobei sein Hinweis, er sei noch nie Fahrrad gefahren, gelogen ist. Um Schein und Sein geht es hier also auch wieder, um die Deutung von Bildern, von Fotos und Gemälden. Und so erklärt Roy das, was auf dem Foto zu sehen ist, zur „Einbildung“ und dass der Fahrradfahrer, wäre er eine Sekunde später fotografiert worden, ganz anders ausgehen hätte.
Das Foto geht ihm jedoch nicht aus dem Kopf. Es wird fast zur fixen Idee, denn Roy vergrößert es, druckt Ausschnitte aus, untersucht es immer wieder nach bisher übersehenen Zeichen. Dabei ist es weniger der Fahrradfahrer, der ihn so beschäftigt, als vielmehr das mittlere der im Hintergrund zu sehenden drei Häuser, das Roy einen merkwürdigen Schrecken vermittelt. Obwohl ja gar nichts Schreckliches zu sehen ist, außer eben dieses alte, gut renovierte Haus in dessen zweiter Etage ein Gitterbettchen vor das Fenster geschoben ist und ein kleines Kind herausschaut – oder eine ältere, aber sehr kleine und zerknitterte Person.
„Sosehr Roy Paulsen das Täuschende solcher Bilder betont hatte – Zufall, Interpretation, Wunschdenken, das Bedürfnis nach einer Sensation -, geschah des dennoch, dass ihm dieses Bild nicht mehr aus dem Kopf ging. Er schimpfte sich einen Idioten, aber dass er sich beschimpfte, nutzte eben nichts. Der Gedanke an das Foto blieb. Dazu kam der unheimliche Drang, das Merkwürdige erklären zu wollen.“
Im Sommer fährt Roy nach Amsterdam und findet auch nach ein paar Tagen und einem Wolkenbruch, der Roy jeglicher Orientierung beraubt, das auf dem Foto abgebildete Haus. Zwei Anwälte leben und arbeiten darin. Da die Haustür offen ist, geht Roy hinein. Und wird Zeuge einer Szene, die er bisher nur in Mafia-Filmen so gesehen hat.
Heinrich Steinfest nimmt uns in der Amsterdamer Novelle also wieder mit auf eine Reise ständig neuer und unerwarteter Kapriolen. Er verbindet in seinem schmalen Band eine Kriminalgeschichte mit einer Liebesgeschichte und webt darin auch die Philosophie Heideggers vom Zusammenwirken von Sein und Zeit in verschiedenen Weisen ein. Wie ist es mit Roys freien Entscheidungen? Oder ist da doch ein Schicksal im Spiel, dem er gar nicht entkommen kann? Denn das Handyfoto vom Doppelgänger in Amsterdam und seine Reise dorthin bringen sein bisheriges Leben ja ganz ordentlich durcheinander. Und das Buch Heideggers, in seiner physischen Form, wird beim Auflösen des Kriminalfalls auch noch eine Rolle spielen.
Die „Amsterdamer Novelle“ ist ein großer Lesespaß auf kurzer Strecke. Sie spielt mit der Leserin, erstaunt und erschreckt und hat doch immer wieder Humor. Und setzt zudem die große Philosophie in eine rasante Geschichte um. Natürlich spielt das denkwürdige Handyfoto am Ende noch eine wichtige Rolle.
Wer noch mehr über die Amsterdamer Novelle – und auch Äußerungen Steinfests dazu – hören möchte, der klicke hier.
Heinrich Steinfest (2021): Amsterdamer Novelle, München Piper Verlag
Danke für die Mini-Rezension. Das scheint ein lesenswerter Roman zu sein. Meine Agentin erwähnte ihn auch schon. Dann werde ich ihn mir mal ansehen, zumal ich vor vielen Jahren in Amsterdam wohnte.
Alles Gute
Klausbernd 🙂
Lieber Klausbernd,
dann bin ich gespannt, ob du auch Freude an der Lektüre haben wirst. Und vielleicht auch ein bisschen Amsterdam-Feeling wieder entdecken kannst. Obwohl ich glaube, dass – mit Ausnahme der Namen – nicht gar so viel authentisches Amsterdam in der Geschichte steckt. Aber vielleicht ist die Lesewirkung bei dir und deinen Erinnerungen eine andere.
Viele heute sonnig-frühlingshafte Grüße über den Kanal, Claudia