Autor: Claudia

Gabriele von Arnim: Liebe Enkel oder Die Kunst der Zuversicht

„Bleiben Sie zuversichtlich“ schickt Ingo Zamperoni jeden Abend seinen Nachrichten über die politischen, gesellschaftlichen und klimatischen Entwicklungen seit der Corona-Pandemie hinterher. Zuversicht erscheint hier als tröstliches Gegengewicht zu den gerade berichteten Krisen, Kriegen und anderen Katastrophen. Dass wir Zuschauenden zuversichtlich „bleiben“ sollen, setzt voraus, dass wir nicht schon längst den Mut verloren haben in dieser „Zeit der Verluste“ (Daniel Schreiber), in der wir als sicher geglaubte politische und gesellschaftliche Verhältnisse verloren geben müssen und die monatlichen Meldungen von Temperaturhöchstständen deutlich machen, welche Folgen unser Raubbau an der Natur hat. Auch Gabriele von Arnim schaut in ihrem Brief an die Enkel zunächst voller Sorgen auf die Krisen dieser Tage. Man könne verzweifeln, schreibt sie, die Hoffnung verlieren, man könne wüten. Dies sei, so räumt sie ein, ein denkbar merkwürdiger Anfang eines Briefes, in dem es doch um Mut gehen soll, um Zuversicht. Und doch sei es ja gerade wichtig, diese Bestandsaufnahme zu machen, einen umfassenden Blick zu haben auf die derzeitige Gemengelage. Zuversicht nämlich habe nichts zu tun damit, die Augen zu verschließen vor der Realität: …

Ursula Knoll: Lektionen in dunkler Materie

Der Astronaut Edward White ist voll und ganz mit seinem ersten Weltraumspaziergang beschäftigt. Er bemerkt nicht, dass sich ein ungesicherter Ersatzhandschuh langsam aus der Kiste löst und in den Weltraum auf und davon macht. Der Handschuh findet sich auf einer Umlaufbahn um die Erde ein, nimmt Geschwindigkeit auf und rast fortan mit 28.000 Stundenkilometern durch den Weltraum. Würde er auf ein Hindernis treffen, dann wäre aus dem ziemlich harmlosen Weltraumhandschuh ein fulminantes Geschoss geworden: „Der getroffene Körper wäre zerrissen, der Satellit, die Raumstation oder der Versorgungstransporter zu unkontrollierbar schwebenden Einzelteilchen zersiebt, ein paar Menschenleben ausgelöscht, ein paar weitere beschädigt, GPS-Systeme und Datenübertragung auf die Erde lahmgelegt, Illusionen verletzt, Eitelkeiten vernichtet.“ Mit ihrem Prolog legt Ursula Knoll Ton und Tempo ihres Episodenromans fest: Zwischen Himmel und Erde passieren schon mal Dinge, die so eigentlich nicht passieren sollten. Zufälle und Unfälle, die bei all unseren Maßnahmen zur Risikovermeidung dann doch ab und zu mal für großes Chaos sorgen. Und das trotz der dunklen Materie, die, mit der großen Schwerkraft, die sie ausübt, „wie ein Kitt die Strukturen …

Teresa Präauer: Kochen im falschen Jahrhundert

Wie war es doch einfach, in der ersten eigenen Wohnung für Freunde zu kochen oder gleich mit ihnen zusammen. Da wurden Spaghetti gekocht oder Bleche mit Pizzateig und Zutaten belegt. Alle saßen beengt um den Küchentisch und aßen vom zusammengewürfelten Geschirr. Alles war einfach und mal eben so vorbereitet, die Abende wurden lang und lustig. Diese Leichtigkeit ist der Protagonistin in Teresa Präauers Roman, die durchgängig als „Gastgeberin“ und ohne individuellen Namen benannt ist, völlig abhandengekommen. Die Gastgeberin wohnt nun, ungefähr 40-jährig, endlich in einer der angesagten Altbauwohnungen im richtigen Bezirk der Stadt. Sie besitzt einen schönen Esstisch aus Holz, ein dänisches Designerstück. Zum Kochen wird sie eine besondere Schürze tragen können, auch aus Dänemark, und Geschirrtücher aus Kopenhagen liegen ebenfalls bereit. Die Möblierung ist sorgsam kuratiert und besteht aus Designerstücken, die neben Flohmarktfunden stehen. Die Bühne ist also bestens vorbereitet, so denkt es sich die Gastgeberin wohl, um Gäste einzuladen: ein offenes, freundliches Haus für ihre Freunde wünscht sie sich. An diesem Abend haben die Gastgeberin und ihr Partner ein befreundetes Ehepaar eingeladen, das …

Nell Zink: Avalon

Avalon – das ist doch die Insel, auf der Morgan le Fay mit ihren Schwestern lebt und das alte, mythische Wissen bewahrt. Die Insel, auf der sie den Halbbruder Artus gesund pflegt. Eine paradiesische Welt also, in der man sich von der harten Realität erholen kann. Brans Leben ist alles andere als paradiesisch. Sie lebt in prekären Verhältnissen bei einer White-Trash-Familie, die ihre Arbeitskraft als Kind und Jugendliche ausbeutet. Avalon begegnet ihr in Form einer kapitalistischen Touristenhochburg auf Catalina Island, südlich von Los Angeles. In den drei Büchern, die ihre Mutter ihr hinterlassen hat. Und in Form eines klapprigen Autos, das den schönen Modellnamen trägt. Und es gibt auch den blitzgescheiten Peter, der sich dem ritterlichen Konzept der Minne verschrieben hat. Aber der Reihe nach. Bran, abgeleitet von Brandy, ist eine moderne Waise. Ihre Eltern haben sie sitzengelassen. Doug, ihr nicht ehelicher Stiefvater, erzählt ihr, da ist sie 16, dass ihr Vater die kleine Familie verlassen habe, als sie 11 Monate alt gewesen sei. Er sei nach Australien verschwunden, Kontakt zu seiner Tochter hat er …

Herbert Clyde Lewis: Gentleman über Bord

Es ist der 13. Seetag auf dem Frachter S.S.Arabella, der durch ruhige See auf dem Weg von Honolulu nach Panama ist. Da passiert am frühen Morgen Ungeheuerliches: Henry Preston Standish steht an seinem Lieblingsplatz an Bord, dort, wo er dem Wasser am nächsten sein kann, und beobachtet den Nachthimmel, der so langsam verblasst. Beim Beobachten des Himmels sinniert er darüber, wie schlicht hier im Pazifik der Sonnenaufgang im Vergleich zum farbenprächtigen Sonnenuntergang ist. Dabei setzt er den linken Fuß zurück und in eine Öllache. Er versucht noch das Ausrutschen mit dem rechten Fuß auszugleichen, verliert aber das Gleichgewicht und stürzt kopfüber ins Meer. Sein erster Gedanken beim Eintauchen ins Meer ist es, bloß nicht in die Nähe der Schiffsschraube zu geraten. Doch findet er sich im Sog des Schiffes wieder, gegen den er sich nicht wehren kann. So lässt er sich hierhin und dorthin ziehen, zum Teil so weit unter Wasser, dass ihm die Ohren schmerzen. Dann taucht er auf und hat nicht einmal Wasser geschluckt. Und der Schiffsschraube ist er auch nicht zu nah …

Hanna Bervoets: Dieser Beitrag wurde entfernt

Was passiert eigentlich, wenn wir bei Instagram und Co einen Beitrag melden? Weil er schockierende Bilder oder Handlungen zeigt, Krieg, Gewalt gegen Menschen und Tiere, Pornografie, Selbsttötung. Oder Verschwörungen thematisiert und anderen Unfug verbreitet. Dann landet der Beitrag bei sogenannten Content-Moderatorinnen und Moderatoren und wird nach Regeln der Plattform geprüft. In die Arbeitswelt dieser Content-Moderatorinnen treten wir in Hanna Bervoets Roman ein und erleben nicht nur die rigiden Arbeitsbedingungen, unter denen die Moderatoren und Moderatorinnen ihren Job erledigen müssen, sondern eben auch das, was der Job mit ihnen macht. Weil es ja eine Wirkung auf die Menschen haben muss, wenn sie den ganzen Tag konfrontiert werden mit den Grässlichkeiten dieser Welt. Kayleigh, die Ich-Erzählerin, nimmt den Job bei Hexa an, einem Subunternehmen einer der großen Plattformen, deren Namen, das schreibt der Arbeitsvertrag vor, niemand nach außen nennen darf. Sie ist schlechte Arbeitsbedingungen gewöhnt, denn vorher hat sie sich in einem Callcenter von unzufriedenen Kundinnen anbrüllen lassen müssen. Da kommen ihr die Bedingungen beim Überprüfen des Contents fast paradiesisch vor. Und außerdem muss sie Schulden zurückzahlen …

Deesha Philyaw: Church Ladies

Wer sind sie, diese Church Ladies? Frömmelnde Betschwestern, deren Lebensinhalt sich in den Ritualen der Gemeinde erschöpft, die aber sonst an den Anforderungen des alltäglichen Lebens scheitern? Wahrscheinlich ließe sich mit solchen Charakteren nicht gerade Furore machen und der Verlag könnte kaum über den „sensationellen Erzählband“ frohlocken. Jedenfalls klingt „Church Ladies“ schon einmal wesentlich interessanter und spannender als eine mögliche deutsche Übersetzung in Kirchendamen oder Kirchgeherinnen. Und noch spannender klingt der amerikanische Originaltitel: „The secret lives of church Ladies.“ Auch wenn die Übersetzung ins Deutsche eine gewisse Konnotation mit sich bringen würde, so dreht sich, so unterschiedlich die einzelnen Erzählungen auch sind, durchaus alles um die Sexualität. Und die aber muss ja, mit Blick auf die vor allem lustfeindlichen Werte der Kirche, im Geheimen stattfinden. Gleich in der ersten Geschichte landen wir Leserinnen und Leser in einem Hotel. Dort treffen sich die Ich-Erzählerin Caroletta und Eula schon seit ein paar Jahren regelmäßig und verbringen die Silversternacht zusammen. Sie bringen selbstgemachtes Essen mit und trinken die eine und die andere Flasche Sekt. Und sie landen regelmäßig …

Yannic Han Biao Federer: Tao

Es sind gleich zwei Verluste, die Tobi belasten. Da hat einmal gerade Miriam mit ihm Schluss gemacht und er muss sich eine neue Bleibe suchen. Es wird ein Einzimmer-Apartment in Köln-Kalk, der Eingang liegt zwischen dm und einem Pizza- und Döner-Imbiss, hinter dem Haus ein Parkplatz vor dem Aldi-Markt, gegenüber dem Haus die Fassade eines alten Kaufhofs, in den gerade ein Kaufland einzieht. Das Zimmer riecht nach Kunststoff und die Küchenmöbel haben auch schon bessere Tage gesehen, aber der Hausverwalter überlässt sie ihm, einfach so. Es scheint, als spiegele sich Tobis innere Welt in der ungemütlichen äußeren. Warum Miriam Schluss gemacht hat, das weiß er nicht genau. Sie kennen sich seit Schultagen. Aber damals war sie mit Markus zusammen. Der hat ihn immer „Schlitzi“ gerufen, weil Tobis Vater Chinese ist. Und einmal hat er ihn auch übel verprügelt im Keller der Schule, weil es das Gerücht gab, Tobi habe mit Miriam geschlafen. Tobi und Miriam haben sich später erst in Freiburg wiedergetroffen und sind dann zusammen nach Köln gezogen. Miriam ist die einzige, die ihn …

Natasha Brown: Zusammenkunft

Natasha Browns Ich-Erzählerin könnte die Kollegin von Carole sein, einer der Figuren aus Bernardine Evaristos Roman „Mädchen, Frau etc.“ sein: eine junge schwarze Frau, die sich durch Bildung und gute Leistungen eine Karriere im Finanzsektor erarbeitet hat, ein Einkommen bezieht, das eine schöne Wohnung in einem der georgianischen Townhouses in London ermöglicht, die eine soziale Stellung erreicht hat, die ihr einen Freund beschert aus einer der ganz alten englischen Familien, einer mit Standesbewusstsein, Großgrundbesitz und so viel Geld, dass die Familienmitglieder von den Zinsen leben können. Die biographischen Daten vom Aufstieg, von dem zwar anstrengenden, aber doch gelingenden Weg in die begüterte Mittelschicht, lassen eine Heldinnengeschichte vermuten. Aber die ersten Sätze, die ersten Vignetten, ätzende Momentaufnahmen einzelner Situationen, machen mehr als deutlich, dass hier eine Erzählerin nicht stolz auf das Erreichte schaut, sondern davon erzählt, dass die Diskriminierung nie aufhöre. Eine Diskriminierung, die sie als Frau trifft und besonders als schwarze Frau. Eine Diskriminierung, die sie zum Objekt macht, nicht nur, wenn es um die dummen sexistischen Sprüche geht, die jede Frau zur Genüge kennt. …

Heinrich Steinfest: Amsterdamer Novelle

Aus Heinrich Steinfests Geschichten sind wir einige ungewöhnliche Vorfälle gewöhnt. Und auch die wunderbarsten Berufe begegnen uns immer wieder. Der Manager, der seine Berufung als Bademeister findet, der chinesische Kosmetikentwickler, der zum Küchengehilfen auf einer Alm in den Alpen wird, die Meeresbiologin, die ihre moralische Schuld durch Bügeln abzahlen möchte. So ist es auch in Steinfests neustem Werk, der Amsterdamer Novelle. Hier ist Roy Paulsen der Protagonist, ein dreimal geschiedener Toningenieur aus Köln, der nach einem Zweimonatskurs den Job als Visagist beim WDR bekam, weil der Personalabteilung die Bewerbung eines Mannes so gut gefallen hat. Paulsen also kennt schon von Berufs wegen aus mit dem Sein und dem Schein. Sein Sohn Tom ist nach Amsterdam gezogen und arbeitet als Spieleprogrammierer. Für ein Computerspiel, in dem Rembrandt durch eines seiner Bilder in die Zukunft, also in unsere Zeit, fällt, sucht Tom, durch die Amsterdamer Straßen spazierend, nach einer geeigneten Kulisse. Dabei fotografiert er Häuser, vor allem die alten Kaufmannshäuser, die auch schon zu Rembrandts Zeiten dort gestanden haben. Als er sich eines Abends seine Fotos anschaut, …

Das Lesejahr 2021 – Ein Rückblick

Im letzten Jahr habe ich nicht viel gelesen und noch weniger über meine Leseeindrücke geschrieben. Eine schwere Krankheit im nächsten Familienumfeld hat Kraft gekostet und ganz andere Prioritäten gesetzt.Trotzdem habe ich geschaut, welche Bücher aus dem letzten Jahr mir besonders gut in Erinnerung geblieben sind. Das Suchen nach ihnen und das Schreiben über sie ist also ein erster Gehversuch hin zu einer wieder aktiveren Zeit auf dem Blog. Und es sind drei Bücher auf meiner Rückblicksliste gelandet, die mir wegen ihrer Idee, wegen ihrer sprachlichen Gestaltung, wegen ihres Stils so besonders gut gefallen haben. Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etcÜber Evaristos Roman habe ich ja schon einen Blogbeitrag geschrieben. Die Idee, vielen unterschiedlichen Frauen eine Stimme zu geben, ihre Lebensgeschichten zu skizzieren, ihre Probleme, die manchmal ja auch gesellschaftliche Diskussionen widerspiegeln, und ihre Glücksmomente, das hat mir richtig gut gefallen. Evaristo erzählt vom prallen weiblichen Leben, vom Leben Schwarzer Frauen. Es sind aber alles Geschichten, in denen sich natürlich alle Frauen wiederfinden, es sind Figuren, die mal mehr mal weniger zur Identifikation einladen.Bernardine Evaristo (2021): Mädchen, …

Salih Jamal: Das perfekte Grau

Sie sind gestrandet in einem heruntergekommenen Hotel an der Ostsee, haben sich dort zu einem lächerlichen Lohn verdingt als Zimmermädchen, Koch, als Kofferträger und Handwerker, als Empfangsdame: Dante, der Ich-Erzähler, Rofu, der Flüchtling aus dem Sudan, Mimi, die vor viele Jahren aus London verschwunden ist und Novelle, Anfang 20, die erst verletzlich und schüchtern wirkt und im nächsten Moment ordentlich aus der Haut fahren kann und die sich heimlich an den kleinen Fläschchen aus den Hotelbars bedient. Sie alle wohnen in der ehemaligen Scheune hinter dem Hotel der alten Schmottke. Die sitzt hinter dem Empfangstresen und starrt auf ihren Fernseher und ist so geizig, dass sie ihren Mitarbeitern nicht einmal eine gute Matratze gönnt. Schon mit den ersten Sätzen entsteht das Bild des in die Jahre gekommenen Hotels vor den Augen der Leserin, sie sieht den Rost am Heizkörper, der sich auch durch noch eine Schicht Lack nicht überpinseln lässt, sieht, wie die Gäste, die dem Hotel noch die Treue halten, auch in die Jahre gekommen sind, so wie es dem ganzen Seebad wohl ergangen …

Ling Ma: New York Ghost

Soll man in der Covid-Pandemie tatsächlich ein Buch lesen über eine Pandemie? Eine Pandemie, die zum ersten Mal in China aufgetreten ist, in Shenzhen, und die sich von dort in kurzer Zeit weltweit ausbreitet. Zu deren Schutz dieselben – manchmal hilflosen – Maßnahmen ergriffen werden, wie wir sie kennen, nämlich (am Anfang viel zu wenige) FFP 2-Masken und Latex-Handschuhe, Home-Office und Social-Distancing. Und ich kann hier schon sagen: ja, der Roman ist absolut lesenswert, weil eben nicht nur über eine Pandemie erzählt wird, sondern durch diese Extremsituation unsere Arbeit und unsere Gesellschaft, unsere Art des Lebens und unsere Werte wie unter einem Brennglas beleuchtet werden. Ling Ma hat mit diesem Debüt, das bereits 2018 im Original erschienen ist, die Pandemie als das Bild gewählt, wie in unserer globalisierten Welt alles miteinander verwoben ist.  Die Pandemie wird in ihrem Roman durch eine Pilzinfektion ausgelöst, die zu Kopfschmerzen, Müdigkeit und Fieber führt und vielen erst wie eine Erkältung erscheint. Sie tritt zum ersten Mal bei Arbeitern in Shenzhen auf, die unter den Arbeitsbedingungen der stetigen Kostensenkung Produkte …

Drei Romane der Hotlist

Die Hotlist, die Liste nominierter Romane aus unabhängigen Verlagen, lädt wieder zur Abstimmung ein. Aus 179 Einsendungen hat die Jury bereits 30 Titel ausgewählt. Und davon können die Leserinnen und Leser nun durch Abstimmung 3 Bücher auswählen, die dann in die Auswahl der letzten 10 kommen. Zur Abstimmung geht es hier entlang: In diesem Jahr sind mir 3 Romane auf die Leseliste gesprungen, die nun auch nominiert sind: Ma Lings „New York Ghost“ mit ihrer dystopischen Geschichte über das Erleben und Überleben einer Pandemie, die aus China kommt. Wobei es besonders beeindruckend ist, wie die Autorin in ihrem schon 2018 in den USA erschienenen Roman pandemische Aspekte vorwegnimmt, die wir nun auch alle kennen. Der Roman ist aber nicht nur deswegen lesenswert, sondern auch, weil er erzählt vom Fremdsein durch Migration und von Arbeitsbedingungen in einer globalisierten Welt.  Gesellschaftskritisch ist auch Patricia Melos Roman „Gestapelte Frauen“. In ihrem Notizbuch sammelt die Ich-Erzählerin, eine Juristin, die im nordbrasilianischen Acre über Morde an Frauen recherchiert, die Geschichten der Opfer. Sie zeigen, was in einer Gesellschaft passiert, in …

Neolith – Magazin für neue Literatur an der Bergischen Universität Wuppertal

In diesem Jahr und für das neue Heft #6 arbeite ich in der Redaktion mit. Und freue mich sehr darauf, weil ich ja nicht nur einen Einblick in die Redaktionsarbeit bekomme, sondern auch noch mit Gleichgesinnten über Texte sprechen, vielleicht auch debattieren, kann. Und zum Schluss gibt es sogar noch ein richtiges „Produkt“. Und vielleicht hat ja jemand von euch Lust, einen Text beizutragen. Der sollte sich in irgendeiner Form mit dem Thema „Zuflucht“ beschäftigen. Wir sind schon gespannt, welchen großen Bogen eure Zufluchten in Prosa oder Lyrik, als Essay oder auch in einer experimentellen Form spannen werden. Den Ausschreibungstext findet ihr hier: Und nun: ran an die Tasten!

Caroline Fourest: Generation Beleidigt. Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei. Über den wachsenden Einfluss Linker Identitärer. Eine Kritik

Noch nie ist es so einfach gewesen, den eigenen Fähigkeiten und Fertigkeiten nach zu leben und die eigenen Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen, wie in unserer modernen Welt. Noch nie so einfach also, eigene Vorstellungen vom Leben umzusetzen, die sich auch im Laufe der Zeit ändern dürfen, wenn wir offen bleiben für Veränderungen. Das gipfelt sogar in der – wenn auch fragwürdigen – Floskel davon, dass wir uns völlig neu erfinden können. Das ist die eine Seite der Identität, die Seite, die jeder selbst formen und gestalten können. Schwieriger ist es mit der Identität als politischem Begriff. Wenn Aspekte wie Herkunft, Geschlecht, Religion und Ethnie genutzt werden, um auf mehr oder weniger Möglichkeiten der gesellschaftlichen und politischen Teilhabe hinzuweisen, wenn sie genutzt werden, um über Chancengerechtigkeit, über Diskriminierungen und patriarchale Strukturen zu debattieren. Das ist gut und sinnvoll, weil nur durch einen Diskurs, durch Zuhören und Empathie, durch Hineinversetzen und gemeinsames Suchen nach Lösungswegen gesellschaftliche Entwicklungen angestoßen werden können. Wenn diese Begriffe aber so genutzt werden, dass eine Gesellschaft wiederum zerfällt in die einen, die …

Sharon Dodua Otoo: Adas Raum

Was Literatur alles kann, wenn mit großer Experimentierfreude auf ihrer umfangreichen Klaviatur gespielt wird, das zeigt Sharon Dodua Otoos Raum „Adas Raum“. Da folgen wir Leser:innen einer Geschichte „in Schleifen“ durch die Jahrhunderte und durch verschiedene Länder, immer auf der Spur von Ada, die sich ihren Raum wieder und wieder erkämpfen muss – und ein ums andere Mal scheitert. Sie hat immer eine Helferin an ihrer Seite, eine Freundin, eine Schwester, aber immer wieder taucht auch ein Wilhelm auf, der seine eigenen Interessen hat. Ein Knabbern am Daumennagel taucht immer wieder auf, eine Narbe über der Augenbraue, Blut auf der Stirn in der längsten Nacht des Jahres und immer wächst Ada ohne Mutter auf. Manche Szenen sind niederschmetternd, wenn es wieder und wieder – und im KZ Mittelbau-Dora natürlich ganz besonders – um Gewalt geht. Aber dieser Schwere, diesem Schrecken, setzt die Autorin auch Leichtigkeit entgegen und Humor. Dazu trägt das erzählende Wesen bei, das mal ein Lufthauch ist, der – mit viel Freude natürlich – einem älteren Herrn das Toupet vom Kopf weht, mal …

April-Lektüren

Eine ganze Reihe guter Bücher habe ich im April gelesen. Drei Romane von Frauen, die jeweils unterschiedliche Aspekte weiblichen Lebens, ja, Aspekte weiblichen schwarzen und farbigen Lebens beleuchten, jede mit einer ganz besonderen Art des Erzählens, jede mit eigener Erzählstimme (oder gar Erzählstimmen), kreativ, innovativ, mal spielerisch, mal intellektuell, immer packend und spannend. Und einen Essay zum gerade so intensiv diskutierten Thema der Identitätspolitik der französischen Autorin Caroline Fourest: „Generation Beleidigt“. Bernardine Evaristo lässt zwölf Frauen zu Wort kommen, die von ihrem Leben erzählen, als farbige Einwanderin in Großbritannien, als Studentin in der zweiten Generation. Sie sind Lehrerinnen, Ticket-Kontrolleurinnen, Einzelhändlerinnen, Dramatikerinnen, Bankerinnen, Aktivistinnen im Netz. Und sie haben alle jeder Menge Power. Sharon Dodua Otoos Roman „Adas Raum“ ist der Roman, der in einer so spielerischen Erzählform daherkommt und dabei die ganze Palette der gerade aktuellen Themen von Kolonialismus, Rassismus und Frauenfeindlichkeit verhandelt. In zeitlichen Schleifen treffen die Protagonist:innen immer wieder aufeinander. Vielleicht nimmt die Geschichte um die vielen Adas nun, im Berlin des 21. Jahrhunderts, doch noch eine positive Wendung. In Mithu Sanyals Roman …

Bernardine Evaristo: Mädchen, Frau etc.

Geschichten von 1000 Frauen habe sie erzählen wollen. So sei zumindest der – zugegebenermaßen – groß angelegte Plan gewesen. Um die Lücke zu füllen, die existiere, weil es so gut wie keine Erzählungen von schwarzen Frauen in der Literatur gebe. Und diese Lücke sei schmerzlich denn für Frauen wie sie selbst biete die Literatur fast keine Identifikationsräume: Die Storys der weißen Frauen in Großbritannien entsprechen nicht der Erfahrungswelt der Woman of Colour. Genauso wenig aber bieten die Geschichten der schwarzen Frauen aus Ländern, in denen sie keine Minderheiten sind, eine Möglichkeit, Erlebnissen, Erfahrungen oder Konflikten in eher weißen Kulturräumen nachzuspüren. So erklärt Bernardine Evaristo ihre Motivation für den Roman bei einer Video-Lesung. Immerhin von zwölf Frau erzählt Evaristo dann in ihrem Roman. Sie sind zwischen 20 Jahren und 93, sie sind Bäuerinnen, Kontrolleurinnen in den Londoner Bussen, selbstständig mit einer Reinigungsfirma, Lehrerinnen und Bankerinnen. Sie alle haben sich einen Platz in der britischen Gesellschaft erkämpft, als Migrantinnen, die nach Großbritannien gekommen sind, um hier „ihr Glück“ zu machen, oder als Töchter der zweiten Generation. Sie …

Der März-Rückblick: Vom Lesen, Sehen und vom Hören

Der Lese-RückblickDer Lese-Monat März war ganz nach meinem Geschmack. Anregende, aufregende, interessante und literarisch spannende Romane habe ich gelesen: In David Szalays „Turbulenzen“, einem Roman-Reigen, der per Flugzeug einmal um die ganze Welt führt, wird die globalisierte Welt mit seinen so mobilen Menschen porträtiert. Die hier leben und dort arbeiten, die unterwegs sind zu ihren weit entfernt lebenden Familien, die sich manchmal auch „irgendwo in der Mitte“ treffen. Passend zu diesem fluiden Lebensstil lernen sie in den Flugzeugen nur flüchtig Mitreisende kennen. Szalay erzählt ähnlich flüchtig, indem er jeder Figur nur ein paar Seiten widmet, in denen gerade ihre Leben in Turbulenzen geraten sind. Und doch erscheinen uns diese Figuren ganz plastisch. Brit Bennett erforscht in ihrem Roman „Die verschwindende Hälfte“ die Lebensentwürfe vierer Frauen, den Zwillingsschwestern Stella und Desiree, die, wiewohl farbiger Herkunft, so hellhäutig sind, dass sie sich auch als Weiße ausgeben können, und ihren Töchtern Kennedy und Jude. Dabei überschattet die Passing-Entscheidung Stellas alle anderen Lebenswege. Diejenige von ihnen, die ihren Weg am konsequentesten geht, scheint auch diejenige zu sein, die am …

Olivia Wenzel: 1000 Serpentinen Angst

Als die Angst sie so richtig gepackt hat, als sie schon längst nicht mehr schlafen kann in der Nacht und am Tag nur wenige Stunden, als die Angst sie vollkommen überwältigt, sodass sie Angst hat vor dem ständigen Grübeln, dem Einschlafen, vor allen möglichen Situationen, auch vor den Gesichtern der Menschen in der U-Bahn, da stürzt die Ich-Erzählerin völlig ab. Später erinnert sie sich, wie sie auf dem Tisch einer Bar stand, tanzend und trinkend, wie sie auf der Toilette Speed nahm, hat vage Erinnerungen an die Heimfahrt im Taxi mit einem unbekannten Mann, vage Erinnerungen an Sex in einem abgewrackten Gebäude. hingeschmiert „Ich weiß nicht, wie lange ich aus war, vielleicht 20 Stunden, aus den Augenwinkeln sehe ich nervös flackernde Schatten. Mein Herz rast seit Stunden, ich gucke Serien, esse Chips und Kakaopulver mit dem Löffel; nach draußen zu gehen, um an der Tankstelle etwas zu essen zu kaufen, ist keine Option, Essen bestellen auch nicht, niemand darf mich sehen.“ Sie liest im Internet Abschiedsbriefe von Menschen, die sich selbst getötet haben, probiert aus, …

Nikolaus Heidelbach: Alles gut?

Wer, auch ohne staatliche Verordnung, die Ostertage aus Gründen der Infektionskettenverhinderung gleich mit einer Osterruhe versehen möchte, der braucht eine angemessene häusliche oder balkon- orientierte Beschäftigung. Da bietet sich ein Buch geradezu an, das kontaktlos geliefert werden kann und dessen Lektüre nur zu minimalem Aerosolausstoß führt. Und erst recht bietet sich hier ein Buch an, das sich genau mit der Situation des Lockdowns und mit den Erlebnissen, Wahrnehmungen und Befindlichkeiten der sich in Selbstisolation aufhaltenden Menschen beschäftigt. Dem vorliegenden Werk fehlt eine Gattungsbezeichnung, sodass es unklar bleibt, ob Nikolaus Heidelbach streng autobiografisch schreibt oder ein Ich-Erzähler seine Beobachtungen darlegt. Jedenfalls bieten Notate aus der Zeit des ersten Lockdowns im Frühjahr letzten Jahres vertiefte Einblicke in die psychischen und physischen Konsequenzen der Vereinzelung. Die habe er, so schreibt der einsame Chronist am 8.3.2020, gleichsam seinen Schreibprozess reflektierend, damals begonnen, um der Gleichförmigkeit der Tage Herr zu werden. Und ein paar Tage später: „Mittwoch, 18.3.2020, Temp. 37,3 Grad Beim Waschen entdecke ich an der linken Hand einen Ehering. Rätselhaft. Es gibt in der Wohnung keine Treppe – …

Brit Bennett: Die verschwindende Hälfte

In Philip Roth´ Roman „Der menschliche Makel“ ist es Professor Coleman Silk, der sich, als Schwarzer mit sehr heller Haut auf dem Bewerbungsbogen der Navy als „weiß“ bezeichnet. Niemand stutzt, niemand stellt seine Zugehörigkeit in Frage. So lebt er das Leben eines weißen Professors an einer Universität, wird gar Dekan, hat eine große Familie. Nun, 71-jährig und bereits emeritiert, lässt er sein akademisches Leben mit einigen Lehrveranstaltungen langsam ausklingen. Und spricht dort, weil zwei Studentinnen häufig fehlen, von ihnen als „dunkle Gestalten“. Es sind die 2000er Jahre, in denen solche Bemerkungen schnell den öffentlichen Furor anheizen und zu unangenehmen Problemen führen können, zumal wenn die, über die gesprochen wird, tatsächlich People of Color sind. Ausgerechnet Coleman Silk strauchelt also über diese Bemerkung. Seine Kolleg*innen in der Fakultät lassen ihn fallen, seine Frau stirbt bei den Aufregungen. Trotz der offensichtlich ungerechten Verurteilung durch sein Umfeld offenbart Coleman Silk seine wahre Identität nicht. Wir Leser*innen ahnen, welche Hürde Silk einst genommen hat, wir ahnen, welche Kraftanstrengung es gewesen sein muss, in der weißen Gemeinschaft zu leben, ständig …

David Szalay: Turbulenzen

Als Arthur Schnitzlers Theaterstück „Reigen“ 1920 in Berlin uraufgeführt wurde, führte das zu einem anständigen Skandal. Denn das Drama gibt Einblicke in die Schlafzimmer der Gesellschaft und verhandelt in 10 Dialogen was die Menschen, die sich jeweils getroffen haben, um miteinander zu schlafen, bewegt, was sie antreibt, was sie wünschen und erhoffen. Nicht zuletzt gibt es Einblicke in das Leben, die Einstellungen und Werte der verschiedenen sozialen Gesellschaftsschichten und zeigt am Beispiel des Sex besonders anschaulich auch die herrschenden Machtverhältnisse. Dass der moralische und sexuelle Tabubruch in den 1920er Jahren die Gemüter erhitzte, ist nachvollziehbar. David Szalays Roman von den „Turbulenzen“ beschwört keinen neuen Skandal herauf. Aber Szalay hat sich bei Schnitzlers Idee des „Reigens“ bedient und sie ins Hier und Heute des 21. Jahrhunderts überführt. Und erzählt hier am Beispiel von flüchtigen Reisebegegnungen von unserer mobilen und globalisierten Welt. Wie in Schnitzlers Reigen wird dabei die Nebenfigur der einen Geschichte zur Hauptfigur der nächsten. So entsteht manchmal ein doppelter Blick auf eine Person, auf eine Situation, ein Blick also aus unterschiedlichen Perspektiven, der für …

Der Februar-Rückblick: Vom Lesen, Hören und Entdecken

Auch der Februar hat sich als guter Lesemonat erweisen mit Lesereisen nach Aleppo und in die Normandie. Und mit den Kentukis an alle möglichen Orte. Und wiederum haben mich auch Beiträge in anderen Medien überrascht, erfreut und inspiriert. Gelesen und gehört Nach der Ankündigung des WDR, die tägliche Buchbesprechung im Programm des WDR 3 zu streichen, ging ein Aufschrei durch die Medien. Insa Wilke formulierte eine Petition an den WDR und erklärt in der ZEIT ausführlich ihre Position. Besonders beeindruckt hat mich in der Diskussion der Beitrag von Hilmar Klute in der SZ , der über die Bedeutung der Literatur im Französischen Fernsehen berichtet. Dort werde, man kann es kaum fassen, am Samstag zur Prime-Time über Bücher diskutiert, während wir hier mit seichten Krimis oder Quizsendungen unterhalten werden, die eigentlich eher ins Kinderprogramm gehören. Dem SWR hat der Artikel wohl auch gefallen, denn er hat gleich noch ein Interview mit Klute geführt, das ihr hier nachhören könnt. Was für ein Gewinn es sein kann, eine Literatur-Rezension zu hören, die nicht nur 5 Minuten lang ist, …

Annie Ernaux: Die Scham

Ein Ereignis aus der Kindheit ist es, dass die Ich-Erzählerin in diesem schmalen Buch immer wieder umkreist. Es hat sich am 15. Juni 1952 ereignet und es hat sie zutiefst erschüttert. Es ist das Ereignis, von dem sie sagt, dass es ihr Leben in ein „vorher“ und „nachher“ gliedert, das Ereignis, das ihre Kindheit beendet und ihren Prozess des Loslösens vom Elternhaus einleitet. An diesem Tag gab es einen Streit zwischen ihren Eltern, das ganze Mittagessen lang. Und ihr Vater, der den Nörgeleien seiner Frau sonst meistens nichts entgegensetzte, wurde so wütend, dass er erst zitterte und keuchte, dann die Mutter packte, in die Vorratskammer schleifte und schrie. Als die Erzählerin, von der Mutter gerufen, hinzukam, hielt er mit der einen Hand die Mutter an Hals oder Schulter fest, mit der anderen hielt er das Beil. So beginnt die Erzählerin ihren Text mit dem Satz: „An einem Junisonntag am frühen Nachmittag wollte mein Vater meine Mutter umbringen.“ Es sei hier das erste Mal, so berichtet die Erzählerin, dass sie dieses Kindheitsereignis notiere. Es habe ihr …

Khaled Khalifa: Keine Messer in den Küchen dieser Stadt

Khaled Khalifas 2013 erschienener Roman führt mitten hinein in das Leben in Syrien seit den 1960er Jahren. Damit spielt die Geschichte in der Zeit, in der die Baath-Partei nach der Macht gegriffen und Hafiz al-Assad durch einen Putsch an die Spitze der Partei und damit auch der Regierung gelangt ist. Dass diese Jahre bleiern auf den Leben der Familienmitglieder des Erzählers liegen, davon erzählt er uns. Die Mutter des Erzählers ist gestorben, an einem glühend heißen Junitag des Jahres 2004. Sein Onkel Nisâr hatte ihn angerufen, als er von der Arbeit – er übersetzt für eine Textilfabrik – auf dem Weg nach Hause war. Er solle die Schwester Saussan suchen und ihr Bescheid geben. Spät in der Nacht kommt Saussan zur Wohnung, in der die Mutter zwischen Eisblöcken und unter Decken liegt. Onkel Abdalmunim ist da mit seinem Sohn, und Nariman, die Freundin der Mutter. Zwei Generationen einer Familie treffen hier aufeinander, mit all ihren Animositäten und ihren Konflikten. Die trotz allem für eine respektvolle, für eine würdige Trauerfeier sorgen. Der Roman setzt ein, als …

Samatha Schweblin: Hundert Augen

Samantha Schweblin schickt uns in ihrem neuen Roman mitten hinein in ein faszinierendes Gedankenspiel. Kentukis heißen ihre smarten Spielzeuge. Das sind kleine, nicht einmal besonders ansprechend gestaltete Plüschtierchen, Krähen, Kaninchen, Maulwürfe, Drachen, die sich auf drei Rollen durch die Wohnung bewegen. In ihren Augen sitzen Kameras, wie bei einer Drohne, über ein Mensch, an seinem Bildschirm sitzend, den Kentuki steuert. Wer bei diesem Spiel mitmachen möchte, muss sich entscheiden: Sie oder er kann die Rolle des „Herrn“ übernehmen und kauft sich solch ein Plüschtier. Oder kauft die Software und einen Code und schlüpft in die Rolle des „Wesens“. Dann können sie oder er am Leben einer Familie irgendwo auf der Welt teilnehmen, bei einem Single einziehen, Begleiter und Spielkamerad*in eines Kindes werden oder in einem Seniorenheim mit den älteren Damen und Herrn in Kontakt treten. Jeder Code ermöglicht den Zugang zu nur einem Kentuki. Diese exklusive Beziehung wird durch den Computer festgelegt, kann also nicht vorab bestimmt werden. Und wenn diese Beziehung beendet wird, dann ist der Kentuki nichts mehr als ein schlecht gemachtes Plüschtier …

Der Januar-Rückblick: Vom Lesen, Hören und Entdecken

Der Januar hat sich ja schon einmal als sehr guter Lesemonat entpuppt. Und rechts und links vom Bücher-Lesen habe ich in verschiedenen Medien weitere interessante Dinge gefunden: Entdeckt: Den Blog MINDSHELF. Michaela Hanel bringt auf ihrem Blog Romane und ihre eigene psychologische Expertise zusammen. Da liest sie Isabel Bogdans „Laufen“ und führt Forschungen an, die die positiven Wirkungen von Sport und Gehirn aufzeigen. Oder erklärt am Beispiel von Angelika Klüssendorfs Roman „Jahre später“ was es aus psychologischer Sicht mit einer „toxischen Beziehung“ auf sich hat.   Gehört Das philosophische Radio Beim Fahrradtraining höre ich gerne Podcasts. Im Januar habe ich beim ewig gleichen Treten auf dem Hometrainer Lisa Herzog im Philosophischen Radio gehört. Jürgen Wiebecke, der Moderator, und die Philosophin haben sich einzelne Aussagen Adam Smiths genauer angeschaut und dabei Interessantes zutage befördert. Nachhören könnt ihr das hier. Gelesen: Die Blogger-Jury des Preises für das beste Debüt hat sich entschieden. Aus einer Shortlist von 5 Titeln heraus ist Deniz Ohdes Roman „Streulicht“ als bestes Debüt hervorgegangen. Herzliche Glückwünsche! Eigene Lektüren: Die Lektüren im Januar haben …

Julia Deck: Privateigentum

„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbar nicht gefällt.“ Was in den Zeiten Schillers galt, gilt heute immer noch. Diese Erfahrung machen jedenfalls Eva und Charles Caradec, um die fünfzig, in ihrer neuen Doppelhaushälfte in einem Pariser Vorort. Jahrelang lebten sie in einer Mietwohnung in der Innenstadt, geräumig und komfortabel, der Fitnessraum im Haus. Aber dann hatten die Balkonpflanzen zu wenig Platz, brauchten neue, größere Töpfe, die Rosenstöcke beanspruchten mehr Raum für die Zweige. Es war also Zeit für eine Immobilie vor den Toren der Stadt, mit einem Garten, mit Ruhe und besserer Luft, es war Zeit für: Privateigentum. Auch wenn der Begriff trügerisch ist, denn eigentlich gehört das Haus der Bank, bei der man bis zur Nasenspitze verschuldet ist. Und wirklich privat ist hier im Vergleich zur Anonymität der Großstadt auch keiner. Die Nachbarn kennen sich, besuchen sich zum Aperitif, zur Grillparty. Man beobachtet sich aus den Küchenfenstern, sieht, wann wer in welches Haus geht. Im Garten wird man unabsichtlich Zeuge der Gespräche auf der benachbarten Terrasse. Und …

Ralf Rothmann: Hotel der Schlaflosen

Zum Ende der Probe reißt eine Saite über dem Steg von Emilias Geige. Ihr Bruder, der Pianist, möchte eine Passage noch einmal proben, ihm ist ihr Tempo zu schleppend. Aber die Reservesaiten im Geigenkasten musste Emilia am Flughafen in Zürich abgeben. Sie könne die Drähte ja auch als Waffe nutzen, hatte der Beamte der Flugsicherheit gemeint. Sie hat weitere Saiten im Reisegepäck, das schon im Hotel ist. Da die Zeit bis zum Beginn der Matinee reicht, beschließt sie, mit dem Taxi zum Hotel zu fahren. Die Berliner Straßen sind leer, es ist ein Sonntag im Oktober, zudem ein Feiertag. Der Fahrer, graumeliert und mit leichtem arabischen Dialekt, stellt ihr den kleinen Hund vor, der vorne im Beifahrerfußraum mitfährt, den Hund seiner Tochter, den er immer sonntags beaufsichtigen muss. Und Emilia, die tief den Geruch des Hundes einatmet, erinnert sich an den Hund ihres verstorbenen Mannes. Sie hebt ihn auf die Rückbank, er legt sich neben sie, die Schnauze auf ihrem Oberschenkel.  Emilia bittet den Fahrer, an einer Kreuzung kurz anzuhalten. Sie kurbelt das Fenster herunter …

Joachim Meyerhoff: Hamster im hinteren Stromgebiet

Es sind die mittleren Lebensjahre, die 50er, in denen der eine oder die andere plötzlich mit einer Krankheit konfrontiert wird, die doch eher in den späteren Lebensjahren verortet wird, mit denen nicht rechnet, wer so mitten im Leben steht, mitten in Familie und Beruf, gerade so da angekommen, wo sie oder er immer hinwollte. Und dann schlägt er zu, der Gehirn- oder Herzinfarkt, vermeintlich aus heiterem Himmel. Die sich zusetzende Ader bedroht nicht nur die Gesundheit, sondern zeigt auch, wie hilfsbedürftig der Mensch, gerade noch so kompetent, entscheidungssicher und führungsstark, von einem Moment auf den anderen werden kann. Und bringt diejenigen, die so viel Glück hatten, dass sie dieses Mal mit einem blauen Auge davongekommen sind, ganz ordentlich auf den Boden der Tatsachen zurück.

Vom Lesen in Zeiten von Corona – ein Rückblick auf das Lesejahr 2020

Was für ein Jahr! In dem wir kennengelernt haben, was eine Pandemie ist und wie rasend schnell sie sich in einer globalisierten und mobilen Welt bis in die letzte Ecke ausbreitet. An dessen Ende wir nun, nach eigentlich unglaublich kurzer Zeit, aber auch die Hoffnung haben können, durch die verschiedenen Impfstoffe im nächsten Jahr wieder mehr normales Leben leben zu können. Es ist toll, was die Wissenschaft in der kurzen Zeit geleistet hat! Mein Lesen ist in diesem aufregenden Jahr ziemlich auf der Strecke geblieben. Mein literarisches Lesen jedenfalls. Denn gelesen habe ich mehr als genug: Ich kenne nun die Bedienungsanleitungen von mindestens vier Videokonferenzprogrammen, ich habe mich durch moodle- und logineo-Anleitungen gelesen, durch Padlet-, Oncoo- und Etherpad-Kurzfortbildungen geklickt, mein ganzes Unterrichtsmaterial neu organisiert, sodass es auf alle erdenklichen Lernplattformen hochgeladen werden kann, und Woche für Woche mehr als hundertdrölfundneunzig eingereichte digitale Hausaufgaben gelesen und zum Teil kommentiert. Für literarisches Lesen ist da wenig Muße – und vor allem Lust – geblieben. Fürs Bloggen über meine literarischen Lektüren noch viel weniger. So gibt es in …

Deniz Ohde: Streulicht

Die Erzählerin kommt zurück in den Ort ihrer Kindheit und Jugend, kommt zurück in den Vorort von Frankfurt, der durch die Chemie-Industrie geprägt ist. Wenn sie jetzt die Wege läuft, dann erinnert sie sich an ihre Abenteuer der Kindheit und Jugend, zusammen mit Sophia und Pikka und immer im Schatten der Chemiefabriken auf der anderen Seite des Flusses. Es ist ein unwirtlicher Ort, aus der Zeit gefallen fast. Denn als, zum Ende der 1980er Jahre, im Ruhrgebiet die Anstregungen des Umweltschutzes längst gegriffen hatten und die Luft schon wieder so gut war, dass weiße Wäsche draußen bedenkenlos getrocknet werden konnte, fällt hier Industrieschnee und es riecht immer sauer. Die namenlose Ich-Erzählerin, Tochter eines Industriearbeiters und einer Mutter, die der Enge des türkischen Dorfes entkommen wollte und dann in der Enge einer Kleinfamilie in einem Vorort festsitzt, kommt an den Ort ihrer Kindheit und Jugend zurück, weil Sophia und Pikka heiraten. Die drei, beste Freunde seit Kindertagen, haben sich voneinander entfernt, als die Erzählerin zum Studium weggezogen ist. Pikka und Sophia dagegen sind geblieben. Pikka hat …

Live-Literatur bei der Wuppertale Literatur Biennale

Hinweis: Das Programm wird nun online stattfinden. Links dazu findet ihr hier. Nach den vielen Monaten fast ohne Kino, Konzert, Theater und Lesung ist die Freude auf Kulturabende ganz besonders groß. Und so ist es ja fast nicht zu glauben, dass die ursprünglich für Mai geplante Literatur Biennale nun doch noch stattfinden soll, wenn auch mit gekürztem Programm an nur 4 statt 10 Tagen. Dass trotzdem auch schon zwei Veranstaltungen dieses Programms abgesagt wurden, macht deutlich, dass die steigende Zahl der Corona-Infizierten, die sich bildenden Hot-Spots hier und da, die Bedenken der Beteiligten stärken und ihr Reisen verhindern.   In dieser Woche haben das Kulturbüro der Stadt Wuppertal und der Koordinierungskreis als vorbereitende Teams der Literatur Biennale zu einer Pressekonferenz geladen und den diesjährigen Themenschwerpunkt und das Programm vorgestellt. Schon vor zweieinhalb Jahren sei das Thema festgezurrt worden, das in diesem Jahr und mit den Erlebnissen und Erfahrungen einer Pandemie ganz besonders aktuell sei: Tier, Mensch, Maschine – Berührungen. So gebe es auf der einen Seite einen Paradigmenwechsel beim Verhältnis zwischen Mensch und Tier, da …

Birgit Birnbacher: Ich an meiner Seite

Arthur Galleij ist auf seinem Weg in das Leben als Erwachsener ein einziges Mal falsch abgebogen. Und für sechsundzwanzig Monate im Gefängnis gelandet. Nun ist er entlassen und kann ein Jahr lang in der Wohngemeinschaft von „weitermachen e.V.“ leben, mit Therapiesitzungen bei Konstantin Vogl, genannt Börd, täglichen Gesprächsrunden mit den anderen Jungs auf ihrem Resozalisierungsweg und ständigen Bewerbungen um Praktika oder Ausbildungsstellen. Aber mit diesem Makel im Lebenslauf ist es gar nicht so einfach, in ein Leben zurückzukehren, das auf mehreren Märkten stattfindet: dem Arbeitsmarkt und Wohnungsmarkt, dem Partnermarkt. Mal davon abgesehen, dass Arthur sich ja auch ganz allgemein im Leben nicht so richtig zu Hause fühlt. Birgit Birnbacher erzählt in ihrem Roman den Weg Arthurs während dieses Resozialisierungsjahres nach seiner Entlassung. Dass am Gefängnistor nicht seine Eltern stehen, sondern die schwer kranke Grazetta, das erklärt schon einige seiner Probleme. Und die zeigen sich im Laufe dieses Jahres in vollem Ausmaß. Dann, wenn sich Arthur zurückerinnert an sein Leben in Hallein in der Eisenbahnersiedlung oder im Hospiz in Spanien. Und wenn er für seine Therapie …

Warum Lesen. Mindestens 24 Gründe, hrsg. von Katharina Raabe und Frank Wegner

Menschen, die sich für Bücher interessieren oder gar etwas mit Büchern zu tun haben, braucht man wohl kaum zu fragen über ihre Gründe des Lesens. Da wundern sich dann eher die Zuhörerinnen ohne besondere Bindung ans Buch, was für eine Argumentationslawine Leserinnen lostreten, wenn sie zu ihrer Passion befragt werden. Und dabei haben doch die Nicht-Leser oft das Gefühl, die Leser entziehen sich mit dem Buch auf den Knien und der Lesebrille auf der Nase schlicht der Realität und den konkreten Aufgaben, die das Leben im allgemeinen und der Alltag im Besonderen an sie stellt. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch die vierundzwanzig Autoren des Suhrkamp-Verlages, darum gebeten, Gründe ihres Lesens offen zu legen, wortgewaltig erklären können, was es mit ihrer Leidenschaft auf sich hat. Da kommen, wenn man genau zählt, viel mehr als vierundzwanzig Gründe zusammen. Denn so unterschiedlich die Autoren sind, die einen schreiben Geschichten, die anderen forschen über das Zusammenleben der Menschen oder über das Gehirn, der eine übersetzt, der andere macht Musik und schreibt Gedichte und der nächste zeichnet …

Enno Stahl: Sanierungsgebiete

Lynn ist ratlos. Bald ist ihr Architekturstudium zu Ende, es fehlen nur noch die Diplomarbeit und ein mehrmonatiges Praktikum. Aber sie weiß nicht, worüber sie schreiben soll, weiß auch nicht, wie sie an eine Praktikumsstelle kommen soll, nun, da es alle Studenten absolvieren müssen. Warum sie nicht über ihre Straße schreibe, fragt Frank, ihr Kommilitone. Da sei so viel saniert worden seit der Wende, das wäre doch bestimmt ein gutes Thema. Lynn wohnt in der Rykestraße und diese Straße am Prenzlauer Berg ist ausgewiesenes Sanierungsgebiet. Hier, so hat der Senat von Berlin festgelegt, sollen bauliche Maßnahmen an den zu DDR-Zeiten lange nicht modernisierten Gebäuden unterstützt werden. Und ebenso soll die Infrastruktur verbessert werden, durch Spielplätze und Grünflächen beispielsweise und verkehrsberuhigte Zonen. Lynn nimmt die Idee auf, entwirft ein Konzept und schlägt das Thema ihrem Professor vor. Der akzeptiert es, auch wenn Lynn hier mehr soziologische als bautechnische Forschungsfragen aufwirft. Denn ihr Interesse liegt ja vor allem bei der Frage, wie die Sanierungen auf die dort wohnenden Menschen wirken. Dabei steht Lynn, die Tochter einer Anwältin …

Niklas Maak: Technophoria

Die zumeist positiv geführte Diskussion um die fortschreitende Digitalisierung, gerade noch befeuert durch ihre Lösungsansätze während der Corona-Pandemie, erinnert auch an die Technikbegeisterung vergangener Perioden. Die Lösung fast all unserer Probleme scheint durch die Digitalisierung möglich; Smarte Cities beispielsweise sollen durch eine komplette Vernetzung nicht weniger als die Umwelt- und Klimaprobleme lösen und die Sicherheit der Bürger gewährleisten, das smarte Home das Leben für seine Bewohner bei optimaler Ressourcennutzung bequem gestalten und Gadgets zur Messung verschiedener Körperwerte dazu beitragen, fit und gesund zu bleiben. Niklas Maak lässt in seinem Roman nun nicht die Titanic untergehen, um in den Abgesang auf die Idee der omnipotenten Segnungen der digitalen Technik einzustimmen. Aber er zeigt uns doch die eine oder andere Tücke der Vernetzung auf – mit für einige seiner Figuren desaströsen Ausgängen. Doch diese Probleme bleiben auf der individuellen Ebene, während das technologische Großprojekt, dessen Entwicklung und Entstehung den roten Faden des Romans bildet, umgesetzt wird, wie die Leser schon zu Beginn des Romans erfahren. Mit Blick auf die vernetzte Stadt, um die es immer wieder geht, …

Jutta Reichelt: Wie ich Schriftstellerin wurde

„Mein Leben war nicht, wie es war.“ Aus diesem einen Satz, der plötzlich aufgetaucht und da war, dieser Aussage, die, so schreibt Jutta Reichelt, ja nicht einmal plausibel sei, entwickelt sich die Geschichte des Protagonisten Christoph. Denn Christophs Leben ist nicht so geordnet und perfekt, wie es scheint und wie er selbst meint, dass es sei. Er muss erst erkunden, was ihn da, so mitten im Leben, aus der Bahn wirft. Welche Geschichten aus der Vergangenheit ihm noch anhängen und gerade jetzt ans Licht drängen. Und so entwickelt sich aus diesem einen Satz die Geschichte des Romans „Wiederholte Verdächtigungen“. Als dieser Satz als Samenkorn für eine ganze Geschichte auftauchte, da war Jutta Reichelt längst eine Schriftstellerin. Dass der Weg dahin ein langer und steiniger war, davon erzählt sie in diesem schmalen Band. Das Schreiben als Profession ist lange nicht ihr Ziel gewesen. Als Kind habe sie keine Phantasie gehabt, auch keine vollgeschrieben Tagebücher als ersten Hinweis auf die spätere Schriftstellerei. Jura habe sie erst studiert, später Soziologie. Doch beides waren wohl nicht „ihre“ Themen, vielleicht …

Thorsten Nagelschmidt: Arbeit

Ein Roman mit dem schlichten Titel „Arbeit“ lässt Erinnerungen aufkommenan die Literatur der 1970er Jahre, Literatur über körperlich harte, schwere und schmutzige Arbeit in den Fabrikhallen, den Hütten und Kohlerevieren (des Ruhrgebiets), Literatur auch, in der über die Lebensumstände der Arbeiter erzählt wurde. Mit dieser Assoziation aber liegt man – auf den ersten Blick – gründlich daneben. Thorsten Nagelschmidts Roman spielt im heutigen Berlin, auf den quirligen Straßen Kreuzbergs. Er erzählt von denen, die dafür sorgen, dass das Leben und das Feiern auch nachts weitergehen: von Heinz-Georg Baderzky, dem Taxifahrer, von Anne, der Frau vom Späti, von Felix, dem Dealer, von Tanja und Tarek, den Rettungssanitätern. Von Sabrina, die in aller Herrgottsfrühe am Samstagmorgen aufsteht und mit ihrer Küpperweisser die Spuren der Nacht auf Straße und Gehweg beseitigt. Und von Ingrid. Sie hat einmal Soziologie studiert, ein Fach, mit dessen Abschluss sie, so erklärt sie ihren Berufsweg, Taxifahrerin werden konnte oder Antiquarin. Sie besaß keinen Führerschein, also wurde es das Antiquariat. Das hat sie mit Harald geführt, ihrem Mann. Es scheint, dass sie alle Bücher …

Maggie Nelson: Die roten Stellen

Im Herbst 2004 prüft Maggie Nelson die Druckfahnen zu ihrem Gedichtband „Jane: A Murder“. 5 Jahre hat sie daran gearbeitet, hat nach Zeitungsberichten über die Michigan-Morde an mehreren jungen Frauen gesucht, hat Polizeiberichte studiert, in Janes Tagebuch gelesen, Bilder betrachtet. Und ist zu den Orten gefahren, an denen ihre Tante Jane gewesen ist, bevor sie bei einer Autofahrt von ihrer Universität nach Hause im März 1969 ermordet worden ist. Auch zu dem Friedhof, auf dem sie am Morgen nach dem Mord aufgefunden worden ist: erschossen durch zwei Kugeln in den Kopf, tiefeingegraben in den Hals eine Perlonstrumpfhose, die Gegenstände, die sie auf ihrer Reise mit sich führte, ordentlich aufgeschichtet zwischen ihren Beinen. Der Mord wurde nie aufgeklärt, aber natürlich hat er sich tief eingebrannt in das Bewusstsein der Familie Mixer. Und ist auch prägend für die Nichte Maggie, die erst 3 Jahre nach Janes Tod geboren wurde. Maggie Nelson hat sich in ihrem Gedichtband Jane genähert, hat Gedichte über sie geschrieben, hat ihr selbst eine Stimme gegeben, indem sie – nicht ohne Schuld- und Schamgefühle …

Beim Lesen reisen (3) – Mathijs Deen: Über alte Wege

Vielversprechend kündigt Mathijs Deen im Titel seines Buches das Reisen quer durch Europa an, über „alte Wege“ und auch „durch die Geschichte“. Genau die richtige Lektüre also, wenn nicht nur in Europa gerade alles still steht, wenn Reisewarnungen für Fahrten ins Ausland ausgesprochen sind, wenn plötzlich Grenzen in Europa wieder sichtbar werden, die wir schon lange vergessen haben. Wenn sich sogar innerhalb Deutschlands auf einmal Grenzen zwischen den Bundesländern zeigen, sodass man sich ein bisschen erinnert an Gauß´ Reise über die vielen Grenzen nach Berlin – zumindest in der Version von Daniel Kehlmann. Durch Europa also, auf alten Wegen. Aber zunächst einmal auf die E 8 in den Niederlanden. Da nämlich, so entsinnt Mathijs Deen sich, fuhr die Familie, als er ein Kind war, am Wochenende immer wieder von Twente zu den Großeltern, zum Utrechter Hügelrücken. An einer Abzweigung sei auf der Straße ein Pfeil gewesen, E 8 habe daneben gestanden. Und der Vater habe erklärt: „Das ist die E 8, die führt von London nach Moskau.“ Später wurde eine Autobahn gebaut, die Landstraße wurde …

Beim Lesen reisen (2) – Nava Ebrahimi: Das Paradies meines Nachbarn

Der zweite Roman meiner kleinen Reiseserie spielt in München, in Teheran und in Dubai. Anders als Sarah Jägers Geschichte ist dies aber keine Road-Novel. Die Protagonisten reisen nicht auf der Landstraße, nicht einmal auf der Autobahn und können so auch keine Abenteuer rechts und links der Straßen bestehen. Nava Ebrahimis Figuren nehmen – so wie es sich für Menschen des 21. Jahrhunderts gehört – das Flugzeug, wenn sie eine größere Reise antreten. Und so spielen Landschaften und Sehenswürdigkeiten, nicht einmal in Dubai, eine Rolle. Dass sie aber am Ende der Reise in Dubai alle in den Bars, auf den Zimmern und in den Salons der Hotels doch etwas ganz Neues erleben und mehr über sich erfahren und gelernt haben, verbindet das Setting dieses Romans mit der Road Novel. Sina Khosbin ist Produktdesigner in einer Münchner Agentur, die schon längst nicht mehr selbstständig arbeitet, sondern von einem Küchengerätehersteller aufgekauft wurde. Sina ist Ende 30, verheiratet mit Katharina, einer Resilienzforscherin, und hat eine Tochter. Seine Entwürfe von Toastern, Smoothie-Makern und Thermoskannen haben keinen Esprit mehr, die hochtrabend …

Beim Lesen reisen (1) – Sarah Jäger: Nach vorn, nach Süden

Der Blick auf die Bücher, die ich im März gelesen habe und das Buch, das ich gerade angefangen habe zu lesen, zeigt, dass sich so ganz zufällig eine schöne kleine thematische Reihe ergeben hat. Eine Romanreihe, die vom Reisen erzählt und so die Stoffe für die Erlebnisse liefert, die wir gerade in unserer Quarantäne nicht selber erfahren können, sondern nur durch das Miterleben beim Lesen. Heute geht es erst einmal los mit einem Jugendbuch. Das ist nicht unbedingt das Genre, das oft auf diesem Blog häufig vorkommt. Dafür ist aber die Autorin in der Blogwelt zumindest den meisten schon bekannt, nämlich als eine der Betreiberinnen der Seite http://www.dasdebuet.com, die in diesem Jahr schon zum fünften Mal „Das Debüt 2020 – Bloggerpreis für Literatur“ ausrichten. Und wie schön, dass sie auch selbst für ihren Erstling Monat für Monat öffentliches Lob einsammelt. So zum Beispiel den von DIE ZEIT und Radio Bremen vergebvergeben von der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur. Nach vorne zu gehen, ist nicht jedermanns Sache. Schon gar nicht die der Ich-Erzählerin. Wenn sie …

Petra Grimm, Tobias O. Keber, Oliver Zöllner (Hg.): Digitale Ethik. Leben in vernetzten Welten

Neben Sarah Spiekermann bieten auch die Autoren dieses Bandes einen Einblick in die Facetten der digitalen Ethik. Der Blick ins Inhaltsverzeichnis macht deutlich: Hier werden ganz konkrete Probleme verhandelt, die sich aus dem Einzug des Digitalen in mehr und mehr Lebensbereiche ergeben: Privatheit und Datenschutz, das selbstoptimierte Ich, Cyber-Mobbing, Arbeit 4.0 und die Frage der Haltung in der digitalisierten Welt, um nur einige zu nennen. Die Autorinnen und Autoren sind oder waren alle Mitarbeiter am Institut für digitale Ethik an der Hochschule für Medien in Stuttgart. Dieses Buch, so schreiben sie einleitend, sei entstanden aus ihren Vorträgen und der Bitte der Zuhörer, die doch zum Nachlesen aufzuarbeiten. Bevor sich die Autorinnen und Autoren den uns alle betreffenden Problemen zuwenden, entwickeln sie einen kurzen theoretischen Unterbau ihrer weiteren Erörterungen. So machen sie zum einen deutlich, dass ethische Fragen nur klären kann, wer über grundlegende Informationen der jeweiligen Sachverhalte und mögliche Konflikte, die aus ihnen erwachsen, verfügt. Auf dieser Grundlage erst können wir immer wieder neu über Normen und Werte verhandeln, können nur so Werte immer wieder …

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus

Die Reportage ist eine ganz besondere journalistische Textsorte. Damit die Leser bedeutsame Situationen miterleben und nachempfinden, damit sie das Gefühl haben, bei den Ereignissen mit vor Ort zu sein, dort zu sehen und hören, was passiert, wird der Reporter zu einem übermittelnden Medium. Er schreibt auf, was er am Schauplatz der wissenswerten und aufregenden, vielleicht auch erstaunlichen Vorgänge erlebt hat, er notiert, mit wem er gesprochen und was er beobachtet hat, er erzählt die Geschichte einer Betroffenen. Er übermittelt also die Situation so lebensnah wie möglich, mit dem Ziel, beim Leser ein „Kopfkino“ zum Laufen zu bringen. Damit diese eine Situation, die hier für ein vertieftes Verständnis beim Leser sorgen soll, aber auch umfassend verstanden werden kann, bedarf es einer Einordnung der erzählten Szenen in einen faktenorientierten Hintergrund. Hier kommt also die journalistische Recherche zum Zug, hier werden Daten vermittelt, hier wird reflektiert und analysiert. Und es geht natürlich auch immer um die Frage nach der Wahrheit, der Überprüfbarkeit und der Echtheit – sowohl der erzählten Situation als auch der dazugehörenden Informationen. Da löste der …

Ulrike Draesner: Kanalschwimmer

Die Fakten sind denkbar klar: Die Luftlinie zwischen Dover und Calais beträgt ca. 32 km, doch wer den Kanal schwimmend durchquert, legt wegen der starken Strömung und der Gezeiten oft eine längere Strecke zurück. Dabei gilt: Je schwächer der Schwimmer ist, desto mehr wird er abgetrieben und desto länger wird die Strecke. Und das bei Wassertemperaturen selbst im Hochsommer von ca 17 Grad. Dabei wird ein Swim nur gewertet, wenn man ihn so bewältigt, wie es der Pionier dieses Langstreckenschwimmens, Captain Matthew Webb, 1875 vorgemacht hat, nämlich mit Badehose oder Badeanzug, Schwimmbrille und Schwimmhaube, alle anderen Hilfsmittel sind tabu. Ein Mitglied eines der Verbände, der die Überquerung festhält und protokolliert – und der Versicherung gegenüber im Fall der Fälle erklärt, dass alles mit rechten Dingen zugegangen ist – sitzt im Beiboot. Das wird gesteuert von einem „Piloten“, dieser hier heißt Brendan, der dafür sorgt, dass der Schwimmer regelmäßig isst und trinkt, der darauf achtet, nicht in die Fahrrinne der Schiffe zu gelangen und der seinen Schützling im Falle einer totalen Erschöpfung frühzeitig aus dem Wasser …

Isabel Bogdan: Laufen

Wer durch den Band „Die Philosophie des Laufens“ blättert, der wird dort zwischen Überlegungen zum Laufen mit Sokrates, Aristoteles, Platon und Kant, den Reflexionen über die Veränderungen von Physis und Psyche auf dem Weg zum Läufer und den kritischen Betrachtungen zum Laufen als Instrument der Selbstoptimierung auch einen Beitrag von Isabel Bogdan finden. Darin erzählt sie über ihre sehr leichtfertige Anmeldung zum Alster-Lauf, genau einen Monat, bevor der Lauf startet. Ein Monat bleibt also nur für das Training, denn sie läuft zwar, hat aber noch nie 10 Kilometer hinter sich gebracht. Den Roman „Laufen“ schreibt also eine Autorin, die sich auskennt mit dem Laufen, mit der Überwindung des inneren Schweinehundes, der immer wichtige Argumente ins Feld führt, um sich nicht auf den Weg machen zu müssen. Die um die Anstrengungen weiß und die Verlockungen des Aufgebens, die aber auch den Stolz und die Zufriedenheit kennt, wenn sie den Laufparcours bewältigt hat. Und die sich auskennt mit dem, was sich da beim gleichmäßigen Trab über die Straßen, durch die Parks und an der Alster entlang alles …

Sarah Spiekermann: Digitale Ethik. Ein Wertesystem für das 21. Jahrhundert

Dieser Artikel erschien zuerst auf der Seite http://www.bingereader.org in der Rubrik „Women in Science„. Dort sind viele weitere interessante Artikel über Frauen und ihre Forschungen zusammengetragen. Also: Unbedingt vorbeischeuen! In ihren Seminaren zum Thema Innovationsmanagement an der Wirtschaftsuniversität Wien stellt Sarah Spiekermann ihre Studierenden vor die Aufgabe, eine Produkt-Roadmap für den fiktiven Lieferdienst FoodIS, dessen Geschäftsmodell an denen von Foodora und Deliveroo angelehnt ist, zu erstellen. Hier setzen die Studierenden um, was sie gelernt haben, wenn sie die technischen Raffinessen eines selbstlernenden, eines intelligenten Systems mit Blick auf die verschiedenen Nutzer – die Kunden, die Restaurants und Fahrradkuriere, den Betreiber der App – erarbeiten und darlegen. Sie denken daran, dass die Handy-App den Kurieren immer den schnellsten Weg weist, über ihre Ortung aber auch erkannt werden kann, wie lange sie Pausen machen. Sie wollen eine App entwickeln, die Aufträge mit einer nach einem Menschen klingenden Stimme weitergibt und sie so bearbeitet und bündelt, dass eine hohe Effizienz entsteht. Und weil sie im Seminar von Sarah Spiekermann sitzen, denken die Studenten auch daran, Werte wie Datensicherheit …