Lesen, Romane

Deniz Ohde: Streulicht

Die Erzählerin kommt zurück in den Ort ihrer Kindheit und Jugend, kommt zurück in den Vorort von Frankfurt, der durch die Chemie-Industrie geprägt ist. Wenn sie jetzt die Wege läuft, dann erinnert sie sich an ihre Abenteuer der Kindheit und Jugend, zusammen mit Sophia und Pikka und immer im Schatten der Chemiefabriken auf der anderen Seite des Flusses. Es ist ein unwirtlicher Ort, aus der Zeit gefallen fast. Denn als, zum Ende der 1980er Jahre, im Ruhrgebiet die Anstregungen des Umweltschutzes längst gegriffen hatten und die Luft schon wieder so gut war, dass weiße Wäsche draußen bedenkenlos getrocknet werden konnte, fällt hier Industrieschnee und es riecht immer sauer.

Die namenlose Ich-Erzählerin, Tochter eines Industriearbeiters und einer Mutter, die der Enge des türkischen Dorfes entkommen wollte und dann in der Enge einer Kleinfamilie in einem Vorort festsitzt, kommt an den Ort ihrer Kindheit und Jugend zurück, weil Sophia und Pikka heiraten. Die drei, beste Freunde seit Kindertagen, haben sich voneinander entfernt, als die Erzählerin zum Studium weggezogen ist. Pikka und Sophia dagegen sind geblieben. Pikka hat nach dem Abitur im Chemiepark ein duales Studium begonnen, er ist zufrieden mit dem, was sein Vater vor ihm als Geschäftsführer eines der dort niedergelassenen Unternehmen ihm vorgelebt hat. Auch Sophia, die aus einem gutbürgerlichen Haushalt stammt, die Mutter eine Bankkauffrau, die Ballett- und Reitstunden hatte, ist zufrieden mit dem Leben im Vorort, auch sie geht nicht weg, um anderes kennenzulernen.  

Weggegangen ist die Ich-Erzählerin und hat sich so nicht nur ihrer Herkunftsfamilie entfremdet, sondern auch den Freunden. Die Idee hat sie schon früh gehabt, hat auch immer mal wieder mit Pikka darüber gesprochen, was er „später“ mal machen wolle. Und Pikka hat ihr alle Vorzüge aufgezählt, die dieser Ort hat: die Ausbildungsmöglichkeiten, das Leben im Grünen – so beschreibt er den Ort des sauren Geruchs, des Kunstschnees und der quartalsweisen Übungen beim Probealarm eines Chemieunfalls – die schnellen Verbindungen in die Stadt. Er wolle auch als Erwachsener durch den Ort schlendern, wolle Grillabende machen, „wie heute“ und er freute sich ganz offensichtlich darauf.

Und die Ich-Erzählerin? Warum will sie weg?

„War es nur gewöhnlicher jugendlicher Tatendrang und Erlebnishunger oder lag es an diesem Ort, diesem spezifischen Fleck Erde, an der die Luft einen anderen Geschmack hatte und der Schnee eine andere Beschaffenheit. Lag es daran, dass eine unsichtbare Wand zwischen mir und dem Ort gab, nicht identisch mit den Mauern des Industrieparks, nicht identisch mit der Schneegrenze, aber doch mit ihnen im Zusammenhang stehend. Eine Wand, die Pikka nicht sehen konnte, Sophia nicht sehen konnte und die bewirkte, dass ich nicht dazugehörte,  so sehr ich auch wollte, keine Biergischt hätte mich in ihre Mitte holen können, und später fiel ich zwischen ihnen hindurch, fiel durch die Raster in den Abgrund, während ich eingeklemmt zwischen den Aktentaschen der Pendler im Berufsverkehr mit der S-Bahn in die Stadt fuhr.“

Das Problem ist, dass die Wand, die die Erzählerin zwischen sich und dem Ort wähnt, zwischen sich und den Mauern des Industrieparks, eigentlich um sie herum ist. Sie nimmt sie also mit, wo auch immer sie hingeht. Es ist die Wand, die sich ergibt aus ihrer Herkunft als Tochter eines Arbeiters und Tochter einer aus der Türkei stammenden Mutter. Es ist das Gefühl, immer und überall fremd zu sein und nicht dazuzugehören. Und es fängt mit den ersten Schultagen an, dann, wenn die Lehrerin sie korrigiert bei der Aussprache ihres Namens, wenn es für sie keinen Schulranzen gibt mit ihrem Namen, „weil mein Name nicht dabei war, wie er nie irgendwo dabei war.“

Und es ist ja nicht nur der Name, der sie als fremd und nicht dazugehörig kenntlich macht. Es geht weiter über das Lebensgefühl der Familie, das einerseits geprägt ist vom Arbeitsethos des Vaters, der sein Leben lang Bleche in Säuren tunkt, andererseits von seinem tiefen Misstrauen anderen Menschen gegenüber. So hat die kleine Familie, Vater, Mutter, Kind, außer zum Großvater, der im gleichen Haus wohnt und Messie ist wie sein Sohn, keine weiteren Kontakte. Und für die Tochter gibt es so weder andere Lebensstile zu begutachten noch einen Ausweg aus dem toxischen Fasmilienleben. Und es geht weiter mit dem Vater, der trinkt und dann Streit mit der Mutter bekommt. Dann sitzt sie im Erdgeschoss beim Großvater und hört die Schläge. „Immerhin schlägt er dich nicht“, sagt die Mutter einmal zu ihr. So lernt die Erzählerin, sich klein zu machen, unsichtbar am besten, um dem betrunkenen Vater gar nicht erst aufzufallen, um seine Missgunst nicht auf sich zu ziehen. Später kann sie gut erklären, was es war in seiner Kindheit und Jugend, das das ihn in den 1960er und 1970er Jahren so geprägt hat. Dass er kein eigenes Wünschen und Wollen entwickeln durfte, dass er keine Bürde für die Familie hatte werden dürfen, dass er bescheiden leben sollte. Alles Prägungen, die sich im Krieg entwickelt haben, als die Familie des Vaters gleich zweimal ausgebombt wurde.

So wird die Erzählerin ein ruhiges und stilles Kind, das sich schon in der Grundschule beim Vier-Ecken-Rechnen nicht laut genug zu Wort melden kann, um aus der Ecke, in die es zuerst einmal gelangt ist, wieder herauszukommen. Und am Gymnasium bekommt sie regelmäßig keinen Ton heraus, wenn der Lehrer Kaiser sie anspricht. Wie ein Seismograph nimmt sie alle Zurückweisungen auf, die sie erlebt, als Arbeiterkind, dem die Lehrer nichts zutrauen, als Kind einer Ausländerin, der die älteren Mitschüler Unverschämtheiten hinterherrufen oder ihr auch mal einen Schlag mitgeben. Sie sei so empfindlich, sagt die Lehrerin der Mutter, sie müsse sich ein dickeres Fell zulegen. Das aber gelingt nicht.  

Deniz Ohde setzt ihre Protagonistin in ein inneres Gefägnis, aus dem es kein Entkommen gibt, denn die Wand zu allen anderen nimmt die Ich-Erzählerin ja immer mit. Da, wo Sophia und Pikka ihre Zukunft sehen, sieht die Ich-Erzählerin einen Chemiepark, der weit sichtbar und riechbar ist. Dort, wo die Freunde ganz selbstverständlich die Schule besuchen, erfährt die Ich-Erzählerin verbale und physische Angriffe durch die Mitschülerinnen und Mitschüler und ihre Lehrerinnen und Lehrer. Da beglückwünscht sie ihr Lehrer Kaiser, wahrscheinlich aus aus Gedankenlosigkeit, die trotzdem demütigend ist, auf der Bühne der Aula, auf der sie mit ihren Mitschülerinnen steht, obwohl sie doch den mittleren Abschluss, der sie zum Besuch der Oberstufe berechtigen würde, gar nicht geschafft hat. Da empfindet sie die Fragen des Schulleiters, bei dem sie sich nach einer an einer Abendschule mit besten Noten bestandenen Mittlerer Reife für den Besuch der Oberstufe bewirbt, nach ihrer Motivation als verletztend. Und denkt sich nur, dass ihr doch auch zustehe, eine höhere Bildung zu bekommen. Da erzählt sie, dass ein Referendar in dieser Oberstufe ihre Note abwertet, mit der Begründung, sie sei ja schon älter und deshalb erwarte er mehr von ihr (sicherlich auch in Hessen ein klarer Rechtsbruch).   

So genau die Ich-Erzählerin auf Erlebnisse in ihrer Vergangenheit zurückschaut, so genau sie die Situationen erzählt, sodass die Leserin nachempfinden kann, wie schwer die Erinnerungen und Erfahrungen aus Kindheit und Jugend wiegen, so klar sie auch über die Situation ihrer Eltern reflektieren kann, so gelingt es ihr doch an keiner Stelle, hinter ihrer Wand hervorzukommen. Sie scheint sich auch heute noch selbst nicht viel Wert zu sein, denn sie berichtet zwar knapp vom Studium in einer anderen Stadt, erzählt aber nicht einmal davon, was sie studiert hat und warum sie sich für das Fach entscheiden hat. Tatsächlich nur, weil es ein Fach ist, das keine Praktika verlangt? Womit sie sich wiederum die nächsten Chancen nimmt.

Von diesem Eingesperrtsein hinter der Wand erzählt Deniz Ohde klar und deutlich. Und auch davon, dass es es für ihre Protagonistin kein Entkommen gibt. Da ist kein Lehrer, der sie fördert und ihr positive Rückmeldungen gibt, keine Mitschülerin, keine Kommilitonin, die einen Weg einschlagen, den sie auch gehen kann. Da ist keine Begeisterung für ihr Studienfach oder zumindest Inhalte daraus. Sondern nur eine sehr pessimistische Perspektive.

Das ist für diese Protagonistin nachvollziehbar. In einer Gesellschaft, die mehr auf ein exzentrisches Selbst setzt und in der schon in der Schule auf Kompetenzen zur Bewältigung von Arbeit im Projekt, mehr und mehr auch auf die Anforferungen des agilen Projektes, vorbereitet wird. Da geht es um Kommunikationskompetenzen und Teamfähigkeit, da werden Präsentationen geübt und Phasen selbstgesteuerten Lernens sind üblich. Das hat die so stille und zurückgezogene Ich-Erzählerin kaum eine Chance.

Ob sich aus dieser individuellen Geschichte jedoch – und das ist in einigen Rezensionen ja nachlesbar – verallgemeinernd ableiten lässt, dass in unserer Gesellschaft die Schule keine Aufstiegschancen ermöglicht, die Lehrer sie geradezu aus Boshaftigkeit oder Gründen der Abgrenzung verhindern, ist dann doch sehr pauschalierend. Denn schon die Schüler*innengenerationen der 1950er und 1960er Jahre haben durch die Bildungsexpansion die Möglichkeit zu Abitur und Hochschulstudium bekommen, die Möglichkeit auf anspruchsvolle Jobs und finanziellem Aufstieg. Arbeiterkinder am Gymnsaium sind also schon viele Jahrzehnte ziemlich normal. Da schließen Jahr für Jahr mehr Schüler*innen eines Jahrgangs mit einer Hochschulzugangsberechtigung ab, mehr und mehr auch Schüler*innen mit migrantischen Herkunftsgeschichten. Da gibt es so einen Run auf die akademischen Abschlüsse – und auch ein entsprechendes großes, z.T. privates, also zu bezahlendes, Angebot -, das es zu einem Werteverlust der Abschlüsse kommen wird. Und welche Berufe die Eltern haben, wissen Lehrer*innen meist gar nicht, können also eigentlich gerade dort nicht fördern, wo es nötig wäre.

Dass es aber schwer ist, die Grenzen der eigenen Herkunft zu überwinden, dass das bedeutet, sich von den eingenen Wurzeln zu entfernen, von den Vorstellungen und Ideen, die in den Herkunftsfamilien zum Thema Bildung, Motivation, Strebsamkeit und Ehrgeiz herrschten, davon erzählt Deniz Ohde aber natürlich auch.

Deniz Ohde (2020): Streulicht, Berlin, Suhrkamp Verlag

7 Kommentare

  1. Hallo Claudia,
    das Buch liegt auch noch hier. Ich bin sehr gespannt, obwohl ich zugeben muss, dass je stressiger der Alltag wird, ich umso mehr zu unterhaltsamen Büchern greife. Finde es gut, dass du explizit darauf hinweist, dass Kinder aus Arbeiter- und/oder Migrantenfamilien schon längst in den Gymnasien und Fachoberschulen angekommen sind, allerdings noch nicht in der prozentual eigentlich zu erwartenden Größenordnung. Da muss sich sicherlich noch was tun. Wie immer ist das Bild vielschichtig und systemisch kompliziert, und einfache Schuldzuweisungen treffen es meist nicht.
    LG
    Anja

    • Liebe Anna,
      ich kann auch kaum mehr lesen. Zum einen, weil ich gar nicht mehr dazu komme, denn die Corona-Verwaltung an der Schule raubt jede Menge Zeit. Zum anderen wird die Arbeit mehr, denn die Aufbereitung der Arbeitsmaterialien für die Digitalisierung muss auch erst einmal umgesetzt werden.
      Zum „Streulicht“: Ganz persönlich – und ohne möglichst ausgewogen literarisch zu urteilen – sehe ich viele der gerade erscheinenden, vielleicht durch die französchen Autoren mitivierten, Romane zur Bildungsungerechtigkeit kritisch. Vielleicht liegt es an meiner Position als unmittelbar Beteiligter und dem vielen Frust, den ich da auch erlebe, obwohl ich doch Bildung und Chancen ermöglichen möchte. Und zudem: Viele meiner Kolleginnen und Kollegen haben richtige (Bildungs-)Umwege gemacht, bis sie an die Schule gekommen sind. Gerade habe ich einen Referendar, der nach Klasse 10 und einem Dachdecker-Meister (!!!) an die Uni gegangen ist und Wirtschaft und Wirtschaftsinformatik studiert hat. Es ist ja nicht so, das unser Bildungssystem nicht alle diese Durchstiege ermöglichen würde. Und die Bildungsexpansion ist 50 Jahre alt, ich als Mädchen aus einer Familie, in der auch in den Familien der Onkel und Tanten, niemand ein Abitur hatte und schon gar keinen Hochschulabschluss, habe davon extrem profitiert. Und das soll dreißig Jahre später nicht mehr so sein? Dass der Weg nicht einfach ist, ist klar. Ist er aber wahrscheinlich auch nicht für die Kinder von Unternehmern, die einen künstlerischen Weg einschlagen wollen usw.. Mir ist das in den Romanen und autobiografisch ausgerichteten Büchern oft zu platt, wenn es darum geht, die Geschichte verallgemeinern zu wollen, um daraus in großem Maße gesellschaftliche Umstände abzubilden.
      Als Charakterstudie ist Deniz Ohdes Geschichte natürlich überzeugend.
      Nun bin ich wirklich gespannt, was du zum Roman sagst. Und ich hoffe, du findest, trotz der anstrengenden Zeiten, dazu, ihn zu lesen.
      Viele Grüße, Claudia
      PS: Interessiert mich jetzt aber doch: ist es in Hessen so, dass die Sonstige Mitarbeit 60 % zur Gesamtnote beiträgt?

  2. Hallo Claudia,
    da ich selbst auch aus einem Nichtakademiker-Haushalt komme (allerdings mit großer Unterstützung von Seiten meiner Eltern) hätte ich mit einseitig pauschalisierenden Romanen bestimmt auch meine Probleme, allerdings ist das bisher noch ein ziemlich weißer Fleck auf meiner Leselandkarte. Allerdings habe ich schon viele Schüler (eher Jungen) gehabt, die ganz sicher intellektuell einen jeweils „höherern“ Bildungsabschluss hätten schaffen können und sich dabei selbst ganz fürchterlich im Weg gestanden haben, besonders dann wenn das Elternhaus eher ein Hindernis denn eine Stütze war. Und das scheint mir unser Schulsystem nicht gut genug zu kompensieren. Gleichzeitig, wenn die Schüler mit 16/17/18 Jahren zu uns kommen, hat einfach schon Prägung stattgefunden, das lässt sich auch nicht einfach wegzaubern.
    Zu deiner Frage: Sprachliche Fächer berücksichtigen die mündliche Note mit 50 % bei der Gesamtnote (dazu zählen dann Vokabeltests, Präsentationen, Hausaufgaben…).
    Und das Thema Corona an der Schule ist höchst unerfreulich. Dreimal pro Doppenstunde friere ich mich und besonders die, die am Fenster sitzen, ein, um sie dann anschließend wieder aufzutauen. Und die Verwaltung, die die AbteilungsleiterInnen und der Schulleiter dazu leisten müssen, bindet Zeit, Energie und Nerven.
    Liebe Grüße, bleib gesund!
    Anna

    • Liebe Anna,
      ich bin eine dieser Abteilungsleiterinnen, aktuell auch noch mit dem Corona-Telefon ausgestattet, bei dem alle positiven Fälle zu den Nicht-Sekretariatszeiten ankommen. Ein ganz großer Abend- und Wochenendspaß: Schüler*innen und Lehrer*innen anrufen, um freiwillige Quarantäne bitten, alle Informationen für das Gesundheitsamt aufbereiten usw. usw.
      Die Probleme im Schulsystem, die du schilderst, könnten aber eigentlich nur mit einer komplett durchgeführten Ganztagsschule gelöst werden. In der auch die Nachmittagsstunden mit sinnvollen Konzepten und nicht nur mit Betreuung/Beaufsichtigung/Hausaufgabenhilfe versehen werden. In der alle Schülerinnen und Schüler – unabhängig vom Unterricht – Verschiedenes ausprobieren können, um weitere als schulische Stärken und Schwächen kennnenzulernen. Und spätestens bei dieser Forderung werden die Länder-Finanzminister wieder Schulpolitik betreiben.
      Trotzdem: ich Vergleich zu anderen Ländern, beispielsweise zu Frankreich, haben wir ein Schulsystem, das auch später noch Chancen eröffnet, Durchstiege ermöglicht und manchen Entscheidungen nach der Grundschule noch eine neue Richtung geben kann. Kaum jemand kennt auch die Möglichkeiten, die in den Bildungsgängen der berufsbilden Schulen, in NRW heißen sie Berufskollegs, geboten werden.
      Liebe Grüße, Claudia

  3. Anonymous sagt

    Hallo Claudia,
    deiner Einschätzung stimme ich ganz und gar zu. Wünsche dir gute Nerven, Überblick, Weitblick und natürlich rasch sinkende Fallzahlen. Und erholsame Auszeiten!
    LG Anna

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