Alle Beiträge, die unter Wirtschaft gespeichert wurden

Ling Ma: New York Ghost

Soll man in der Covid-Pandemie tatsächlich ein Buch lesen über eine Pandemie? Eine Pandemie, die zum ersten Mal in China aufgetreten ist, in Shenzhen, und die sich von dort in kurzer Zeit weltweit ausbreitet. Zu deren Schutz dieselben – manchmal hilflosen – Maßnahmen ergriffen werden, wie wir sie kennen, nämlich (am Anfang viel zu wenige) FFP 2-Masken und Latex-Handschuhe, Home-Office und Social-Distancing. Und ich kann hier schon sagen: ja, der Roman ist absolut lesenswert, weil eben nicht nur über eine Pandemie erzählt wird, sondern durch diese Extremsituation unsere Arbeit und unsere Gesellschaft, unsere Art des Lebens und unsere Werte wie unter einem Brennglas beleuchtet werden. Ling Ma hat mit diesem Debüt, das bereits 2018 im Original erschienen ist, die Pandemie als das Bild gewählt, wie in unserer globalisierten Welt alles miteinander verwoben ist.  Die Pandemie wird in ihrem Roman durch eine Pilzinfektion ausgelöst, die zu Kopfschmerzen, Müdigkeit und Fieber führt und vielen erst wie eine Erkältung erscheint. Sie tritt zum ersten Mal bei Arbeitern in Shenzhen auf, die unter den Arbeitsbedingungen der stetigen Kostensenkung Produkte …

Enno Stahl: Sanierungsgebiete

Lynn ist ratlos. Bald ist ihr Architekturstudium zu Ende, es fehlen nur noch die Diplomarbeit und ein mehrmonatiges Praktikum. Aber sie weiß nicht, worüber sie schreiben soll, weiß auch nicht, wie sie an eine Praktikumsstelle kommen soll, nun, da es alle Studenten absolvieren müssen. Warum sie nicht über ihre Straße schreibe, fragt Frank, ihr Kommilitone. Da sei so viel saniert worden seit der Wende, das wäre doch bestimmt ein gutes Thema. Lynn wohnt in der Rykestraße und diese Straße am Prenzlauer Berg ist ausgewiesenes Sanierungsgebiet. Hier, so hat der Senat von Berlin festgelegt, sollen bauliche Maßnahmen an den zu DDR-Zeiten lange nicht modernisierten Gebäuden unterstützt werden. Und ebenso soll die Infrastruktur verbessert werden, durch Spielplätze und Grünflächen beispielsweise und verkehrsberuhigte Zonen. Lynn nimmt die Idee auf, entwirft ein Konzept und schlägt das Thema ihrem Professor vor. Der akzeptiert es, auch wenn Lynn hier mehr soziologische als bautechnische Forschungsfragen aufwirft. Denn ihr Interesse liegt ja vor allem bei der Frage, wie die Sanierungen auf die dort wohnenden Menschen wirken. Dabei steht Lynn, die Tochter einer Anwältin …

Thorsten Nagelschmidt: Arbeit

Ein Roman mit dem schlichten Titel „Arbeit“ lässt Erinnerungen aufkommenan die Literatur der 1970er Jahre, Literatur über körperlich harte, schwere und schmutzige Arbeit in den Fabrikhallen, den Hütten und Kohlerevieren (des Ruhrgebiets), Literatur auch, in der über die Lebensumstände der Arbeiter erzählt wurde. Mit dieser Assoziation aber liegt man – auf den ersten Blick – gründlich daneben. Thorsten Nagelschmidts Roman spielt im heutigen Berlin, auf den quirligen Straßen Kreuzbergs. Er erzählt von denen, die dafür sorgen, dass das Leben und das Feiern auch nachts weitergehen: von Heinz-Georg Baderzky, dem Taxifahrer, von Anne, der Frau vom Späti, von Felix, dem Dealer, von Tanja und Tarek, den Rettungssanitätern. Von Sabrina, die in aller Herrgottsfrühe am Samstagmorgen aufsteht und mit ihrer Küpperweisser die Spuren der Nacht auf Straße und Gehweg beseitigt. Und von Ingrid. Sie hat einmal Soziologie studiert, ein Fach, mit dessen Abschluss sie, so erklärt sie ihren Berufsweg, Taxifahrerin werden konnte oder Antiquarin. Sie besaß keinen Führerschein, also wurde es das Antiquariat. Das hat sie mit Harald geführt, ihrem Mann. Es scheint, dass sie alle Bücher …

Verena Mermer: Autobus Ultima Speranza

Es ist ein paar Tage vor Weihnachten am Busbahnhof in Wien. Die Fahrer bereiten die Busse für die nächsten langen Fahrten vor oder machen eine Pause, erste Fahrgäste für die nächsten Touren treffen ein. Hier, am Busbahnhof, kommen die zusammen, die sich auf eine Reise begeben. Aber die, die hier eintreffen, fahren nicht in den Urlaub oder starten zu einer Besichtigungstour. Die, die hier losfahren, pendeln zwischen ihrer Arbeit und ihren Familien. Die meisten der Passagiere des Busses mit dem pinken Logo der Gesellschaft Speranza fahren über die Weihnachtstage nach Cluj in Rumänien. Sie besuchen dort ihre Familien, die sie das Jahr über kaum sehen, weil sie in Österreich, in Deutschland, in Großbritannien arbeiten. Nur wenige Mitreisende fahren zurück nach Cluj, weil sie ihre Familien schon besucht haben und sie mit Kommilitonen oder Freunden feiern werden. Verena Mermer erzählt in ihrem Roman von dieser einen Fahrt von Wien nach Cluj im Autobus der Linie Speranza. Wir lernen Fahrer und Passagiere kennen, manche kurz nur, manche länger und genauer. Und dabei bekommen wir Einblicke in die …

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen

Anke Stellings Roman führt uns mitten hinein in den modern-alternativen und trotzdem konservativen Großstadtkiez, in dem die sozialen Unterschiede von früher nur auf den ersten Blick aufgelöst sind. Da ist Resi, Schriftstellerin und Journalistin, mit ihrem Mann Sven, einem Künstler und den Kindern Bea (14), Jack (11), Kieran (8) und Lynn (5). Resi stammt aus einer Familie, die einmal als bildungsnah, als guter Mittelstand bezeichnet wurde. Sie verfügt über eine gute Schulbildung und ein Studium. Sven natürlich auch, er hat es im Gymnasium sogar zu den Alten Sprachen geschafft. Doch bei der Berufswahl sind sie irgendwie falsch abgebogen, haben sich gleich beide für Jobs entschieden, die zwar selbstbestimmt und kreativ sind, keineswegs aber eine soziale Sicherheit, geschweige denn einen finanziellen Aufstieg garantieren. Anders als die Freunde aus Schulzeiten, die als Architekten und Ärzte längst ihre Schäfchen ins Trockene gebracht haben. Und dann auch noch vier Kinder, die zusätzlich zum Armutsrisiko beitragen. Trotz der langen Ausbildungen, trotz einer anspruchsvollen Arbeit können Resi und Sven sich die Mietwohnung innerhalb des Berliner U-Bahn-Ringes kaum mehr leisten, den Musikunterricht …

Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne

Die gesamtwirtschaftlichen Daten sahen zum Jahresende so gut aus, dass sich Angela Merkels Einschätzung „Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut“ (hier und hier, beide Links von 2018) wiederum zu bewahrheiten schien. Da verwundert ein Essay mit dem doch ganz anders konnotierten Titel „Abstiegsgesellschaft“ sehr. An der Universität Basel beschäftigt sich Oliver Nachtwey mit der Auswertung von gesamtwirtschaftlichen Daten, um damit der sozialen Verfasstheit unserer Gesellschaft und den Veränderungen im Ablauf der vergangenen Jahrzehnte auf die Spur zu kommen. Als Professor für Sozialstrukturanalyse erforscht er die Sozialstruktur von Gesellschaften, erforscht ihre sozialen Milieus und die dabei gelebten Lebensstile der verschiedenen Milieus. Und auch wenn seine Thesen aus dem Band „Abstiegsgesellschaft“ von 2016 stammen, so wird, wenn man die neueren Daten noch einmal genauer recherchiert, schnell deutlich, dass seine Thesen auch für 2018 keineswegs überholt sind. Und manches, was er im Text dargelegt hat, z.B. die Entwicklungen am rechten Rand des Parteienspektrums, haben sich im Laufe der fast drei Jahre nach Erscheinen des Essays noch deutlicher herausgebildet. Vor ein paar Monaten schon hat …

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin

Als ich vor ein paar Wochen Birgits Besprechung des Romans von Julia von Lucadou gelesen habe, hatte sie mich mit der „Hochhausspringerin“ gleich am Wickel. Zwar schickt die Autorin ihre Figuren in eine dystopische Gesellschaft – und das ist nicht das Genre, das mir immer zusagt -, dafür aber haben die Figuren mit so ziemlich allen Aspekten zu kämpfen, die ich in der Gegenwartsliteratur so oft vermisse: nämlich einem Leistungs- und Wettbewerbsdenken, das in wirklich alle Lebensbereiche vorgedrungen ist. Kombiniert wird das mit den vielfältigen Möglichkeiten der digitalen Selbst- und Fremdüberwachung. Durch Kameras, die jede Bewegung jeder Person bis in die eigene Wohnung hinein erfassen, durch Schlaf-, Stress- und Fitnesstracker, die die aktuellen Werte auch an den Chef melden, der dann seinen Mitarbeiter umgehend zu mehr „Meditation, Entspannungsübungen“ und bewusstem Atmen rät. Das alles ist zwar Science-Fiction – aber gar nicht so ganz weit weg von unserem Leben, denn über die Technik, die hier genutzt wird, verfügen wir zum großen Teil schon. Dass Julia von Lucadous Roman auch noch ein Debüt ist und auf der …

Anja Kampmann: Wie hoch die Wasser steigen

Seit dem 19. Jahrhundert sind Menschen aus aller Herren Länder ins Ruhrgebiet gekommen. Sie sind den schlechten Lebensbedingungen in ihrer Heimat entflohen und haben hier Arbeit gefunden, „unter Tage“ beim Kohleabbau oder in den Stahlwerken beim „Stahl kochen“. Sie haben schwere und oft auch gefährliche Arbeit geleistet, haben ihre Gesundheit ruiniert bei Arbeitsunfällen und durch das schleichende Gift des Kohlenstaubs. Sie haben sich oft ihr Leben lang nicht heimisch gefühlt in der neuen Heimat in Bottrop oder Dinslaken, in Gelsenkirchen oder Dortmund und in den kleinen, ärmlichen Bergbauwohnungen direkt neben dem Pütt. Aber sie haben zumindest mit ihren Familien gelebt, sind an einem Ort geblieben und haben Freundschaften geschlossen. Und manch einer hat neue Hobbys gefunden, den Fußball oder die Taubenzucht. Heute sind die Zechen nördlich der Ruhr längst geschlossen. Der Hunger der Welt nach Energie wird in den Ölfeldern gestillt, die Arbeit ist dorthin gewandert, mit ihr die Arbeiter. Wie damals unter Tage arbeiten nun Männer verschiedenster Nationalitäten auf den Ölplattformen, aber sie gehen nach der Arbeit nicht zu ihrer Familie nach Hause, sondern …

Tanguy Viel: Selbstjustiz

Tanguy Viels Roman hat viele Ähnlichkeiten mit Norbert Scheuers Roman vom „Grund des Universums“. Wie Scheuer hat Viel seinen Roman in der Provinz angesiedelt, am bretonischen „Ende der Welt“, im Finistère, in der Nähe von Brest, an der Küste mit dem oft grauen Wetter, dem rauen Atlantik, dem Kreischen der Vögel. Wie bei Scheuer gibt es auch hier einen Immobilienmakler als Inkarnation des Raubtierkapitalismus, der den Politikern und den Bewohnern der vom Strukturwandel geplagten Region – hier ist es die Marinebasis, die mehr und mehr Mitarbeiter mit jeweils schönen Abfindungen entlässt – das Blaue vom Himmel verspricht. Und wie bei Scheuer spielt auch hier die Natur eine große Rolle, die Landschaft, das Wetter und das Meer, die allesamt ihre Spuren bis in die Erzählungen, bis in die Sprache der Menschen hinterlassen haben. Der Immobilienentwickler heißt Antoine Lazenec und kommt mit perfekt geputzten spitzen Schuhen, in schwarzer Anzugjacke und mit nach Pariser Art offen stehendem Hemd, vor allem standesgemäß in einem cremefarbenen Sportwagen zur Ortsbesichtigung. Wenn er das „Schloss“ des Ortes, eigentlich nur ein großes Haus …

Norbert Scheuer: Am Grund des Universums

Nach den Leseausflügen nach Paris, New York, Istanbul und wiederum Paris könnte die Eifelgemeinde Kall, in der die Romane Norbert Scheuers angesiedelt sind, kaum gegensätzlicher sein. Aber auch wenn dort alles einige Nummer kleiner ist als in den Weltmetropolen, so sind die Fragen der Menschen an das Leben, ihre Lebenspläne, ihr Glück und ihr Unglück, ihre Liebe und ihr Verrat doch gar nicht so verschieden zu den Problemen der Großstadtbewohner. Die Rolle von Wolkenkratzern, Museen und Galerien, Parks und U-Bahnen übernimmt die Landschaft, die das Leben der Menschen, ihre Träume und ihre Erzählungen prägt. Von einer übersichtlichen Menschenschar in Kall erzählt also Norbert Scheuer in seinem Roman und zeigt im Kleinen, dass es hier keineswegs ums Provinzielle geht, sondern durchaus um die großen und wichtigen Themen des Lebens. Wer nach Kall reisen möchte, der nimmt in Köln den Zug in Richtung Trier. Fährt durch Bad Münstereifel und dann durch den Tunnel, hinter dem das alte Bergbaugebiet anfängt, das Kall vor Jahrzehnten zu einer wohlhabenden Gemeinde gemacht hat. Die aufgelassenen Stollen, Gänge und Höhlen, das Unsichtbare …

Virginie Despentes: Das Leben des Vernon Subutex

Es sind im Moment die französischen Autoren, die die aktuellen und spannenden Geschichten erzählen, die realistischen, die lauten und schrillen Geschichten, die in schönster Selbstverständlichkeit Risse und Brüche in der Gesellschaft ausleuchten und dabei kein Blatt vor den Mund nehmen: Yannick Haenel gehört zu diesem Autoren mit seinem Roman „Die bleichen Füchse“, in dem er seinen erst arbeits- und dann obdachlosen Protagonisten Jean Deichel in die Gesellschaft der Flüchtlinge aus Mali führt, die Gesellschaft der Sans-Papiers, der illegal Eingewanderten, die ein „Manifest der bleichen Füchse“ entwickeln. Oder Shumona Sinha mit „Erschlagt die Armen.“ und einer Protagonistin, die, selbst nach Frankreich eingewandert, bei Asylverfahren ihrer Landsleute dolmetscht und dadurch tiefe Einblicke in die verfahrene Situation des europäischen Asylrechts geben kann und die nun einem Migranten in der Metro eine Flasche Wein über den Kopf geschlagen hat. In diesen Kanon lässt sich auch Virginie Despentes mit ihrem Roman über Vernon Subutex einreihen. Sie verortet ihre Romanhandlung allerdings nicht in den Einwanderungsmilieus und sie gestaltet ihre Geschichte mit einem großen Figurenensemble auch wesentlich vielschichtiger als Haenel und Sinha. …

Lukas Bärfuss: Hagard

Ist es möglich, in einer europäischen Großstadt, in einer Stadt in der Schweiz, einfach verloren zu gehen? So verloren gehen wie die Boing 777 der Malaysia Airlines, die ein paar Tage vor der hier erzählten merkwürdigen Geschichte um den Immobilienentwickler Philip auch einfach vom Radar verschwunden war? Ist es möglich, dass sich ein ganz normaler Bürger erst auf ein belanglos erscheinendes Spiel einlässt, dann aber in einen Strudel gerät, der ihn die üblichen Konventionen vergessen lässt, ihm einen Rückweg ins „normale“ Leben unmöglich macht? Lukas Bärfuss erzählt in seinem Roman „Hagard“ genau solch ein Geschichte, er erzählt, wie Philip sich in kaum mehr als 24 Stunden komplett aus seinem Leben katapultiert. Philip ist durchaus erfolgreich, ein Projekt auf Gran Canaria steht gerade vor den letzten Abschlüssen. Er besitzt eine Wohnung, ein Auto, ein Büro, beschäftigt eine Angestellte, Vera, und hat ein Kind, einen Sohn im Kindergartenalter. Er ist Ende 40, raucht, in den letzten Jahren hat er ein paar Kilo zugelegt. Sein Leben ist durchgetaktet, mit seinem Handy ist er in ständigem Kontakt mit Vera, …

Jonas Lüscher: Kraft

Immer wieder habe ich hier auf dem Blog gefragt, wo denn die Romane sind, die sich mit den ganz aktuellen gesellschafts- und vor allem auch wirtschaftspolitischen Themen auseinandersetzen und die uns durch ihr Erzählen einen anderen Blick und ein anderes Verständnis auf unsere Welt und unsere Konflikte ermöglichen. Mit der Novelle „Frühling der Barbaren“ hat Lüscher sich schon dieses Themas angenommen und hat erzählt von den (wirtschaftlichen) Egoismen und Barbareien, die es überhaupt erst ermöglichten, dass eine Finanzkrise ausbricht. Und nun begibt sich Lüscher in seinem neuen Roman ganz hinein in die Kreise und Zirkel, die Teil hatten an den wirtschaftsliberalen Veränderungen, die zufällig – oder aus Klugheit – mit aufgesprungen sind auf den Zug der Veränderung, der in den 1980er Jahren begann, und die davon profitiert haben und nun vor einem Scherbenhaufen stehen. Richard Kraft, philosophischer Deuter und Erklärer des freien Marktes, ist einer von ihnen. Kraft ist angesehener Wissenschaftler, immerhin in der Nachfolge Walter Jens´ der Inhaber der Rhetorik-Professur in Tübingen, und steht finanziell vor einem Desaster. So klug, brillant und scharfsinnig seine …

Imbolo Mbue: Das geträumte Land

„Das geträumte Land“ hätte DER Roman werden können für „Das graue Sofa“, ein Roman, der auf das schönste die beiden Schwerpunktthemen, nämlich die Ökonomisierung aller Facetten unseres Lebens und die Probleme um Flucht, Vertreibung und Heimatlosigkeit hätte verbinden können. Denn der Roman erzählt genau von diesen beiden Themen, indem er die Wege von Jende Jonga und seiner Frau Neni, kamerunische Flüchtlinge in New York, mit denen der Bankerfamilie Edwards just zur Zeit der Lehmann-Pleite 2008/2009 verknüpft. Wie Jendes Leben in Limbe ist, welche Chancen in der Gesellschaft er hat, das ist schon bei seiner Geburt festgelegt worden. Er entstammt einer armen Familie, einer Familie ohne „Namen“ und wird nie eine Möglichkeit zum Aufstieg haben. Der Job als Straßenfeger ist gleichzeitig auch das Ende der Karriereleiter. Und bedeutet auch, dass er niemals Neni wird heiraten können, denn Neni entstammt einer Familie, die – zumindest für ein paar Jahre – Geld hatte. Damals nämlich, als ihr Vater im Hafen beim Zoll (!) arbeitete und so viel verdiente, dass die Familie sich ein Haus leisten konnte und seit …

Vincenzo Latronico: Die Verschwörung der Tauben

In die Welt des großen Geldverdienens taucht Vincenzo Latrinicos Roman von der „Verschwörung der Tauben“ ein und führt uns vor allem das Personal vor, das für diesen ebenso großen Betrug verantwortlich ist. Das große Geld verdienen – das ist der Traum der Mitspieler, die diesen Roman bevölkern. Gar nicht mal, um sich dann mit edlen Gütern zu umgeben oder dem schönen Nichtstun zu frönen, sondern vielmehr um endlich die Anerkennung des Vaters zu bekommen, wenn der große Deal klappt, oder, noch besser: um im Wettbewerb mit den anderen Spielern als der Sieger hervorzugehen, der das ganz große Rad gedreht hat – und vielleicht auch aus Rache. Verschiedene Wege gibt es, um an das große Geld zu kommen: Eine akademische Karriere kann Reputation und viele gute Kontakte erschaffen, die für kleinere und größere Geschäfte „nebenher“ genutzt werden können, sodass zum staatlich gesicherten Einkommen ein kleines oder auch größeres Zubrot verdient werden kann; es können Häuser gebaut oder restauriert werden, beständige Werte immerhin, die eine Wertschöpfung darstellen; es können Häuser luxussaniert werden und Stadtviertel aufgewertet – gentrifiziert …

Tom McCarthy: Satin Island

Ein Anthropologe untersucht das Wesen der menschlichen Existenz, besonders gerne in Gegenden, die möglichst abgelegen, am besten gar abgeschnitten vom Rest der Welt, sind. Meistens reist er in diese Gebiete, lebt mit den Menschen dort wochen- und monatelang zusammen und kommt durch die Methodik der „teilnehmenden Beobachtung“ und unter Wahrung seiner eigenen Distanz zu den beobachteten Menschen zu seinen Erkenntnissen. Er untersucht alles an der Art der Menschen zu leben und bezieht dabei auch die unterschiedlichen kulturellen Kontexte mit ein, die verschiedenen wirtschaftlichen Bedingungen und die differenzierten religiösen oder weltanschaulichen Werte und Normen. So kann er herausfinden und erklären, warum uns die Menschen so „fremd“ sind. Tom McCarthy macht in seinem Roman einen Anthropologen zum Protagonisten. Der aber soll nun nicht die ungewöhnlichen Riten von Menschen an unzugänglichen oder vergessenen Stellen der Welt durch Beobachtung, Systematisierung, Analyse und Interpretation untersuchen, sondern hat den Auftrag bekommen, den Großen Bericht zu schreiben über uns und unsere Art zu leben. Gleich im ersten Kapitel des Romans können wir lernen, wie ein Anthropologe unsere Welt sieht: wie sich reales …

Friederike Gösweiner: Traurige Freiheit

Hannah steht vor einem Scherbenhaufen. So oft sie sich auch als Journalistin bewirbt, sie bekommt keinen Job. Und die Partnerschaft zu Jakob, die Partnerschaft, die sie einst als sicheren Hafen, als Bollwerk gegen die Anfeindungen des Lebens, gesehen hat, hat sich auch in Luft aufgelöst. Nun ist Hannah 30 Jahre und ist an diesem runden Geburtstag alleine in Berlin, ohne Anrufe, ohne Emails, ohne Freunde, ohne große Geburtstagsparty. In dem kleinen Einzimmer-Appartement der Freundin Miriam, die gerade für einen Fernsehsender in Moskau arbeitet, wohnt sie, das wenige Geld, das sie hat, muss sie sorgfältig verwalten. Und dabei haben ihre Eltern ihr vor ein paar Jahren noch gesagt, dass sie es dich gut habe. Dass sie doch zu einer Generation gehöre, die alle Freiheiten habe, „der alle Wege offenstünden. Man könne alles werden, alles sein, hieß es, alles sei möglich, das sei die totale Freiheit.“ Friederike Gösweiner fackelt nicht lange, erzählt gar nicht erst um den heißen Brei. Nach den ersten beiden Kapiteln liegen die beiden Konfliktfelder fein säuberlich ausgebreitet vor dem Leser. „Dann hat es …

Sabine Donauer: Faktor Freude. Wie die Wirtschaft Arbeitsgefühle erzeugt

Vor einhundert Jahren machte Max Weber eine interessante Beobachtung bei den Arbeitern in der Produktion: Bei jeder Erhöhung des Stücklohns nämlich gingen sie einfach früher nach Hause. Das kann niemand verstehen, der sich heute mit der Arbeitswelt beschäftigt. Wie soll denn ein Arbeiter in seinem Leben vorankommen, wie eine bessere Wohnung finden, Konsumgüter jeder Art zur Erleichterung des Lebens und zur Unterhaltung erwerben, vielleicht sogar einen Urlaub machen, wenn er die Möglichkeit zu einem höheren Einkommen zu gelangen ausschlägt? Wie soll ein Unternehmen, wie soll eine Volkswirtschaft vorankommen, wie soll Wirtschaftswachstum erzielt werden, wenn die Arbeiter nicht einmal über den Faktor Lohn zu mehr Arbeit, zu mehr Output motiviert werden können? Mit solchen Arbeitern jedenfalls, die sich bewusst für Freizeit entscheiden statt für ein höheres Einkommen, ist kein Kapitalismus zu machen. So notierte dann auch Max Weber in seiner „Protestantischen Ethik“, dass es eines „Erziehungsprogrammes“ bedürfe, damit die Arbeiter „die rechte Gesinnung“ und ein „Verantwortlichkeitsgefühl“ entwickelten für eine Produktion in einem wachstumsorientierten Umfeld. Wer heute einen Blick in die Stellenanzeigen wirft, der reibt sich auch …

Anna Katharina Hahn: Das Kleid meiner Mutter

Man nehme: das bedrückende und traurige Leben einer jungen spanischen Akademikerin, die wegen der Euro- und Wirtschaftskrise keine Arbeit findet und bei ihren Eltern wieder in ihr altes Kinderzimmer einziehen muss; schaurige und fantastische Motive, die aus der Romantik entlehnt sind, einer Epoche, die gegen die Rationalität von Aufklärung und Industrialisierung erzählen wollte; einen Schriftsteller, der sich dem Literaturbetrieb und der Öffentlichkeit konsequent entzieht und dadurch erst einen richtigen Hype um seine Person auslöst; und eine gut Prise Nazi-Vergangenheit. Ana María, auch Anita genannt, ist die Protagonistin und Ich-Erzählerin, eine temperamentvolle Spanierin, die ihren Gefühlen meistens freien Lauf lässt. Und was sie empfindet und denkt an diesem denkwürdigen Samstagmorgen, das klingt wie der viel versprechende Anfang eines rasanten Romans zur Wirtschaftskrise. Eigentlich wollten die Eltern zusammen mit Ana María über das Wochenende in das Ferienhaus in den Bergen der Sierra Guadarrama fahren. Dann aber machen die Eltern noch einen Spaziergang im Jardin Botánico und als sie nach Hause kommen, fühlen sie sich kränklich und legen sich hin. Ana María ist langweilig, sie fragt ihre Freundinnen …

Ulrich Peltzer: Das bessere Leben

Der Beruf des Salesman, so berichtet Terézia Mora in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen, eigne sich so gut für Romanfiguren, weil er etwas erzähle „über die Zeit, in der wir jeweils leben“. In Peltzers Roman treten gleich drei Salesmen auf und erzählen uns etwas über unsere Zeit, keine ganz kleinen Angestellten, sondern international agierende Händler, die große Volumina umsetzen und es insofern auch selbst geschafft haben zu einem „besseren Leben“. Sie alle sind um die 50, entstammen verschiedenen Gesellschaftssystemen, haben ganz unterschiedliche Jugendträume gehabt, unterschiedliche Werdegänge und Erlebnisse; und sind doch heute alle da, wo es sich um die größeren Aufträge dreht. Was sind das für Menschen, was bewegt und motiviert sie, welche Träume haben sie (noch), welche Ziele haben sie, welche Werte, welche Verantwortlichkeiten? Ulrich Peltzer hat einen faszinierenden zeitgenössischen Roman geschrieben, ja es scheint tatsächlich möglich zu sein, einen Roman zu schreiben mit zeitdiagnostischem Blick, der zudem nicht ganz ohne Anspruch ist an den Leser – und das gleich aus mehrfacher Sicht: Peltzer entfaltet vor den Augen des Lesers ein Wimmelbild von Figuren und ihren …

Karl Wolfgang Flender: Greenwash, Inc.

Thomas Hessel mag Blasen. Schon als Kind liebte er es, wenn er mit seinem Bruder in der Badewanne saß, die Schaumblasen mit dem Finger zu zerdrücken. Und seine Liebe zu den Blasen ist ihm geblieben. Nun, als Erwachsener spielt er für sein Leben gerne und in jeder sich nur bietenden Situation auf seinem Smartphone Bubble-Shooter, angetrieben von der Jagd nach dem nächsten High-Score, denn dann zeigt sich auch das putzige Eichhörnchen. Und um Glück arbeitet Hessel in einer Branche, in der Champagner-Trinken zum guten Ton gehört. Wenn Hessel beispielsweise eine Gruppe Journalisten in einem Reisebus vom Flughafen eines südamerikanischen Landes, vorbei an Wellblechhütten, ausgelaugten Böden und vielen anderen Zeichen der bitteren Armut, ins Hotel begleitet, dann bietet man den Journalisten doch wirklich gerne ein Glas Champagner an. Das hebt die Laune der müden Reisenden und zeigt die Wertschätzung der Agentur gegenüber ihren Gästen. Denn Hessel arbeitet in einer PR-Agentur, einer mit ganz besonderer Ausrichtung. Zu Mars & Jung kommen die Kunden, die gerade eine schlechte Presse haben, weil sie erwischt worden sind bei Kinderarbeit und …

Rainald Goetz: Johann Holtrop

Aus Anlass der Vergabe des Büchner-Preises an Rainald Goetz sei hier noch einmal an seinen Roman „Johann Holtrop“ erinnert (ursprünglich veröffentlicht im August 2014): Dieser Tage berichten die Zeitungen über die neue, wohl wissenschaftlich belastbare Erkenntnis, dass Psychologen erst gar nicht mehr lange Fragebögen entwickeln müssen, wenn sie herausfinden wollen, ob ihr Gegenüber eine narzisstische Persönlichkeit hat. Die Frage „Ich bin ein Narzisst. Wie sehr stimmen Sie dieser Aussage zu?“ reiche völlig aus, um das herauszufinden, denn die Betroffenen geben offen zu und seien geradezu stolz darauf, sich selbst ganz großartig zu finden und zu meinen, viele Dinge besser zu können als andere, während ihnen Selbstkritik völlig fremd sei, ebenso wie Mitgefühl. Wenn dieses Erkenntnis stimmt, dann ist Johann Holtrop Narzisst. Er ist prominenter Manager eines Medienunternehmens, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG, erfolgreich zur Jahrtausendwende, zur aufregenden und aufgeregten Zeit der New Economy, die zum Ende der 1990er Jahre viele Fantasien befördert und die ersten „Investoren“ steinreich gemacht hat. Holtrop verkauft in der Boomphase einen Unternehmensteil und spült damit eine richtig große Summe Geld ins …

Robert Kisch: Möbelhaus. Ein Tatsachenroman

Fast könnte man meinen, dass Robert Kisch dort weiter schreibt, wo Kristine Bilkaus Roman „Die Glücklichen“ endet. Wie in Bilkaus Roman nämlich Georg, so ist auch hier ein Journalist, nämlich Robert Kisch, arbeitslos, gleich zweimal hintereinander hat ihn die Krise der Zeitungen getroffen, gleich zweimal hintereinander ist er gekündigt worden – und nun findet er keinen neuen Job mehr. Selbst die Versuche, es als freier Journalist zu schaffen, klappen nicht. So wie Georg hat auch Robert einen Sohn, fühlt auch er sich als Familienvater verpflichtet, für das Familieneinkommen zu sorgen. Nur Robert ist schon einen Schritt weiter als Georg, einen Schritt weiter auch nach unten auf der sozialen Leiter, denn er hat sich entschlossen, irgendeinen Job weit außerhalb des Journalismus anzunehmen, Hauptsache ein sicheres monatliches Einkommen, und so hat er begonnen, in einem großen Möbelhaus als Verkäufer zu arbeiten. Der morgendliche Gang „ins Gefängnis“, wie die Mitarbeiter den sonnenlichtlosen Bau nennen, die Morgenbesprechung, bei der die Abteilungsleiter ihre Verkäufer „auf Kurs bringen“, dies ist natürlich nicht bezahlte Arbeitszeit, die inhaltsleeren, dummen Phrasen, die die Verkäufer …

Martin Suter: Montecristo

Vielleicht erinnert sich noch einer der Leser an Helmut Dietls „Kir Royal“ und an die Geschichte des Generaldirektors Haffenloher (gespielt von Mario Adorf), der nun nicht unbedingt mit der mafiös-brutalen, sondern mit der rheinländisch-freundschaftlichen Art versucht, den Klatschreporter Schimmerlos davon zu überzeugen, doch endlich eine Story über ihn zu veröffentlichen: Ich scheiß dich sowas von zu mit meinem Geld, dass du keine ruhige Minute mehr hast. Ich schick dir jeden Tag Cash in einem Koffer. Das schickst du zurück. Einmal, zweimal, vielleicht ein drittes Mal. Aber ich schick dir jeden Tag mehr. Irgendwann kommt der Punkt, da bist so mürbe und so fertig und die Versuchung ist so groß und da nimmst es. Und dann hab ich dich, dann gehörst du mir. Dann bist du mein Knecht. Ich bin dir einfach über. Gegen meine Kohle hast du doch keine Chance. Ich will doch nur dein Freund sein – und jetzt sag Heini zu mir. So ähnlich scheint es auch Jonas Brand zu gehen, nur dauert es sehr lange, bis er merkt, dass er mitten drin …

Konrad Paul Liessmann: Geisterstunde. Die Praxis der Unbildung. Eine Streitschrift

Wer sich für das Thema „Bildung“ interessiert, sei es aus professionellen Gründen, als Betroffener oder einfach nur Interessierter, der findet in Liessmanns Schrift eine fundiert ausgeführte Gegenposition zu den regelmäßig in die Bestseller-Charts weit vorn notierten sogenannten Reformpädagogen oder den durch die mediale Aufmerksamkeit lautstark verbreiteten kritischen Schüler-, Eltern- oder Politikermeinungen. Liessmanns Überlegungen scheinen konservativ zu sein, obwohl der Konservatismus nicht seine politische Heimat ist. Er zeigt in seiner viele verschiedene Facetten von Bildung betrachtenden Argumentation auf, dass Bildung Mühe macht, dass Bildung mehr ist als Faktensammlung, weit mehr ist als die Heilsversprechen der neuen Kompetenzen – oder diverser Reformpädagogiken. Und er traut sich etwas, denn er führt, dem Zeitgeist völlig widersprechend, Humboldt an, stellt seine Idee eines drei Stadien berücksichtigenden Unterrichtskonzeptes (Elementarunterricht, Schulunterricht und Universitätsunterricht) vor und fragt, was Schule in diesem Sinne zu leisten habe. Kulturtechniken seien das, sprachliche Fähigkeiten und eben grundständiges Wissen. Und er verweist darauf, auch eine vermeintlich ganz alte und überholte Sichtweise, dass dem Lehrer eine ganz wichtige Rolle zukomme – die Studie des Australiers Hattie, der sich als …

Lese-Schwerpunkt I: Das ökonomische Denken – und wie es in alle Lebensbereiche eindringt

Mein besonderer Leseblick fällt, berufsbedingt wahrscheinlich, immer wieder auf die Bücher, die sich mit aktuellen wirtschaftlichen Entwicklungen und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Einzelnen beschäftigen. Vor fünfzehn Jahren schon hat Uwe Jean Heuser in seinem Buch „Das Unbehagen im Kapitalismus“ darüber geschrieben, wie sich das „Prinzip Markt“ stetig ausbreitet, vordringt in immer mehr Bereiche unserer Gesellschaft. Was sich zum einen gut und vernünftig anhört, dass wir nämlich in immer mehr Bereichen selbstständige und eigenverantwortliche Entscheidungen treffen können, immer unter der Prämisse, ein „gutes Ergebnis“ zu erzielen, kann auch zur Last, zur Überforderung werden. Wir können einfach nicht immer Unternehmer in eigener Sache sein, immer nach dem Kalkül entscheiden, die beste Lösung – wie auch immer die definiert ist – auszuwählen. Schneller als gedacht haben sich tatsächlich diese Wettbewerbs- und Marktprinzipien in Bereichen eingenistet, die in „grauen Zeiten“ einmal explizit von Marktmechanismen ausgenommen wurden, nämlich genau in die Bereiche, die uns als gesellschaftliche Grundversorgungen so wichtig erscheinen, wenn wir ein gut funktionierendes Gemeinwohl aufrechterhalten wollen. Schneller als gedacht gibt es Wettbewerbs- und Marktmechanismen an …

Lilian Loke: Gold in den Straßen

Mitten hinein in die Welt des Kaufens und Verkaufens führt Lilian Lokes Debütroman, in die Welt der Luxusimmobilien, der ausgesucht guten Kleidung, der Schuhe aus besonderem Leder, der teuren und schnellen Autos, des exklusiven Essens und der Benefiz-Galas. Und mitten drin ist Thomas Meyer, mit Allerweltsnamen und Allerweltsherkunft, aber dem besonderen Talent nicht nur Luxusimmobilien zu verkaufen, sondern ganze Lebensträume. An guten Tagen kann er seinen Kunden durch eine ganz ausgeklügelte Inszenierung des Objektes, durch dezente Hinweise auf die die verbauten feinsten Materialien, durch seine besonders gestalteten Besichtigungsrouten, und vor allem durch die dem jeweiligen Kunden völlig adäquate Ansprache, ein bisschen devot, immer zuvorkommend, an den richtigen Stellen bestimmt, die teuersten Immobilien zu leicht überteuerten Preisen verkaufen. Er geht hohes Risiko – und ist sehr erfolgreich. Thomas Meyer spielt in der falschen Liga und daran lässt Loke von Beginn an keinen Zweifel. Beim Joggen am Morgen geht er in Gedanken noch einmal die die Besichtigungsroute durch, mit der er den Kunden vom Haus überzeugen möchte. Bis gestern noch ist er so sicher gewesen, dass sein …

Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken

Wir leben in freien und selbstbestimmten Zeiten. Im Unterschied zu unseren Eltern und Großeltern können wir frei entscheiden, welches Lebensmodell wir wählen, ohne dass daran jemand Anstoß nimmt. Wir können recht selbstbestimmt über Schulbildung, Ausbildung, Hochschule und Weiterbildung entscheiden, können ins Ausland ziehen, für eine gewisse Zeit oder auch für immer, wenn uns der Sinn danach steht. Bei der Arbeit werden wir wahr- und ernstgenommen, mindestens einmal im Jahr können wir den Grad unserer Mitarbeiterzufriedenheit, Probleme und Projektideen in einem Personalgespräch äußern, in vielen Unternehmen kümmert sich eine Personalabteilung um unsere Weiterentwicklung. In der Freizeit können wir nach Herzenslust trainieren und unsere Trainingsverbesserungen per Smartwatch oder Herzfrequenzgurt genau nachverfolgen, analysieren und daraus weitere Schlüsse für unser Trainingsprogramm ziehen. Unsere Kinder lernen schon in der Schule selbstorganisiert zu lernen, sie formulieren ihre Wochen- und Monatslernziele selbstständig, entscheiden, mit welchen Sozialformen und Methoden sie ein lebenswirkliches Problem lösen wollen und reflektieren im Anschluss ihren Lern- und Arbeitsprozess – selbstständig natürlich. Und wenn wir Streit mit dem Nachbarn haben, mit Kollegen oder dem Ehepartner, dann lösen wir das …

Gila Lustiger: Die Schuld der Anderen

Als Gila Lustigers Roman im Januar 2015 erschien, hatte es gerade die Anschläge auf die Redaktion von Charlie Hebdo und den jüdischen Supermarkt in Paris gegeben und der Blick nach Frankreich auf der Suche nach Gründen für diese unglaublichen Taten trieb die Öffentlichkeit um. Möglicherweise hat der genau in jenen Tagen erschienene Roman von Michel Houellebecq alle Aufmerksamkeit auf sich gezogen, zeichnet er doch ein geradezu bizarres Bild nicht nur der politischen, sondern vor allem auch der religiösen Entwicklungen in Frankreich bis in die 2020er Jahre. Das wäre schade, denn der Roman Gila Lustigers Roman setzt sich, wenn auch im Gewand eines Krimis, mindestens genauso mit den Problemen der französischen Gesellschaft, in der die Autorin seit Jahren lebt, auseinander. Sie schaut in ihrem Roman aber nicht in eine so oder so mögliche Zukunft, sondern sucht die Gründe für den Status quo in der Vergangenheit und blickt so zurück in die 1980er Jahre, die für sie wohl den Beginn einer neuen Ära markieren. Mit dem Sieg des sozialistischen Präsidenten Mitterrand begann eine Verstaatlichung wichtiger Unternehmen – …

Yannick Haenel (2014): Die bleichen Füchse

Als „der fesselndste Roman dieses Herbstes“ wurde Yannick Haenels Geschichte um „Die bleichen Füchse“ in Frankreich im Erscheinungsjahr 2013 angekündigt. Fesselnd ist er tatsächlich, wegen seiner Handlung und auch wegen seiner literarische Gestaltung, seiner Bezüge zur Literatur und Geschichte und der immer wiederkehrenden Motive. Er ist aber, um das Spiel mit den Superlativen fortzuführen: provozierend, verstörend und radikal. Und politisch aktuell, auch wenn er die Unruhen in Paris und anderen Städten aus dem Jahr 2005 aufgreift und weiter erzählt, damit aber eine gesellschaftliche Realität beschreibt, die sich bis heute nicht geändert haben mag, die vielleicht auch Auslöser für den Terror im Januar gewesen ist. Die Geschichte beginnt damit, dass Jean Deichel an einem Sonntag im April, es ist der Tag der Präsidentschaftswahl, aus seinem möblierten Zimmer ausziehen muss. Mit der Miete ist er schon seit einigen Monaten säumig. Er ist arbeitslos, und weil er die Formulare nicht ordnungsgemäß ausfüllt, wird immer mehr seiner Arbeitslosenunterstützung gestrichen. Er hat die letzten Wochen vor allem in seinem Zimmer verbracht und kann genau beschreiben, wie die Sonne ins Fenster …

Heike Geißler: Saisonarbeit

Es gibt wenig Literatur darüber, wie es so abläuft in unseren Produktionshallen, Büros und Eventagenturen. Romane, die sich mit der Welt der Arbeit und ihrer Auswirkungen auf die Menschen beschäftigen, Romane, die sich damit auseinandersetzen, wie weit das Primat der Wirtschaft in alle gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen ist, sind kaum zu finden. Auch in den neuesten Verlagskatalogen drängeln sich Entwicklungsromane und die üblichen Geschichten zu Liebe, Lust und Leidenschaft und ihren dramatischen Seiten, flankiert von den Geschichten, die uns in die Vergangenheit entführen. Kaum ein deutscher Roman setzt sich dagegen mit ganz aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen auseinander. So muss der interessierte Leser also zu Fachpublikationen greifen oder ist froh, wenn es wenigstens mal einen Essay, eine Reportage zum Thema gibt. Und einen Essay hat nun Heike Geißler geschrieben über ihre Zeit als Weihnachtssaisonkraft im Leipziger Lager von Amazon – und gleich noch eine Auseinandersetzung über die wirklich alle Energie aussaugende prekäre Arbeit. Auch wer schon einmal an einer Kasse im Supermarkt, an einer Maschine in der Produktion oder an der nach Prinzipien der Arbeitsteilung bis in kleinste …

Marlene Streeruwitz als Nelia Fehn: Die Reise der jungen Anarchistin in Griechenland

Das ist er also, der Roman im Roman. In Marlene Streeruwitz´ „Nachkommen.“ hat Nelia Fehn davon erzählt, wie es einer jungen Autorin ergeht, die mit ihrem Erstling, eben dem Buch über „Die Reise der jungen Anarchistin in Griechenland“ völlig überraschend auf die Shortlist des Deutschen Buchpreis gelangt. Mit großen Augen erlebt sie die Feierstunde des Deutschen Buchpreises – sie geht leer aus -, ebenso staunend läuft sie durch Frankfurt, erlebt die Buchmesse und die wichtig-grotesken Abendessen mit Verlegern und Geldgebern, die merkwürdige Welt der Interviews, die gähnende Langeweile an abgelegenen Ständen, die High Society der Literaturkritiker und andere Absurditäten. Nun können wir uns also auch ein Bild über den nominierten Roman machen – und natürlich auch Nelias Erfahrungen auf ihrer griechischen Reise nacherleben. Da erzählt eine Neunzehnjährige was ihr passiert auf der Fahrt von Kreta nach Athen, erzählt eine Roadnovel, in die sie durch Evangelos, den übergriffigen Freund des Schwagers, geraten ist, zum Teil aber auch durch ihre unglaubliche Naivität. Diese Naivität, gepaart mit ihren sehr klaren, oder auch altklugen, Lebensweisheiten und Zwängen, sind manchmal …

Rainald Goetz: Johann Holtrop

Dieser Tage berichten die Zeitungen über die neue, wohl wissenschaftlich belastbare Erkenntnis, dass Psychologen erst gar nicht mehr lange Fragebögen entwickeln müssen, wenn sie herausfinden wollen, ob ihr Gegenüber eine narzisstische Persönlichkeit hat. Die Frage „Ich bin ein Narzisst. Wie sehr stimmen Sie dieser Aussage zu?“ reiche völlig aus, um das herauszufinden, denn die Betroffenen geben offen zu und seien geradezu stolz darauf, sich selbst ganz großartig zu finden und zu meinen, viele Dinge besser zu können als andere, während ihnen Selbstkritik völlig fremd sei, ebenso wie Mitgefühl. Wenn dieses Erkenntnis stimmt, dann ist Johann Holtrop Narzisst. Er ist prominenter Manager eines Medienunternehmens, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG, erfolgreich zur Jahrtausendwende, zur aufregenden und aufgeregten Zeit der New Economy, die zum Ende der 1990er Jahre viele Fantasien befördert und die ersten „Investoren“ steinreich gemacht hat. Holtrop verkauft in der Boomphase einen Unternehmensteil und spült damit eine richtig große Summe Geld ins Portefeuille seines Arbeitgebers – und ins eigene. Und weil er so erfolgreich ist, sind natürlich die Journalisten hinter ihm her, fragen nach Interviews, wollen …

Rafael Chirbes: Am Ufer

Als Wirtschaftskrimi kündigt der Verlag Rafael Chirbes Roman an, als Buch zur spanischen Finanzkrise empfiehlt ihn El Pais. Beide Zuschreibungen stimmen – und sind doch zu oberflächlich. Wesentlich vielschichtiger hat der Autor seinen Roman konzipiert und hat eben nicht nur die Auswirkungen der zerplatzten Immobilienblase auf die verschiedenen Milieus einer Kleinstadt in der Nähe von Valencia beschrieben. Chirbes hat uns vor allem Esteban erschaffen, einen knorrigen, und zynischen Handwerker, für den sein siebzigjähriges Leben mehr Enttäuschungen als positive Wendungen bereit gehalten hat. Esteban weiß seine Umgebung – und durchaus auch sich selbst – auch mit Ironie zu betrachten und beurteilen und er gewährt uns durch seine Erinnerungen auch tiefe Einblicke in die spanische Gesellschaft seit dem Ende der Zweiten Republik und der Machtübernahme durch Franco 1936. Es ist der 14. Dezember 2010 an dem Esteban sich auf den Weg macht in die Sümpfe. Zuvor hat er seinen über neunzigjährigen dementen Vater geduscht, ihm neue Windeln angelegt und ihn angezogen, ihm ein Frühstück bereitet und ihn dann in den tiefen Sessel vor den Fernseher gesetzt, aus …

Juli Zehs Corpus Delicti, Big Data und der Friedenspreis des Deutschen Buchhandels

Als Juli Zeh 2009 ihren Roman „Corpus Delicti“ veröffentlichte, schien die von ihr dort als METHODE geschilderte Doktrin doch sehr weit hergeholt zu sein. Einen Staat, der das Rauchen verbietet, den kennen wir ja. Eher unvorstellbar aber ist, dass der Staat so sehr in eine Erzieherrolle hineinwächst, dass er uns so allerlei gesundes Verhalten vorschreibt – und das auch lückenlos überprüft. Und doch wird uns mehr und mehr klar, dass „der Staat“ über Institutionen, die zunächst einmal unbemerkt von der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit agieren, ungehindert Daten sammeln kann, zunächst vielleicht unter dem Deckmantel einer Terrorbekämpfung und mit sehr ungewissen Erfolgen. Neben dem Staat aber, und auch hier weitgehend außerhalb unserer Beobachtung, sammeln aber auch Unternehmenumfassende Daten, der „gläserne Kunde“ ist ihr Ziel, der Kunde, dem man am besten schon Werbung zu Produkten zukommen lassen kann, für die er sich wahrscheinlich erst in naher Zukunftinteressieren wird, der Kunde, dessen Risiko das (Versicherungs-)Unternehmen genau einschätzen kann. In Juli Zehs Gesellschaft, die sich zu Mitte des einundzwanzigsten Jahrhunderts entwickelt hat, ist es das Gesundheitswesen, dass die Menschen beherrscht. …

Philipp Lepenies: Die Macht der einen Zahl. Eine politische Geschichte des Bruttoinlandsproduktes

Jedes Jahr im Herbst veröffentlichen die Fünf Weisen das Herbstgutachten. Die Fünf Weisen stammen keineswegs aus dem Morgenland, sondern sind renommierte Wirtschaftsprofessoren, die mit ihrem Gutachten die wirtschaftliche Entwicklung des kommenden Jahres „berechnen“. Eine der wichtigen Kennzahlen, die sie veröffentlichen, ist die Schätzung des Bruttoinlandsproduktes, die andere nicht minder wichtige Kennzahl die der Wachstumsrate der deutschen Wirtschaft. Auf beide Kennzahlen wird mit großem Politik- und Medien-Interesse geschaut, die Verkündung der Zahlen ist die Vorhersage, wie es „uns“ im nächsten Jahr gehen wird. Groß also der Jubel, wenn sie üppig ausfällt, groß der Katzenkammer, wenn es nur einen Zuwachs von unter einem Prozent zu verzeichnen gibt, Weltuntergangsstimmung gar, wenn die Wirtschaft zu schrumpfen droht. Was hat es mit dem BIP und der Wachstumsrate aber auf sich, dass Regierungen und Medien so auf diese Zahlen schielen? Und welche Aussage haben diese Zahlen wirklich? Zeigen sie tatsächlich an, wie „gut“ es uns geht, ist das BIP wirklich ein Indikator dafür, wie es um unseren Wohlstand bestellt ist? Und woher stammt die Idee zu einem Bruttoinlandsprodukt? Diesen Fragen geht …

Birgit Vanderbeke: Der Sommer der Wildschweine

Birgit Vanderbeke breitet in ihrem Roman vom „Sommer der Wildschweine“ ein Familien-Wimmelbild vor uns aus, oder – um im Bild eines der Themen des Romans zu bleiben – verknäuelt die Erlebnisse, Interessen und Erfahrungen Leos und Milans sowie ihrer Kinder Johnny und Anouk gehörig, um sie dann im Laufe der Erzählung zu entwirren und zu einem ordentlichen (Woll-)Knäuel aufzuwickeln. So wuseln also die unterschiedlichsten Themen vor den Augen des Lesers herum: die wirtschaftlich immer höchst gefährdete Situation von Einzelunternehmern, die von jeder Wirtschaftskrise betroffen sind, die Hausbesetzerszene im Frankfurter Westend in den 1980er Jah-ren, das strickende soziale Netzwerk ravelry, die Kunst des Bloggens, der Bau von Lautsprecherbo-xen für anspruchsvolle Kunden, Strickdesigns und hochwertige Garne, Keywords im Zeitalter des Contents, Hilfe für ölverschmierte Pinguine, Pervasive Computing, Unwetterkatastrophen im Fern-sehen, Industrial Design, PETA, 3-D-Programmierung, die wirtschaftlichen Interessen einer Ölgesellschaft – und eben Wildschweine. Über Wildschweine, so berichtet Leo, die Ich-Erzählerin dieses Fadengewirrs, habe sie gerade letztens einen knappen Artikel gelesen, der eigentlich nur Content gewesen sei, ein Text zu einem Bild, für ein paar Cent von einer …

Matthias Nawrat: Unternehmer

Lipa lebt in Schönau, im Schwarzwald, und arbeitet als Assistentin im Familienunternehmen, das im – wir nennen es mal – Handel von Wertstoffen tätig ist. Lipa koordiniert die Einsätze, sie inventarisiert, sie erfasst die Ausgaben und Einnahmen, bewertet die beweglichen Wirtschaftsgüter, berücksichtigt vermögenswirksame Leistungen, bilanziert und sucht Kosteneisparpotenziale. Die ganze Familie lebt die Arbeitswerte des Vaters, der die Tätigkeit als Unternehmer hoch einschätzt. Zur Motivation hat er die Idee ersonnen, dass die Familie spätestens im nächsten Frühjahr nach Neuseeland auswandere, denn dort sei ja alles besser und leichter. Und auf jede noch so problematische Situation hat er eine Antwort, die aus dem Schatzkästlein des protestantischen Wirtschaftsethos Max Webers oder der Idee des schöpferischen Unternehmers, wie ihn Joseph Schumpeter skizziert hat, entliehen zu sein scheint: Es gibt keine unternehmensfreie Zeit, sagt der Vater. Entweder man ist Unternehmer, oder man ist es nicht. (…) Keinen Moment Ruhe kann man sich als Unternehmer gönnen. (…) Unser Beruf (…) bringt viele Schmerzen mit sich. Aber die Schmerzen müssen wir ertragen können. Das ist das Gesetz des Unternehmertums. (…) Wenn …

[5 lesen 20] Jonas Lüscher: Frühling der Barbaren

Preising erzählt eine Geschichte aus Tausendundeiner Nacht, von Palmen, Kamelen und Zelten in einer Oase. Aber Preising erzählt keine erotischen Märchen, um einen Herrscher gnädig zu stimmen, sondern die bemerkenswerte Geschichte seines Urlaubs im „Thousand and One Night Resort“. Dies ist ein Luxushotel in der Wüste, in das ihn sein tunesischer Geschäftspartner, der nicht nur Platinen für das Schweizer Unternehmen Preisings lötet, sondern auch noch einige Hotels zu seinem wohl weitverzweigten Unternehmen zählt, eingeladen hat. Im „Thousand and One Night“ residiert auch eine Hochzeitsgesellschaft aus London. Es sind junge Bankangestellte, die in die tunesische Wüste gereist sind, um eine möglichst romantische, möglichst orientalische, möglichst exotische Hochzeit zu feiern, wollen dabei aber auf keinen Luxus verzichten. So amüsieren sich sechzig bis siebzig Finanzjongleure am Pool: Junge Leute in ihren späten Zwanzigern und frühen Dreißigern. Laut und selbstsicher. Schlank und durchtrainiert. (…) Wer sich ins Wasser wagte, trug eine jener Badehosen, wie man sie von Fotos kannte, die den jungen JFK am Strand von Martha´s Vineyard zeigten, oder knappe Bikinis, die die flachen Bäuche gut zur Geltung …

Robert & Edward Skidelsky: Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens

„Damals, als es mir beschissen ging, gab es Liebe und Freunde, wo kamen sie hin?“ fragt Charles Aznavour in seinem Chanson von 1977. Hier wird besungen, wie es war, in der alten Zeit, als er zwar kein Geld hatte, aber viele Freunde, mit denen er nächtelang „über Gott und die Welt“ diskutierte. Aber da war auch der Ehrgeiz, etwas erreichen zu wollen, „es zu schaffen“ und so opferte er alles, auch Liebe und Freunde, um „Macht und Geld“ zu bekommen. Als Aznavour dieses Chanson für seine CD „Duo“ zusammen mit Herbert Grönemeyer 2008 aufgenommen hat, hat der beschriebene Konflikt nichts von seiner Brisanz verloren: Finanzieller Erfolg geht oft auf Kosten der Zeit, die für Freundschaften zur Verfügung steht – finanzieller Erfolg wird oft erreicht auf Kosten des „guten Lebens“. Mit der Frage, was denn ein gutes Leben sei in einer Gesellschaft, in der doch alles vorhanden ist, beschäftigen sich Robert Skidelsky, Wirtschaftswissenschaftler und Keynes-Experte, und sein Sohn Edward, der Philosophieprofessor ist, in ihrem gemeinsamen Buch. Sie wollen, so schreiben sie zu Beginn, mit ihrem Buch …

John Lanchester: Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückbezahlt. Die bizarre Geschichte der Finanzen

Wer etwas wissen möchte über die Hintergründe von Bankenkrise, Finanzkrise und Eurokrise oder wer etwas erfahren möchte über die Begriffe Eigenkapitalisierung von Banken, Derivate, Swaps, Subprime-Hypotheken, das AAA der Ratingagenturen und die Immobilienblase, der kann dies alles nicht nur als äußerst kenntnisreich und spannend beschriebene Geschichte der letzten Jahre, sondern vor allem auch auf geradezu unterhaltsame Art und Weise in John Lanchesters Essay mit dem etwas sperrigen Titel „Warum jeder jedem etwas schuldet und keiner jemals etwas zurückbezahlt“ nachlesen. Im Spätsommer des Jahres 2007 begann John Lanchester, sich mit der Finanzindustrie, ihren Produkten, ihrem Geschäftsgebaren und ihrer Entwicklung zu beschäftigen. Es war die Zeit, in der Kunden ihre Bank Northern Rock stürmten, um möglichst alle Guthaben abzuräumen. Damit brachten sie die Bank in so massive Bedrängnis, dass das Institut wenige Monate später Schutz unter dem weiten Mantel des Staates suchen musste. Lanchester recherchiert seitdem das Ge-schehen um Börsen, Wertpapier- und Immobilienhandel und hat somit die Finanzkrise von Beginn an beobachtet. Verarbeitet hat er seine Erkenntnisse nicht nur in Artikeln für den New Yorker und die …

Sascha Reh: Gibraltar

Bernhard Milbrandt hat die Bank ausgeraubt und ist nun auf dem Weg nach Gibraltar. Dort, bei einer Offshorebank, will er ein Konto eröffnen, um an das Geld zu gelangen, dass er gerade bei seinen Deals zur Seite geschafft hat. Er ist kein Bankräuber alten Stils, der mit Strumpfmaske über dem Kopf und Pistole in der Hand in der Schalterhalle einer Bank Angst und Schrecken verbreitet, sodass der Kassierer ihm das Bargeld in die mitgebrachten Taschen packt. Bernhard Milbrandt hat seine eigene Bank abgezockt, die Bank, bei der er seit Ende seines Studiums als Händler arbeitet und bei der er sich im Laufe der Jahre wegen seiner guten Erfolge und hohen Erträge eine Ver-trauensstellung erarbeitet hat – obwohl sein aggressiver und risikoreicher Spekulationsstil so gar nicht zum Firmenleitbild passt. Vor eineinhalb Jahren konnte er Johann Alberts, den Komplementär der Bank, überreden, ihn Eigenhandel betreiben zu lassen, also mit dem Eigenkapital der Bank Geschäfte zu tätigen. Diese Geschäfte sind höchst riskant, denn seit der Bankenkrise 2008 sind die Vorschriften für die Höhe des Eigenkapitals heraufgesetzt worden. Milbrandt …

Frank Schirrmacher: Ego. Das Spiel des Lebens

Mitte Februar gab es in den deutschen Feuilletons ein interessantes Phänomen zu beobachten: Quer zur üblichen politischen Haltung der Zeitungen wurde Frank Schirrmachers neues Buch „Ego“ überraschenderweise dort bejubelt, wo konservative Äußerungen sonst eher kritisch beurteilt werden, während sich in eher konservativen Publikationen die negativen Stimmen zur Wort meldeten [1]. So schreibt dann auch Augstein in seiner Kolumne auf spiegel online: Vor allem aber ist die Tatsache, dass dieses Buch aus der Feder des konservativen Journalisten Schirrmacher stammt, ein weithin sichtbares politisches Signal: Die Kapitalismuskritik ist inzwischen im Herzen des Kapitalismus angekommen. [2] Schirrmacher also, Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die ihre deutliche Ausrichtung auf wirtschaftliche Themen ja duurchaus als Alleinstellungsmerkmal sieht, geht in seinem Buch den Spuren nach, die, seiner Meinung nach, zu dem von ihm diagnostizierten Egoismus in unserer Gegenwart geführt haben. Er macht das Modell des „Homo oeconomicus“ aus, das, zu Beginn des 20. Jahrhunderts fast vergessen, in den 1950er Jahren reanimiert wurde und zusammen mit der neu entwickelten Spieltheorie John von Neumanns und John Nashs (wir kennen ihn aus dem Spielfilm …

Anna Weidenholzer: Der Winter tut den Fischen gut

Seit 25 Jahren wohnt Maria Beerenberger in ihrer kleinen Wohnung, die sie mit wenigen Schritten durchschreiten kann. Aus der Wohnung kann Maria in den Hof blicken und auf die Straße, um den Himmel zu sehen, muss sie sich am Fenster bücken und nach oben schauen, vorbei an der immer höher wachsenden Fichte im Hof, die ihr noch zusätzlich das Licht nimmt.  Seit ihr Mann gestorben ist, lebt sie hier alleine. Aber eine erfüllte, glückliche Ehe ist das auch nicht gewesen, das Zusammenleben mit Walter, dem Elvis-Imitator, der sie auch schon einmal schlägt, wenn sie ihn zu lange bittet, auf sein Gewicht, auf seine Gesundheit zu achten. Walter ist eine traurige Gestalt: Schon sein Elternhaus steht auf der Schattenseite des Tals, dort, wo im Winter die Sonne nicht hinkommt. Er ist ein Muttersöhnchen, der Maria daran misst, ob sie den Weihnachtsbaum so schmückt, wie er es von Zuhause kennt und den Braten so zubereitet, wie seine Mutter es immer macht. Zu seinen Elvis-Nummern hat Maria eine feste Meinung: Als King betritt er die Bühne und er …

John Lanchester: Kapital

Es ist schon eine spannende Idee, in die Häuser einer Straße zu schauen, um durch die vielen Lebensgeschichten ihrer Bewohner exemplarische Blicke zu bekommen auf die Beschaffenheit einer Gesellschaft. Diese Idee hat John Lanchester für die Pepys Road übernommen, eine Straße in London, deren Häuser vor über Hundert Jahren für die kleinen Angestellten aus Rechtsanwalts- und Steuerkanzleien erreichtet wurden, die aber mittlerweile in den Sog der Immobilienblase geraten und damit nur noch für sehr gut betuchte Menschen erschwinglich sind. Die momentan noch ansatzweise gemischte Bevölkerung, die hier lebt, zeigt dann tatsächlich ein gutes und vielschichtiges Panorama großstädtischen Lebens unserer heutigen Zeit. Dabei streift der Zeitraum von Dezember 2007 bis November 2008 tatsächlich die Zeit des Ausbruchs der Finanzkrise. Dass dieses Panorama in der Marketingmaschinerie von Verlag und Feuilleton dann aber gleich als Roman zur Finanzkrise erklärt wird, ist kaum nachvollziehbar. Ein Jahr lang kann der Leser einige der Bewohner der Straße, aber auch der Menschen, die im Umfeld der Straße arbeiten, in ihrem Leben begleiten und schlaglichtartig Höhen und Tiefen miterleben. Als roter Faden dient …