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Byung-Chul Han: Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken

Han_2Wir leben in freien und selbstbestimmten Zeiten. Im Unterschied zu unseren Eltern und Großeltern können wir frei entscheiden, welches Lebensmodell wir wählen, ohne dass daran jemand Anstoß nimmt. Wir können recht selbstbestimmt über Schulbildung, Ausbildung, Hochschule und Weiterbildung entscheiden, können ins Ausland ziehen, für eine gewisse Zeit oder auch für immer, wenn uns der Sinn danach steht. Bei der Arbeit werden wir wahr- und ernstgenommen, mindestens einmal im Jahr können wir den Grad unserer Mitarbeiterzufriedenheit, Probleme und Projektideen in einem Personalgespräch äußern, in vielen Unternehmen kümmert sich eine Personalabteilung um unsere Weiterentwicklung. In der Freizeit können wir nach Herzenslust trainieren und unsere Trainingsverbesserungen per Smartwatch oder Herzfrequenzgurt genau nachverfolgen, analysieren und daraus weitere Schlüsse für unser Trainingsprogramm ziehen.

Unsere Kinder lernen schon in der Schule selbstorganisiert zu lernen, sie formulieren ihre Wochen- und Monatslernziele selbstständig, entscheiden, mit welchen Sozialformen und Methoden sie ein lebenswirkliches Problem lösen wollen und reflektieren im Anschluss ihren Lern- und Arbeitsprozess – selbstständig natürlich. Und wenn wir Streit mit dem Nachbarn haben, mit Kollegen oder dem Ehepartner, dann lösen wir das freiwillig, zielorientiert und selbstgesteuert mit Hilfe unserer Konfliktlösungsstrategien – oder mit Hilfe eines Mediators. So gelingt es uns spielend, unsere Freiheiten zu nutzen, um fit und gesund, selbstbestimmt und glücklich zu sein, kein Vergleich zu den abgearbeiteten Großeltern, die die sich nur in ihr Schicksal fügen konnten.

Wir leben wahrhaft in Zeiten, in denen wir frei und selbstbestimmt wählen und entscheiden können. Nur manchmal, da fühlen wir uns so unschlüssig, so müde, so ausgebrannt, so überfordert, fühlen uns wie ein Hamster in seinem Rad, der, so sehr er auch läuft, nicht so recht von der Stelle kommt. Dieses Unbehagen an der Freiheit hat Byung-Chul Han, Professor für Philosophie und Medientheorie in Berlin, näher untersucht und daraus eine Analyse unserer gegenwärtigen Gesellschaft entwickelt. Seine kritischen Überlegungen hat er in einem schmalen Band zusammengetragen, in dem er verschiedenen Angriffen auf unsere Freiheit nachspürt. Und indem er die wirtschaftlich-gesellschaftlichen Entwicklungen mit den Möglichkeiten der Informationswirtschaft, Stichwort Big Data, in einen Zusammenhang bringt, zeigt er deutlich auf, wie weit die Kontrollmechanismen in unser aller Leben eindringen und unsere Freiheit ebenfalls einzuschränken drohen.

In Anlehnung an Foucault erläutert Han die Entwicklung von einer Souveränitätsgesellschaft, in der der Herrscher über Leben und Tod seiner Untertanen entschied, zu einer Disziplinargesellschaft. Ausgangspunkt dieser Entwicklung im 17. Jahrhundert sei die zunehmende Industrialisierung, in der es zur Notwendigkeit wurde, den menschlichen Körper zum einen vor dem Tod zu schützen, ihn aber andererseits weitestgehend an die Maschinen anzupassen. So entwickele die Disziplinargesellschaft Regeln und Normen, Gebote und Verbote, die Rationalität werde zur Leitlinie des Verhaltens, Gefühle wirken hier eher störend und werden unterdrückt. Wie in der Souveränitätsgesellschaft wird der einzelne Mensch fremdbestimmt ausgebeutet.

Die Disziplinargesellschaft entdeckt die „Bevölkerung“ als Produktions- und Reproduktionsmasse, die es sorgfältig zu verwalten gilt. Ihr widmet sich die Biopolitik. Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau und die Lebensdauer werden zum Gegenstand regulierender Kontrollen. (S. 35)

In einer Gesellschaft aber, in der mehr und mehr Dienstleistungen produziert werden, bedarf es anderer Ansätze, um die Produktivität zu erhöhen. Hier muss nun nicht mehr die Körperlichkeit überwunden werden, es werde nun wichtig, mentale Prozesse zu verbessern, also psychische Widerstände zu überwinden. In unserer (neo-)liberalen Wirtschaft, in der das Individuum frei und selbstbestimmt ist, in der jeder seine eigenen Ziele festlegt und verfolgt, weil ja jeder frei ist, weil jeder sein eigener Unternehmer sein kann, findet die Ausbeutung nicht mehr fremdbestimmt, sondern selbstbestimmt statt. Diese Art der Ausbeutung führt, aus Sicht der Produktion, aus Sicht des Kapitals, auch zu wesentlich besseren Ergebnissen, als jede Fremdausbeutung, die auf Zwang beruht – und deshalb auch Widerstände erzeugt:

Das Ich als Projekt. Das sich von äußeren Zwängen und Fremdzwängen befreit zu haben glaubt, unterwirft sich nun inneren Zwängen in Form von Leistungs- und Optimierungszwang. (S. 9)
Die Machttechnik des neoliberalen Regimes nimmt eine subtile Form an. Es bemächtigt sich nicht direkt des Individuums. Vielmehr sorgt es dafür, dass das Individuum von sich aus auf sich selbst so einwirkt, dass es den Herrschaftszusammenhang in sich abbildet, wobei es ihn als Freiheit interpretiert. Selbstoptimierung und Unterwerfung, Freiheit und Unterwerfung fallen hier in eins. (S. 42)

In dieser Gesellschaft haben vor allem Emotionen – im Unterschied zum Gefühl, das auf Dauer und Konstanz zielt, eher ein performativer und dynamischer Zustand – eine besondere Bedeutung. Emotionen werden zum Produktionsmittel, denn wenn ein Dienst erbracht werden soll, so spiele zu mindestens einmal die Kommunikation eine große Rolle, Freundlichkeit und Empathie, Offenheit für immer wieder neue Anforderungen und Problemlösungen, vielleicht auch Kreativität, stehen als Kompetenzen zusätzlich hoch im Kurs. Wer bei dieser Art der Arbeit einen schlechten Tag erwischt hat, der muss seine innere Befindlichkeit professionell überspielen. Anstrengend kann das werden und so dienen „Selbstmanagementworkshops, Motivationswochenenden oder Mentaltrainings“ dazu, deutliche Verbesserungen zu bringen dabei, immer zielorientiert zu agieren.

Kommunikation ist aber nicht nur zur Erstellung immaterieller Güter eine wesentliche Voraussetzung, sondern auch unser liebstes Hobby. Sind vor fast dreißig Jahren die Menschen noch auf die Straßen gegangen, um gegen die damalige Volkszählung zu demonstrieren, so gibt es heute genug Menschen, die ständig online sind und das „Internet“ so permanent mit Daten füttern, die wesentlich persönlicher, ja intimer, sind, als die damals staatlich erfragten. Die Daten, die so zusammenkommen, nutzt „Big Data“, um Prognosen über menschliches Verhalten herzustellen. Hier unterstützen wir mit unseren Daten ein mächtiges Instrument, das leicht zu unserer – psychischen – Steuerung eingesetzt werden kann, zur weiteren Abschaffung unserer Freiheit.

Han setzt sich in seinem Essay mit den Auswirkungen der Psychopolitik auf die Gesellschaft auseinander, Stichworte hier sind Vereinzelung und das Ende des Solidarität, mit den Folgen für die Politik, der er eine freundliche, ja geradezu eine einschmeichelnde Rolle zuschreibt, aber auch eine, die keine Ecken und keine Kanten (mehr) aufweist. Er analysiert auch ausführlich verschiedene Aspekte von Big Data, so die Frage der Qualität des Erkenntnisgewinns, bei der Suche von Verbindungen zwischen all diesen Daten. Und er skizziert Lösungen, wie wir dem Dilemma der Freiheit entkommen können:

Angesichts des Kommunikations- und Konformtitätszwanges stellt der Idiotismus eine Praxis der Freiheit dar. Der Idiot ist seinem Wesen nach der Unverbundene, der Nichtvernetzte, der Nichtinformierte. (…) Der Idiot ist ein moderner Häretiker. Häresie bedeutet ursprünglich Wahl. Der Häretiker ist also jemand, der über eine freie Wahl verfügt. Er hat den Mut zu Abweichung von der Orthodoxie. Mutig befreit er sich von Konformitätszwängen. Der Idiot als Häretiker ist eine Figur des Widerstandes gegen die Gewalt des Konsenses. (S. 109)

Natürlich: Es ist nicht alles ganz neu, was Han hier schreibt; es ist vielleicht auch einiges recht plakativ und abstrakt. Nicht allen seinen Argumenten ist zuzustimmen, so beispielsweise seiner Kritik an Naomi Kleins Begriff des „Schocks“, mit dem die sozialen Ideen in Südamerika nach Militärputsch und Deregulierung der Märkte hinweggefegt wurden. Wer aber noch nicht ganz tief in die philosophisch, soziologisch oder ökonomische fundierte kritische Debatte über unsere gegenwärtige Gesellschaft eingestiegen ist, wer vor allem die Facetten des Psychopolitik und der Kontrollgesellschaft in ihrer engen Verzahnung betrachten möchte, der findet in Hans Essay nicht nur eine gut lesbare, sondern auch eine sich mit anderen Wissenschaftlern auseinandersetzende Argumentation. Und er findet Erklärungen für unser Behagen an der Freiheit vom Zwang, das so schnell zum Unbehagen werden kann, wenn es nämlich zum Zwang zur Freiheit wird.

Auch noch empfehlenswert zur weiteren Lektüre ist ein Interview mit Han in der ZEIT

Byung-Chul Han (2014): Psychopolitik. Neoliberalismus und die neuen Machttechniken, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag

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7 Kommentare

  1. Konstruktivismus dekonstruieren – schön und gut. Aber wo sind bzw. wie lauten die Lösungsansätze, frage ich mich, die jemand wie Han eigentlich artikulieren sollte?

    Beste Grüße,
    Der Salva

    • Lieber Salva,
      ich finde immer schon wichtig und wertvoll, wenn es viele Analysen unserer gegenwärtigen Zeit gibt, viele unterschiedlichen Stimmen aus unterschiedlichen Wissenschaften bzw. Blickwinkeln, die aufzeigen, was schief läuft, die deutlich machen, an welchen Stellen wir selbst dazu beitragen, in diesem ewigen Hamsterrad zu laufen. So empfinde ich schon eine gute Analyse, die Hintergründe darlegt und Erklärungen bietet, als ersten Lösungsvorschlag, denn wenn ich die Mechanismen kenne, kann ich entschieden, wann ich mich ihnen entziehen kann. Han bietet aber auch einen Lösungsansatz – keinen großen politischen Entwurf, aber den Hinweis an den Einzelnen. Indem er den Idioten als gar nicht so idiotisch, sondern vielmehr insofern als klug, als wählerisch, beschreibt, indem er unverbunden bleibt, sich gerade nicht vernetzt, sondern immer bewusst auswählt, skizziert er eine Lösung, die wir alle betreiben können, indem wir eben nicht alles mitmachen. Das ist sicher nicht die große gesellschaftliche Lösung, aber eine, die wir im kleinen, jeder für sich, erproben können, um uns Stücke unserer Freiheit zurück zu erobern.
      Viele Grüße, Claudia

      • Das ist natürlich eine interessante und m.E. auch richtige Idee. Anders als auf der persönlichen Ebene zu beginnen, das eigene Bewußtsein zu ändern respektive zu ver-ändern, und dann durch ein entsprechendes Auftreten nach Außen entsprechend multiplikatorisch zu wirken bzw. darum zu hoffen, funktioniert es wohl auch nicht. Alles zusammengenommen, zählt eben nicht das gesprochene Wort, sondern die dazugehörige Tat.

        Der Begriff des Idioten ist mir persönlich negativ aufgestoßen; das ist einfach mit zu vielen negativen Konnotationen behaftet, Außerdem ist es, soweit ich weiß, je gerade das Zeichen eines Idioten, außerhalb seines Störungsbildes eben genau nicht mehr selbständig sein oder handeln zu können. So bleibt diese Wortwahl für mich eher ein netter Marketinggag …

        Was mir übrigens ausgesprochen gut an Ihrer Besprechung gefallen hat, ist die Ausführlichkeit derselben; wahrlich eine wohltuende Präsentation und sehr entgegen dem landläufigen Trend. Ein großes Lob dafür.

        Gerne stöbere ich hier wieder einmal herein und freue mich schon neugierig auf interessante Denkanstöße.

        Herzliche Grüße
        Der Salva

      • Vielen, vielen Dank für die lobenden Worte! Darüber freue ich mich sehr und sie sind wiederum Motivation für die nächsten Texte. Und mit der Ausführlichkeit habe ich es ja, ich kann einfach nicht kürzer, muss immer schon Passagen streichen, weil die Texte, einmal begonnen, lang und länger werden. Aber eine gewisse Vorstellung eines Buches sowie die eigenen Gedanken, Deutungen, Wertungen dazu bedürfen eben auch ein paar erklärender Sätze.Und so freue ich mich sehr, Sie/Dich immer mal wieder auf dem grauen Sofa begrüßen zu dürfen.
        Der Begriff des „Idioten“ ist schon stark gewählt und ich habe auch beim Blick durch das Inhaltsverzeichnis beim Lesen dieser Überschrift des letzten Kapitels gestutzt. Er ist aber nicht marketingmäßig gemeint, wenn man Hans gesamte Argumentation hier ansieht. Der Idiot ist hier derjenige, der sich einfach von möglichst vielen Zwängen befreit, die uns die Umwelt abverlangt: wir sollen/müssen immer erreichbar, immer online, immer präsent sein, in möglichst allen sozialen Medien permanent vertreten, sonst wird es ja fast schon anrüchig und wir geraten ins Abseits. Dagegen stellt Han sich und erklärt:
        „Der Idiot ist ein Idiosynkrat. Die Idiosynkrasie bedeutet wörtlich eine eigentümliche Mischung der Körpersäfte und die daraus resultierende Überempfindlichkeit. Wo es gilt, die Kommunikation zu beschleunigen, stellt die Idiosynkrasie aufgrund ihrer immunologischen Abwehr des Anderen ein Hindernis dar. Sie blockiert den entgrenzten Austausch.“(S. 108). Kommunikation zu blockieren, langsamer zu werden, nicht überall mit tun zu müssen, ist doch ein schöner Gedanke.
        Viele Grüße, Claudia

      • Der m.E. vorsätzliche Fauxpas liegt im Satz: Der Idiot ist ein Idiosykrat. Das ist nicht nur falsch, sondern daher auch einfach nur dumm. Und um das zu erkennen, genügen bereits zwei einfache Blicke in ein gutes Fremdwörterbuch respektive etymologisches Wörterbuch. 🙂

        Ich verstehe, daß Wissenschaftler in der heutigen Welt irgendein Alleinstellungsmerkmal suchen; schließlich glaubt (fast) jeder von ihnen, Gelder und Förderung zu benötigen, um vermeintlich anerkannt zu werden (bzw. um die eigene Arbeitslosigkeit zu vermeiden).

        Was also soll man von Wissenschaftlern halten, die ihre Gedankengebäude auf unredlichen Prämissen aufbauen? Niemand mit dem Störungsbild eines Idioten besitzt auch nur ansatzmäßig irgendeine Fähigkeit, sich bewußt mit irgendwelchen Faktoren seiner Umwelt auseinanderzusetzen, diese korrekt zu bewerten und dann auch noch eine Gegenposition zu einem oder vielen dieser Faktoren einzunehmen. Warum hat Han nicht einfach über einen Idiosynkraten gesprochen, wenn es ihm um Reaktion und Gegenreaktion geht?

        Der Gedanke der Entschleunigung übrigens ist ein ganz wichtiger in der heutigen Zeit, da bin ich vollkommen bei Ihnen. 🙂

        Herzliche Grüße
        Der Salva

      • Mit Blick auf den Begriff bzw. die Begriffe haben Sie natürlich Recht und die Philosophie will und muss ja schon auch sprachlich korrekt argumentieren. Ich habe den „Idioten“, bin aber auch nicht wirklich philosophisch und schon gar nicht neurologisch vorgebildet, sondern in beidem mehr ein Laie, eher als ein Bild gesehen, also als einen Menschen, der sich trotz aller gesellschaftlichen Anforderungen und Notwendigkeiten, einfach mal aus den üblichen Konventionen ausklinkt und in „seiner eigenen Welt“ bleibt. Deswegen bin ich mit Han nicht so sehr ins Gericht gegangen, auch wenn sein Vorgehen nicht wirklich wissenschaftlich exakt ist, wie Sie hier völlig nachvollziehbar erklären.
        Viele Grüße, Claudia

      • Ganz herzlichen Dank auf jeden Fall für diesen spannenden Diskurs auf Ihrem Blog, der mich sehr gefreut hat. 🙂

        Mit den besten Grüßen,
        Der Salva

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