Jahr: 2019

Fast schon das Ende des Jahres: Mein Lesejahr 2019

Wenn ich mein Lesejahr Revue passieren lasse, dann lassen sich zunächst einmal paar Zahlen festhalten: Gelesen habe ich zwar ein paar Bücher mehr, auf dem Blog berichtet habe ich jedoch nur über 20 Romane und Sachbücher: Der ganz normale Alltag hat wohl in diesem Jahr mehr Zeit in Anspruch genommen, als ich gedacht hätte. Wenn ich den kommenden Artikel zur „Digitalen Ethik“ von Sarah Spiekermann mitrechne, dann ist mit 10:10 die Geschlechterverteilung meiner Lektüren – ohne dass ich es darauf angelegt hätte – ausgeglichen. Und aus den Indie-Verlagen stammen immerhin auch 9 Titel. Ein neuer Leseschwerpunkt hat sich auf dem Blog ergeben, weil ich neugierig bin, wie die Digitalisierung in die Erzählungen einzieht, wie die Wissenschaft sich damit auseinander setzt. In der fiktionalen Literatur wird die Digitalisierung bisher eher als Dystopie erzählt, dann, wenn ein problematischer Aspekt in die Zukunft fortgeschrieben wird. Aber es gibt ja auch auch Berit Glanz´ „Pixeltänzer“ , einen Roman aus der Gegenwart, der das Widerstandspotential der Digitalisierung und der dazu gehörenden Arbeitsprozesse auf spannende Weise auslotet. Und was ist sonst …

Berit Glanz: Pixeltänzer

Berit Glanz´ Debütroman reiht sich schon vom Titel her nahtlos ein in die Reihe aktueller Romane, die davon erzählen, was Digitalisierung alles bedeuten kann. Und ist – zum Glück – ganz anders. Denn Glanz entwirft keine dystopische Zukunftsgesellschaft, in der KI und Algorithmen längst das Kommando übernommen haben, so, wie wir es in den jüngsten Romanen von Schönthaler und Braslavsky lesen können. Glanz siedelt ihren Roman im Hier und Jetzt an und lässt ihre angepasst-unangepasste Protagonistin Beta von ihrem Leben erzählen. Davon, dass sie sich als Junior-Quality-Assurance-Testerin bei der Fehleranalyse mit Gorilla- und Monkey-Tests ein wenig langweilt. Und sich deshalb gerne auf ein Detektivspiel einlässt, das sie in die Theaterszene der 1920er Jahre führt. Dort experimentiert das Künstlerpaar Lavinia und Walter mit freiem Tanz und fantasievollen Masken und Kostümen, angetrieben von einer großen Lust auf Veränderung, ja, auf Revolution. Gegensätzlicher könnten die heutige IT- und die Theaterwelt vor hundert Jahren gar nicht sein. Aber genau aus diesem Spannungsverhältnis bezieht der Roman seinen ganz besonderen Reiz. Beta hat alles, was zu einer Erfolgsbiografie der heute 30-Jährigen …

Philipp Schönthaler: Der Weg aller Wellen

Wie Emma Braslavsky in ihrer Erzählung „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“ beschäftigt sich auch Philipp Schönthaler in seinem neuen Roman mit einer Identitätssuche. Und wie Braslavsky siedelt auch Schönthaler seine Geschichte in einer nicht so fernen Zukunft an, in einer gesellschaftlichen Umgebung, die fast der unseren entspricht. Bei Braslavsky gehört die Künstliche Intelligenz in Form von Androiden zum normalen Alltag, Androiden, die sich kaum mehr von Menschen unterscheiden lassen. Ihre Welt scheint, auch wenn die digitalen Unternehmen in unserer Realität mit Nachdruck die mentalen Prozesse der Menschen erforschen, um sie ihren Rechnern zufügen zu können, mehr in einer Science-Fiction-Welt zu liegen, als die von Schönthaler kreierte Welt. Bei Schönthaler nämlich ist die Künstliche Intelligenz immer noch in den Computern und den „Devices“ zu finden, die seine Figuren mit sich tragen. Über Laptop und Phone können Informationen recherchiert und Nachrichten gesendet werden, Eingangskontrollen – hier über eine Handerkennung – zum Arbeitsplatz, zum Firmenshuttle und zur Wohnung machen das Leben ohne Schlüsselbund und Ausweis bequem. Das alles ist ja für uns kaum eine allzu exotische …

Emma Braslavsky: Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten

Emma Braslavskys Roman knüpft da an, wo Ian McEwans Geschichte aufhört. In ihrer Welt nämlich sind die Androiden zur Marktreife gelangt und jeder, der sich eine Recheneinheit leisten kann, lässt sich einen Partner nach individuellen Vorstellungen programmieren. Der eine möchte eine Partnerin, die die Wohnung in bester Ordnung hält und gerne kocht, die andere lieber einen Gefährten, der sie umarmt und küsst und Lust auf Sex hat; die eine geht gerne mit Mads Mikkelsen aus, der andere mit Pedro Almodóvar. Im Berliner Nachtleben ist kaum noch zu unterscheiden, wer Mensch, wer Recheneinheit ist. Es wird gegessen, getrunken, geflirtet und getanzt und wem das noch nicht reicht für das gute Gefühl, der versucht es auf der Toilette mit schnellem Sex oder mit Amphetaminen. „Die Liebe 3.0 stillt endlich alle menschlichen Sehnsüchte. Alle. Lust? Anerkennung? Unverbindlicher Kontakt? Ekstase? Geborgenheit? Schutz und Sicherheit? Selbstbestätigung? Abenteuer? Hunger nach exotischen Erfahrungen? Platonische Freundschaft? Trans? Homo? Hertero? Poly? Zwischenartlich? Es gab keine Verbindung, die es nicht mehr geben konnte. Die Entfaltung des Ichs hatte jetzt eine neue soziale Bühne, auf der …

Bits und Bytes, Digitalisierung und KI

Die Digitalisierung ist in aller Munde. Wir streamen Musik und Videos, lesen und lernen online, kommunizieren auf digitalen Plattformen. Wir lassen unsere Schritte zählen, haben jederzeit unseren Puls im Blick und vermessen sogar Länge und Qualität unseres Schlafes. Elektronische Rezeptbücher inspirieren uns zum nächsten Gericht, Apps verraten uns die billigsten Tankstellen in der Nähe und unsere Wohnungen und Häuser werden vermeintlich  intelligent – so das interessanteVersprechen der Werbung -, wenn wir beim Einbruch live per SMS dabei sein können, wenn wir schon auf der heimfahrt die Heizung einstellen oder per Sprachsteuerung das Licht dimmen können.   Von der Schule 4.0 ist allerorts zu lesen – frei nach dem Motto: je digitaler, umso besser die Bildung -, denn der Digitalpakt der Bundesregierung ermöglicht den Ausbau der technischen Infrastruktur der Schulen. Lehrer haben in Zukunft kein Papier mehr in der Tasche, dafür Laptop oder Tablet. Sie unterrichten mit Erklärfilmen, Youtube-Videos und bunten Apps. So werden Schülerinnen und Schüler zum Lernen bei ihren vermeintlichen Digitalkompetenzen abgeholt und bekommen durch Tests, die sich zeitsparend automatisch auswerten lassen, immer wieder ein …

Richard Russo: Diese gottverdammten Träume (#backlistlesen 3)

In Empire Falls hat Richard Russo diesen außergewöhnlichen Roman angesiedelt, für den er 2002 den Pulitzer Preis bekommen hat – und damit Jonathan Franzens „Korrekturen“ auf die Plätze verwies. Empire Falls, das ist eine Kleinstadt in Maine, die – ganz anders, als es der stolze Name verspricht – vor sich hinsiecht, seit die Familie Whiting ihre Textilfabriken verkauft haben, die dann umgehend geschlossen wurden. Arbeitsplätze gingen verloren, viele Bewohner zogen weg, den Jobs hinterher. Die Menschen, die geblieben sind, versuchen, den schleichenden Verfall ihrer Stadt mehr schlecht als recht zu bekämpfen, fechten ihre großen und kleinen Kämpfe miteinander aus und gehen ihren „gottverdammten Träumen“ von ein bisschen mehr Glück im Leben nach. „Bargen nicht alle Menschen auf der Welt die unmöglichsten Wünsche in ihren Herzen, Wünsche, an denen sie stur festhielten entgegen aller Vernuft, Plausibilität und sogar entgegen dem Verfließen aller Zeit, hartnäckig und ausdauernd wie geschliffener Marmor?“ Einer von ihnen ist Miles Roby, Geschäftsführer des Diners „Empire Grill“, der wiederum zum Immobilienbesitz von Francine Whiting gehört. Miles fragt sich, warum sie, mittlerweile eine alte …

Michael Asderis: Das Tor zur Glückseligkeit

#indiebookchallenge, #ibc, #glücksbuch Für den Monat Juli suchte die diesjährige #indiebookchallenge nach Büchern, die das „Glück“ im Titel tragen. Michael Asderis´ Titel wartet nicht nur mit dem „Glück“ auf, sondern gar mit der „Glückseligkeit“. Das „Tor zur Glückseligkeit“, so erklärt der Untertitel, erzählt von einer Instanbuler Familie und von „Migration, Heimat und Vertreibung“. Es erzählt von den wechselvollen Erlebnissen der Familie von Michael Andiris, seit die Ururgroßväter Mitte des 19. Jahrhunderts nach Istanbul gezogen sind. Bis ins Jahr 1964 reicht die Erzählung, denn in dem Jahr zogen seine Eltern mit ihm nach Frankfurt, ausgewandert, besser: vertrieben, aus der Stadt, in der seine Großeltern, seine Eltern und er selbst auch geboren sind. „Meine Geburtsstadt hat viele Namen. Wir, die Romyi, nennen sie schlicht Polis, die Stadt. Die Frage welche, stellt sich für uns nicht. Für uns gibt es keine, nur diese; auf Griechisch heißt sie Konstantinoupolis, das heißt: Stadt des Konstantin; auf Russisch, Zarigrad, die Kaiserstadt; auf Türkisch, Istanbul, auf Osmanisch wurde sie oft Der-i-Saadet genannt: Tor zur Glückseligkeit.“ Die vielen Namen der Stadt geben schon …

Ian MacEwan: Maschinen wie ich

Charlie Friend sitzt im Wartezimmer seines Arztes, denn ein eingewachsener Zehennagel am Fuß quält ihn. Und während er dort sehr lange warten muss, philosophiert er darüber, wie es denn zu diesem einzigartigen Augenblick gekommen ist: „Die Gegenwart ist ein unwahrscheinliches, unendlich fragiles Konstrukt. Es hätte anders kommen können. Etwas oder alles könnte auch ganz anders sein. Das gilt für das kleinste wie für das größte. Wie leicht, eine Welt heraufzubeschwören, in der mein Zehennagel nicht eingewachsen war; eine Welt, in der ich, nach dem Erfolg eines meiner kleinen Projekte reich geworden, nördlich der Themse lebte; eine Welt, in der Shakespeare als Kind gestorben war und von niemandem vermisst wurde, eine Welt, in der die Vereinigten Staaten die Entscheidung getroffen hatten, ihre bis zur Perfektion getestete Atombombe über einer japanischen Stadt abzuwerfen; oder einer Welt, in der die Falklandtruppen nicht in den Krieg gezogen oder siegreich heimgekehrt waren, weshalb das Land jetzt nicht trauerte (…).“ Charlie Friends tief greifende Überlegungen beschreiben treffend Ian McEwans poetologisches Prinzip für seinen Roman: McEwan beschwört nämlich eine Welt herauf, die …

Dave Eggers: Der Circle (#backlistlesen 2)

Mit der Lektüre von Dave Eggers Roman „Der Circle“ bin ich tatsächlich spät dran. 2014 ist der Roman schon in Deutschland erschienen, da bin ich irgendwie noch an ihm vorbeigekommen. Nun aber konnte ich mich nicht mehr entziehen, denn mein Literaturkreis hat sich für den „Circle“ entschieden. Ich bin schon gespannt, ob er meine Mitlesenden überzeugt hat. Mich jedenfalls nicht. Und das, obwohl er, wenn die gegenwärtige Facebook-Debatte berücksichtigt wird, so aktuell ist wie vor 5 Jahren. Dave Eggers siedelt seinen Roman dort an, wo spannende Themen durchaus zu erwarten sind, nämlich mitten in der schönen, neuen Arbeitswelt eines Tech-Konzerns in Kalifornien. Dort ergattert Mae Holland durch Unterstützung ihrer Studienkollegin Annie einen Job und fühlt sich nach ihren Erfahrungen beim langweiligen Strom- und Gasversorger ihrer Heimatstadt wie im siebten Himmel, als sie an ihrem ersten Arbeitstag über den Unternehmens-Campus schlendert. Überall junge Leute, die in ungezwungener Atmosphäre auf dem park-ähnlichen Gelände arbeiten und gemeinsam Spaß haben, alles ist sauber und ordentlich und in den Pflastersteinen sind die wundervollsten Inspirationsbotschaften verewigt: „ Träumt“, „Bringt euch ein“, …

Francesca Melandri: Eva schläft (#backlistlesen 1)

Dieser Roman, so stellt die Autorin ihrem Buch voran, sei der erste Band einer Väter-Trilogie. „Alle, außer mir“, der im letzten Jahr erschienene Roman, der auch dieser Trilogie angehört, hat große Aufmerksamkeit erfahren, sodass die Autorin nun auch in Deutschland bekannt ist. So hat nun der Wagenbach-Verlag auch den älteren Titel „Eva schläft“ in sein Programm aufgenommen, den Roman, der eine andere Facette italienischer Geschichte erzählt, nämlich die Geschichte Südtirols, die den Rahmen gibt für die Suche nach dem verlorenen Vater, die – wie auch in „Alle, außer mir“ ebenfalls eine Suche ist nach dem Vaterland. Gerade ist Eva aus New York nach Hause zurückgekehrt, ins Pustertal nach Südtirol, als sie der Anruf von Vito erreicht. Vito bittet sie, zu ihm zu kommen, ganz in den Süden Italiens, denn er möchte sie vor seinem Tod noch einmal sehen und sprechen. Und so macht Eva sich an einem Osterwochenende auf die Zugreise quer durch Italien. Dabei ist Vito nicht ihr leiblicher Vater. Vito ist einer der Carabinieri, die das Innenministerium zu Zeiten des bewaffneten Widerstands von …

Elizabeth Strout: Alles ist möglich

„Alles ist möglich“, meint die Beratungslehrerin Patty und verspricht der fünfzehnjährigen Schülerin Lila Lane, ihr einen Platz am College zu beschaffen und das Geld für ein Studium, wenn Lila das möchte. Lilas Noten seien so gut, da könne sie ein Studium beginnen. Lila fängt an zu weinen. Weil sie immer weinen muss, wenn jemand nett ist zu ihr. Und das kommt in ihrer Familie nicht oft vor. Schon vor ein paar Tagen hat Lila in Pattys Büro gesessen. Das Gespräch ist jedoch völlig anders verlaufen, denn Lila war arrogant und respektlos. Sie hat sich über Pattys ernsthaftes Lob lustig gemacht, hat Pattys Fragen nach ihren Berufswünschen nicht beantwortet, sondern Patty stattdessen gefragt, ob die Bilder der Kinder, die auf der Kommode stehen, ihre eigenen seien. Und das obwohl sie doch ganz genau weiß, dass Patty keine eigenen Kinder hat. Und erklärt hat Lila: „Weil Sie und Ihr Mann nie zusammen in der Liste waren, stimmt´s?“ Das Mädchen stieß ein Lachen aus; ihre Zähne waren schlecht. „Das heißt es nämlich über Sie, wussten Sie das? Fatty …

Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer

Wie brüchig eine Existenz sein kann, das erfährt Sonja Bräuning mit über sechzig. Fast geflohen ist sie vom Bodensee nach Wales, ans Ende der Welt, könnte man meinen, dorthin, wo der Blick aufs meistens wild tosende Meer Weite und Grenzenlosigkeit und Ewigkeit verspricht – und die größtmögliche Freiheit, weil sie sich hier Tag für Tag für oder gegen das Leben entscheiden kann. Zu einem Zeitpunkt, zu dem Menschen ihres Alters darüber nachdenken, wie sie die Zeit ohne Arbeitsverpflichtung verbringen wollen, steht Sonja da mit einem in die Jahre gekommenen Hotel, das dringend renoviert werden müsste, und so hohen Schulden, dass die Banken im Ort, deren Vertreter jahrelang bei ihr ein- und ausgegangen sind, ihr kein weiteres Geld mehr leihen. Selbst Arno, ihr Schwager, der in besseren Zeiten mit seinem Bruder und dessen Michelin-Stern geprahlt hat, gewährt ihr keinen Kredit mehr. Er drängt sie aus dem Haus, das früher einmal die Gaststätte seiner Eltern gewesen ist, eines der „bodenständigen“ Häuser, in denen die Sauce zum Braten aus der Tüte kam. Bruno und sie haben Restaurant und …

A.L. Kennedy: Süßer Ernst

Über Meg und Jon sind schon einige Lebensstürme hinweggefegt. Und haben mit Kratzern, Verletzungen und tiefen Wunden ihre Spuren hinterlassen. Meg Williams, Mitte Vierzig, ist als Wirtschaftsprüferin in eine Insolvenz geraten. Nun lebt sie, seit ziemlich genau einem Jahr trockene Alkoholikerin, im ererbten Haus ihrer Eltern, das die besten Tage schon lange hinter sich hat, und kümmert sich im Tierheim halbtags um die Rechnungen. Sie ist traurig, hält sich die Menschen in ihrer Umgebung auf Abstand und beurteilt alles mit spitzer Zunge. Jon, Ende Fünfzig, ist geschieden und in ein Einzimmerapartment in einem heruntergekommenen Stadtteil gezogen, auch wenn er sich eine andere Umgebung durchaus leisten könnte. Er arbeitet als Vize-Direktor in der PR-Abteilung eines Ministeriums und lässt die Skandale der Politiker sowie die nicht weniger skandalträchtigen politischen Entwicklungen durch eine elegante Wortwahl immer wieder in einen positiveren Rahmen stellen. Die Erfahrungen seines Lebens haben ihn wütend gemacht – und zynisch. Die Nähe zu anderen Menschen meidet er. A.L. Kennedy hat für die Rollen der Protagonisten ihres Romans zwei Figuren ausgewählt, die nicht gerade als strahlende …

Joachim Zelter: Im Feld. Roman einer Obsession

Joachim Zelter ist Rennradfahrer. Beim Videodreh anlässlich der Literatour Nord steht das Fahrrad erst im Hintergrund, später sieht man ihn darauf fahren. Er kennt sich aus mit dem Rennrad, ist vermutlich einer derjenigen, die auf den Landstraßen unterwegs sind, Kilometer um Kilometer und die Hügel und Berge gerne im Sattel erklimmen. Die sich, allen Anstrengungen zum Trotz, voller Motivation immer daran machen, Kilometer zu fressen, die sich an freien Tagen mit Gleichgesinnten treffen und die Strecken gemeinsam bewältigen – „im Feld“ fällt es leichter. Und so ist er für die Geschichte, die in seinem jüngsten Roman erzählt wird, offensichtlich ein Experte. Frank, der Protagonist, nimmt uns Leser mit zu seinem Radrenntreff an Christi Himmelfahrt. Als Teilnehmer der Trainingsfahrt, die wirklich eine Art Himmelfahrt wird, als einer, der, wann immer er dazu in der Lage ist, genau beobachtet, was um ihn herum passiert, gewährt er uns Einblicke in all das, was sich im Feld ereignet. Und auch in sein eigenes Leben, das er bei dieser Fahrt immer wieder reflektiert. Susan und Frank sind aus Göttingen nach …

Richard Russo: Immergleiche Wege

Vier Erzählungen sind versammelt in diesem Band, vier Erzählungen von Protagonisten in den mittleren Jahren, die darüber nachdenken, wie es zu den Schrammen, Kratzern und Wunden gekommen ist, die sie im Laufe des Lebens erhalten haben, manchmal durchaus mit eigenem Zutun. Es sind alles keine wirklichen Helden, die Russo uns vorstellt, keine Figuren, die sich in schwierigsten Situationen bewähren müssen und daran wachsen und reifen. Es sind eher die sprichwörtlich ganz normalen Menschen, die in ihrem ganz normalen Leben gezeigt werden, in Leben, die so verlaufen sind, wie auch die Leben der Leser verlaufen können. Alles ganz normal also – und doch zeigt sich in jedem der Geschichten nach und nach ein persönliches Drama. Die Professorin Janet Moore sitzt in ihrem Büro auf dem Campus und ihr gegenüber der Student James Cox, der einen Essay mit überzeugender Argumentation abgegeben hat – der aber, daran erinnert Janet sich, vor ein paar Jahren schon einmal eingereicht worden ist. Die alte Arbeit hat sie gesucht, vier Stunden hat es sie gekostet, sich durch die archivierten Texte in die …

David Fuchs: Bevor wir verschwinden

Als Praxisschock bezeichnet man die Erschütterungen des Berufsanfangs. Wenn endlich das ganze Gelernte in der Praxis angewendet werden soll, stattdessen aber Kenntnisse gefordert sind, die auf keinem schulischen oder universitären Lehrplan standen. Weil es auf einmal Berufsrollen und Hierarchien zu beachten gibt, weil Leistungen ständig gefordert, überprüft und bewertet werden, weil Disziplin über acht Stunden notwendig ist und der Arbeitsalltag in hohem Maße fremdbestimmt ist. Wenn vom Praxisschock schon in den technischen und wirtschaftlichen Bereichen berichtet wird, wie ist es erst, wenn Medizinstudenten mit dem Krankenhausalltag konfrontiert werden? Wenn sie gar auf eine Station gelangen, auf der weniger das Gesundwerden Ziel der Behandlung ist, sondern den Weg bis zum unvermeidlichen Tod zu gut wie möglich zu gestalten? Und wenn dann noch einer der Patienten der Ex-Freund ist, gerade Mitte Zwanzig und viel zu jung zum Sterben? Auf diese Station, der Onkologie, hat es Benjamin, Ben, verschlagen, Medizinstudent kurz vor den universitären Abschlussprüfungen. Im Keller der Klinik arbeitet er an Versuchen, Schweine zu defibrillieren, nachdem sie narkotisiert sind und bei ihnen Kammerflimmern ausgelöst worden ist. Die …

FO: Aus Isager Highland und Isager Alpaka wird Nala

Ich habe schon lange kein fertiges Strick-Objekt mehr vorgestellt. Und tatsächlich hat es auch lange gedauert, bis meine Nala-Jacke endlich fertig war. Immer wieder habe ich sie zur Seite gelegt, im letzten Jahr fast nur Schals gestrickt, weil die sich so einfach „herunternadeln“. Dabei haben mir bei diesem Design verschiedene Dinge so gut gefallen, dass ich es nachstricken wollte: die offene Form der Jacke und die schönen dicken Zöpfe an Körper und Ärmeln. Beim Stricken sind mir dann noch weitere besondere Details aufgefallen, die sich vor allem auch daraus ergeben, dass die Jacke in einem Zug von oben nach unten gestrickt wird, wodurch sich besonders schöne Lösungen für die Übergänge zu den Ärmeln ergeben haben. Durch das Top-Down-Stricken ergibt sich eine schöne betonte Schulterpasse und der Schalkragen wird auch direkt mitgestrickt, sodass es später keiner weiteren Maschenaufnahme aus der Strickstück bedarf. Die Zunahmen für die Ärmel ergeben einen zwar deutlichen Übergang, der wird aber viel schöner, als wenn die Ärmel angenäht werden. Muss ich ja wirklich zugeben, obwohl ich ja den von oben gestrickten Teilen …

Verena Mermer: Autobus Ultima Speranza

Es ist ein paar Tage vor Weihnachten am Busbahnhof in Wien. Die Fahrer bereiten die Busse für die nächsten langen Fahrten vor oder machen eine Pause, erste Fahrgäste für die nächsten Touren treffen ein. Hier, am Busbahnhof, kommen die zusammen, die sich auf eine Reise begeben. Aber die, die hier eintreffen, fahren nicht in den Urlaub oder starten zu einer Besichtigungstour. Die, die hier losfahren, pendeln zwischen ihrer Arbeit und ihren Familien. Die meisten der Passagiere des Busses mit dem pinken Logo der Gesellschaft Speranza fahren über die Weihnachtstage nach Cluj in Rumänien. Sie besuchen dort ihre Familien, die sie das Jahr über kaum sehen, weil sie in Österreich, in Deutschland, in Großbritannien arbeiten. Nur wenige Mitreisende fahren zurück nach Cluj, weil sie ihre Familien schon besucht haben und sie mit Kommilitonen oder Freunden feiern werden. Verena Mermer erzählt in ihrem Roman von dieser einen Fahrt von Wien nach Cluj im Autobus der Linie Speranza. Wir lernen Fahrer und Passagiere kennen, manche kurz nur, manche länger und genauer. Und dabei bekommen wir Einblicke in die …

Anke Stelling: Schäfchen im Trockenen

Anke Stellings Roman führt uns mitten hinein in den modern-alternativen und trotzdem konservativen Großstadtkiez, in dem die sozialen Unterschiede von früher nur auf den ersten Blick aufgelöst sind. Da ist Resi, Schriftstellerin und Journalistin, mit ihrem Mann Sven, einem Künstler und den Kindern Bea (14), Jack (11), Kieran (8) und Lynn (5). Resi stammt aus einer Familie, die einmal als bildungsnah, als guter Mittelstand bezeichnet wurde. Sie verfügt über eine gute Schulbildung und ein Studium. Sven natürlich auch, er hat es im Gymnasium sogar zu den Alten Sprachen geschafft. Doch bei der Berufswahl sind sie irgendwie falsch abgebogen, haben sich gleich beide für Jobs entschieden, die zwar selbstbestimmt und kreativ sind, keineswegs aber eine soziale Sicherheit, geschweige denn einen finanziellen Aufstieg garantieren. Anders als die Freunde aus Schulzeiten, die als Architekten und Ärzte längst ihre Schäfchen ins Trockene gebracht haben. Und dann auch noch vier Kinder, die zusätzlich zum Armutsrisiko beitragen. Trotz der langen Ausbildungen, trotz einer anspruchsvollen Arbeit können Resi und Sven sich die Mietwohnung innerhalb des Berliner U-Bahn-Ringes kaum mehr leisten, den Musikunterricht …

Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne

Die gesamtwirtschaftlichen Daten sahen zum Jahresende so gut aus, dass sich Angela Merkels Einschätzung „Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut“ (hier und hier, beide Links von 2018) wiederum zu bewahrheiten schien. Da verwundert ein Essay mit dem doch ganz anders konnotierten Titel „Abstiegsgesellschaft“ sehr. An der Universität Basel beschäftigt sich Oliver Nachtwey mit der Auswertung von gesamtwirtschaftlichen Daten, um damit der sozialen Verfasstheit unserer Gesellschaft und den Veränderungen im Ablauf der vergangenen Jahrzehnte auf die Spur zu kommen. Als Professor für Sozialstrukturanalyse erforscht er die Sozialstruktur von Gesellschaften, erforscht ihre sozialen Milieus und die dabei gelebten Lebensstile der verschiedenen Milieus. Und auch wenn seine Thesen aus dem Band „Abstiegsgesellschaft“ von 2016 stammen, so wird, wenn man die neueren Daten noch einmal genauer recherchiert, schnell deutlich, dass seine Thesen auch für 2018 keineswegs überholt sind. Und manches, was er im Text dargelegt hat, z.B. die Entwicklungen am rechten Rand des Parteienspektrums, haben sich im Laufe der fast drei Jahre nach Erscheinen des Essays noch deutlicher herausgebildet. Vor ein paar Monaten schon hat …

Juli Zeh: Neujahr

In erstaunlich vielen jüngst veröffentlichten Romanen spielt Angst eine zentrale Rolle: In Kathrin Gerlofs Roman „Nenn mich November“ hat Marthes Angst vor der finanziellen Zukunft dazu geführt, dass sie einen ihrer Arme nicht mehr als zu sich gehörend empfindet. In Andreas Lehmanns Roman „Über Tage“ trägt Joscha Farnbach auch als Erwachsener noch schwer am Trauma des Unfalltodes seiner Eltern. Und auch in Juli Zehs „Neujahr“ kämpft Henning mit immer wiederkehrenden Panikattacken. Im Unterschied zu Joscha Farnbach aber hat er keine Idee, woher die Angst kommt. Es fing mit den Attacken vor ungefähr zwei Jahren an, kurz nachdem das zweite Kind, die Tochter Bibbi, geboren wurde. Zuerst kamen sie nur nachts, mittlerweile aber auch am Tag. Zuerst hat er seine Frau Theresa nachts geweckt und sie hat versucht, ihm zu helfen. Hat vorgelesen, seine Hand gehalten, einen Tee gemacht, die Wärmflasche gebracht, den Fernseher eingeschaltet und sie haben es auch mit Sex versucht. Aber nichts von alledem konnte Henning beruhigen. Und seit Henning weiß, dass Theresa ihm gar nicht helfen kann, ist es noch schlimmer. „Seitdem …

Céline Minard (2014): Mit heiler Haut (#backlist 1)

Im letzten Jahr hat Céline Minard mit „Das große Spiel“, einer philosophischen Abenteuergeschichten im hohen Gebirge, einen ganz außergewöhnlichen Roman geschrieben. Der machte auf jeden Fall neugierig auf die anderen Bücher Minards. Schon das Cover des 2014 erschienen Romans macht deutlich: „Mit heiler Haut“ ist ein Western. Kann das denn gut gehen, kann das „gute Literatur“ sein? Immerhin ist der Western eher bekannt für seine immer gleichen Klischees, den Postkutschen und Banken, die gerne mal überfallen werden, dem Saloon und dem Gefängnis, den Planwagen und Eisenbahnen, den Siedlern und Indianern, den Glücks- und Goldsuchern, den Ganoven und den Cowboys und ihren immer gleichen Konflikten, die manchmal mit der Hilfe des Sheriffs und der Gesetze gelöst, manchmal aber durch den schnellsten Schützen entschieden werden. Und tatsächlich: Minard bedient sich all dieser Klischees – und erzählt sie doch alle wieder neu. „Unablässig rollte der Planwagen voran.“ So beginnt der Roman mit der Geschichte von den Brüdern Brad und Jeffrey, die zusammen mit Brads Sohn Josh und ihrer Mutter im Planwagen gen Westen reisen, weil vor allem Brad …

1. Frauenleserin Blogparade zum Jahresende

Kerstin Herbert hat zur Blogparade aufgerufen. Sie interessiert die Frage, ob auf den Blogs ähnlich gelesen wird, wie in den Feuilletonredaktionen, ob nämlich vor allem die männlichen Autoren wahrgenommen werden. Und sicherlich möchte sie mit ihren weiteren Fragen auch noch einmal die Literatur von Frauen in den Fokus rücken, die uns Blogger im Laufe des Lesejahres 2018 in verschiedenen Bereiche besonders beeindruckt haben. Anlass zu ihrer Blogparade ist ein Beitrag im NDR. Dort wird berichtet über ein Forschungsvorhaben zum Geschlechterverhältnis in der Literaturkritik, das an der Universität Rostock durchgeführt worden ist: Bei ungefähr gleichen Veröffentlichungszahlen in Belletristik und Krimi werden aber, so das Ergebnis der Untersuchung, 70 % Bücher von Autoren besprochen – und an diesen Zahlen haben auch die Kritikerinnen ihren Anteil. Elisabeth Prommer, die die Studie ausgewertet hat, meint dann auch, dass alle Beteiligten schon das Gefühl einer Gleichverteilung hätten, wenn es in Wahrheit um ein Verhältnis von zwei dritteln Büchern von Autoren und einem Drittel Büchern von Autorinnen gehe. Die Redaktion des NDR-Kulturjournals hat dann auch gleich mal bei den eigenen Beiträgen …

Leserückblick 2018 (3): Vier Familienromane erzählen europäische Geschichte(n)

Möglicherweise gibt es sie in jedem Jahr, aber in diesem Jahr haben mir gleich vier Romane ganz besondere Lesezeiten beschert, die sich dem Genre des Familienromans zurechnen lassen. Auffallend sind sie, weil sie nicht so sehr von den Konflikten und Probleme zwischen den Figuren und ihren Zielen und Werten erzählen oder vom ewigen Zwist zwischen den Generationen, weil sie eben nicht in erster Linie vom Zusammenleben in den Familien erzählen und daraus eine Geschichte entwickeln. Auffallend sind sie, weil sie eher anders herum die Frage ausloten, wie die Familienmitglieder, wie die Familienverbände insgesamt mit gesellschaftlichen, ja, vor allem mit politischen Zeitläuften umgehen, wie sie dem Druck politischer Ideologien standhalten – oder eben auch nicht –, wie das Leben einzelner oder auch das Leben der gesamten Familie beeinflusst wird durch die politischen Zustände. Manche versuchen sich wegzuducken und entwickeln Mechanismen, um den toxischen Anforderungen aus dem Weg zu gehen, damit sie ihr Leben unbehelligt weiter führen können, und fühlen sich alleine durch diese Haltung schuldig. Manche werden zu Mitläufern, manche zu Tätern. Manche engagieren sich in …