Bits und Bytes, Lesen, Romane

Philipp Schönthaler: Der Weg aller Wellen

Wie Emma Braslavsky in ihrer Erzählung „Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten“ beschäftigt sich auch Philipp Schönthaler in seinem neuen Roman mit einer Identitätssuche. Und wie Braslavsky siedelt auch Schönthaler seine Geschichte in einer nicht so fernen Zukunft an, in einer gesellschaftlichen Umgebung, die fast der unseren entspricht. Bei Braslavsky gehört die Künstliche Intelligenz in Form von Androiden zum normalen Alltag, Androiden, die sich kaum mehr von Menschen unterscheiden lassen. Ihre Welt scheint, auch wenn die digitalen Unternehmen in unserer Realität mit Nachdruck die mentalen Prozesse der Menschen erforschen, um sie ihren Rechnern zufügen zu können, mehr in einer Science-Fiction-Welt zu liegen, als die von Schönthaler kreierte Welt.

Bei Schönthaler nämlich ist die Künstliche Intelligenz immer noch in den Computern und den „Devices“ zu finden, die seine Figuren mit sich tragen. Über Laptop und Phone können Informationen recherchiert und Nachrichten gesendet werden, Eingangskontrollen – hier über eine Handerkennung – zum Arbeitsplatz, zum Firmenshuttle und zur Wohnung machen das Leben ohne Schlüsselbund und Ausweis bequem. Das alles ist ja für uns kaum eine allzu exotische Zukunft.

Was aber passiert, wenn es in dieser schönen digitalen Welt zu Fehlern kommt? Wenn sich die Künstliche Intelligenz, die sich selbstlernend weiterentwickelt hat, auf einmal die falschen Schlüsse zieht – oder gar etwas vergisst. Weil die Abfolgen von 1 und 0 nur geringfügig in Unordnung gekommen ist? Und wenn dann niemand – vor allem kein Mensch – mehr da ist, der diesen Fehler korrigieren kann oder will? Das mag nicht so problematisch sein, wenn das falsche Essen geliefert oder der Platz im Flugzeug nicht gebucht ist. Wenn es die digitale Identität ist, die plötzlich verloren gegangen scheint, dann sind die Folgen tatsächlich existentiell. Vor allem in einer Gesellschaft, die den Zugang nicht nur zu den wichtigen Orten des Lebens, sondern auch zu sozialen Kontakten über genau diese digitale Identität steuert.

So einen digitalen Identitätsverlust erleidet der Ich-Erzähler eines Morgens auf dem Werg zu seinem Arbeitsplatz. Er arbeitet in einem dieser architektonischen Wunderwerke, die Tech-Unternehmen schon aus Gründen ihrer Corporate Identity bewohnen, in einem dieser Glaspaläste, die von außen Einblick in alle möglichen Formen des modernen Arbeitens geben und Transparenz symbolisieren sollen. Sein Unternehmen wird, der Form des Gebäudes entsprechend, „Ring“ genannt, die Mitarbeiter sind die „Ringer“. Es ist sicher kein Zufall, dass diese Umgebung ganz stark an Dave Eggers „Circle“ erinnert.

An der Schleuse zum Campus seines Arbeitgebers wird dem Ich-Erzähler der Zugang verweigert: Trotz mehrmaligen Scannens seiner Hand – einmal wischt er sie sogar an der Hose ab – leuchten die roten Dioden auf, ein Warnhinweis ertönt, die transparenten Sicherheitstore bleiben an Ort und Stelle. In der Schlange hinter ihm fangen die ersten an zu murren. Der Kollege Vitali dagegen, der in der Reihe neben ihm steht, schlägt ihm kumpelhaft auf die Schulter, ruft ihm „Game over“ in der Computerstimme der 1990er Jahre zu und scheint seinen Spaß zu haben über den verwehrten Zugang. Wirklich ernst nehmen kann keiner diese Verweigerung der Schleuse, immerhin trifft hier Technik eine Entscheidung und die ist üblicherweise fehlerfrei. Sowohl die False-Acception-Rate als auch die False-Rejection-Rate sind verschwindend gering, so sind sich die Kollegen sicher. Diese klugen Fachsimpeleien helfen dem Erzähler aber auch nicht aus seiner misslichen Situation.

„Ich mimte ein Lachen, gab vor, den Polycarbonat-Dom zu punchen, als säße ich vor dem Riesenbuzzer einer trashigen Vorabend TV-Quizshow, die Antwort fieberhaft auf der Zunge. Eine lange Sekunde betrachtete ich, wie er mit halb nachlässigem, halb sorglosem Schritt davonlatschte, die Fußspitzen seitwärts minimal ausgestellt, das über dem behaarten Nacken pendelnde Zöpfchen, mit dem einfachen Haushaltsgummi zusammengehalten, sah kacke aus.“

In den ersten Tagen nach seinem Scheitern an der Schleuse kann der Ich-Erzähler seine Arbeit noch fortführen, er macht eine Geschäftsreise, hat Kundentermine. Aber er kommt nicht mehr auf das Firmengelände. Und dann funktioniert auch das Einchecken im Firmen-Shuttle nicht mehr. Mehr und mehr Zugänge werden in den kommenden Wochen gesperrt, die Rückzahlungskonditionen seines Kredites verschlechtern sich, die Personalabteilung moniert seine unentschuldigten Abwesenheiten, schließlich kann er nicht einmal mehr in seine Wohnung gelangen. Eine Lösung scheint es nicht zu geben: Im eigenen Unternehmen wird sein Problem von Abteilung zu Abteilung weiter gereicht, in der Personalabteilung wiegelt ihn ein Computerprogramm ab, als er schließlich seinen Chef Rheimer erreicht – möglicherweise nur, weil er seine Nummer unterdrückt hat – versucht der ihn auch zu beruhigen:

„Mach dir keinen Kopf. Das ist nur pro forma. (…)An deiner Stelle würde ich das nicht zu hoch hängen. (…) Wie gesagt, bei mir ist es gerade ganz schlecht. Warum sprechen wir nicht einfach Anfang nächster Woche in Ruhe. (…) Dann mach doch erst einmal Wochenende. Und relax.“ Und dann: „Verstehe, ich kann mich momentan leider weder positiv noch negativ zu dem Ganzen äußern, du verstehst.“    

Diesen Satz wird er häufig hören, wenn er hartnäckig bleibt und in der Personalabteilung oder bei der Bank Klarheit über seinen Status einfordert. Dabei scheint er bei diesem grotesken, ja: kafkaesken Verlauf seiner Geschichte recht ruhig zu bleiben. Das mag an seiner Sprache liegen, in der er alle menschlichen Regungen und Überlegungen in eine Technologie-Sprache übersetzt, in der ür Gefühlsregungen offensichtlich kein Code vorhanden ist. So sinkt er in den „Ruhemodus“, er „ruft“ zur Erinnerung ein Gesicht „auf“, er benennt exakt die Sekunden, die es dauert, bis das Flugzeug von der Startbahn abhebt,und er erkennt wie sich bei seinem Gesprächspartner „die Helligkeitswerte der voluminösen Gesichtszüge […] um einen Skalenstrich und mehr verdunkelt [hatten].“ Dass es in ihm hoch her geht, lässt sich alleine am hohen Puls erkennen, den er auf seinen digitalen Geräten abliest, an den Alpträumen, die ihn immer öfter heimsuchen, an seinen nächtlichen exzessiven Trainingseinheiten und an seinem permanenten Medikamentenkonsum. Hier ist Ritalin oft das erste Mittel seiner Wahl.

So wie mehr und mehr Systeme die Identität des Ich-Erzählers vergessen und den Zutritt verweigern, so büßt er auch mehr und mehr soziale Kontakte ein. Das wirkt sehr beunruhigend, denn ganz offensichtlich kümmert sich weder der Chef noch seine Kollegen darum, dass er nicht an seinen Arbeitsplatz kommt. Keiner ruft ihn an, keiner versucht, aus dem Ring heraus das Problem zu lösen. Und auch der Anwalt, den er irgendwann aufsucht, um ihn mit seinem Fall zu betrauen, kennt keinen Lösungsweg, sagt ihm keine konkrete Hilfe zu.

Es ist, als würde der Ich-Erzähler nicht nur seine digitale, sondern auch seine tatsächliche Identität verlieren. Und so wird auch das letzte Kapitel des Romans nicht mehr aus seiner Sicht erzählt, sondern aus der Perspektive einer Journalistin, die sich einer Hippie-Gemeinschaft in einer ausgedienten Serverfarm des Nachrichtendienstes an einem See in der Wüste niedergelassen hat. Auch dies ist keine Idylle, denn die Umgebung ist durch eine Landwirtschaft mit hohem Einsatz von Chemie verseucht. Und auch die Menschen, die hier eine Alternative leben wollten, scharen sich gerade hinter Ransom oder Tyler zusammen, den einstmaligen Freunden, die nun aber zu Anführern zweier Gruppen mit unterschiedlichen Lebensentwürfen werden – die Anhänger von Ransom reißen die alten Zäune ab, die Gefolgschaft von Tyler baut sie wieder auf. Der Konflikt zwischen ihnen eskaliert mehr und mehr, erste Opfer sind die Kojoten, die hier leben.

In dieser Gesellschaft lebt auch der Ich-Erzähler sechs Monate lang. Auch hier bleibt er ohne Namen, auch hier verschwindet er eines Tages wieder, eine Suche nach ihm hat keinen Erfolg; er geht tatsächlich „den Weg aller Wellen“. Im Prinzip bleibt nichts von ihm zurück als sein altes Auto und die Papiere, auf denen er die Ereignisse seines Identitätsverlustes für den Anwalt zusammengetragen hat. Und die Journalistin überlegt nun, in ihr altes Leben zurückzukehren und aus diesen Notizen ein Buch zu machen.

Ransom aber, der charismatische Wortführer, der, wenn er nicht zu Vorträgen durch die ganze Welt reist, einmal in der Woche seine Anhänger um sich versammelt, hat eine vage Lösung für das Identitätsproblem:

„Das Problem der Identität lässt sich nicht dadurch lösen, dass man sie biologisch oder ontologisch festschreibt. Sie ist ein Risiko, das gemanagt werden muss.  […] Wir müssen die Identität als einen Schlüssel begreifen. Die einzelnen Transaktionen verknüpfen sich zu einem Code, der darin so etwas wie eine Erzählung über die jeweilige Entität bildet. Als solche lässt sie sich jeder Zeit zurückverfolgen. Gleichzeitig wird dieser Schlüssel für jede Tranbsaktion herangezogen und beglaubigt sie im Abgleich mit dezentralen Datenbanken. Mit jeder neuen Transaktion wächst die Historie der einzelnen Entität, je länger sie wird, desto unwahrscheinlicher werden Verwechslungen oder die Möglichkeit zur Manipulation.“

Philipp Schönthaler hat seinen Ich-Erzähler in eine dystopische Welt geschickt. Und ausgelotet, was passiert, wenn allgegenwärtige Algorithmen Fehler machen. Mit dem Thema der (digitalen) Identität hat er sich dabei eines besonders brisanten Themas angenommen. Und spielt damit – nicht zuletzt im dritten Teil, in dem er eine neue Erzählstimme zu Wort kommen lässt. Und in gewohnter Philipp-Schönthaler-Manier bleibt genug Spielraum für den Leser, sich von den Leerstellen und auch den (literarischen) Assoziationsangeboten zu Deutungen inspirieren zu lassen.

Philipp Schönthaler (2019): Der Weg aller Wellen, Berlin, Verlag Matthes und Seitz

4 Kommentare

  1. Ohne Code keine Identität… oh, schöne neue Welt! Selber lesen werde ich alte Romantikerin das Buch wohl nicht, aber deine Rezension fand ich sehr fesselnd. Liebe Grüße aus Hamburg!

    • Liebe Maren,
      und der Code entsteht erst durch Transaktion. Das mögen im weiteren Sinne nicht nur ökonomische Transaktionen sein, sondern im „günstigeren“ Fall auch Recherchen. Das das alles Identität ausmachen könnte, ist schon … doll (wie der Wuppertaler sagt).
      Romantisch ist der Roman wirklich nicht, die Sprache von digitalen Begriffen geprägt, der nicht lösbare Identitätsverlust erinnert an Kafkas „Prozess“. Aber ich freue mich sehr, dass du meine Besprechung gerne gelesen hast.
      Viele Grüße, Claudia

  2. Wow, spannender Ansatz! Vor allem, da man die Erfahrung ja kennt oder immer als unmittelbar fürchtet. Man steht vor dem Bankautomaten und die Karte wird eingezogen. Erstmal kein Ansprechpartner, sondern bloß die kahle Fläche, die keine Antworten mehr gibt. So ist es einfach. Wunderbar existentiell.
    Buch ist vorgemerkt.

    • Heute habe ich gelesen, dass sich viele der Mitarbeiter der TUI in Schweden einen Chip implantieren lassen. Zum Beispiel für die Eingangskontrollen. Ich habe nicht weiter gelesen, aber es passt ja gut zum Roman. – Ich wünsche viel Freude beim Lesen. Und dass der Bankautomat die Bankkarte immer wieder ausspuckt.
      Viele Grüße, Claudia

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.