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Emma Braslavsky: Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten

Emma Braslavskys Roman knüpft da an, wo Ian McEwans Geschichte aufhört. In ihrer Welt nämlich sind die Androiden zur Marktreife gelangt und jeder, der sich eine Recheneinheit leisten kann, lässt sich einen Partner nach individuellen Vorstellungen programmieren. Der eine möchte eine Partnerin, die die Wohnung in bester Ordnung hält und gerne kocht, die andere lieber einen Gefährten, der sie umarmt und küsst und Lust auf Sex hat; die eine geht gerne mit Mads Mikkelsen aus, der andere mit Pedro Almodóvar. Im Berliner Nachtleben ist kaum noch zu unterscheiden, wer Mensch, wer Recheneinheit ist. Es wird gegessen, getrunken, geflirtet und getanzt und wem das noch nicht reicht für das gute Gefühl, der versucht es auf der Toilette mit schnellem Sex oder mit Amphetaminen.

„Die Liebe 3.0 stillt endlich alle menschlichen Sehnsüchte. Alle. Lust? Anerkennung? Unverbindlicher Kontakt? Ekstase? Geborgenheit? Schutz und Sicherheit? Selbstbestätigung? Abenteuer? Hunger nach exotischen Erfahrungen? Platonische Freundschaft? Trans? Homo? Hertero? Poly? Zwischenartlich? Es gab keine Verbindung, die es nicht mehr geben konnte. Die Entfaltung des Ichs hatte jetzt eine neue soziale Bühne, auf der es bewundert werden konnte.“

Wer keine Recheneinheit will oder sich keine leisten kann, dem steht immerhin die Möglichkeit offen, Liebesbriefe zu abonnieren, die fleißige Bots schreiben und die die Nachtpostbotendrohne Gert im Postschlitz neben dem Wohnzimmerfenster zustellt, egal in welchem Stockwerk.

Trotz dieser schier paradiesischen Zustände: Die Menschen sind unglücklich. Allein in Berlin wählen Tag für Tag um die 50 Einwohner den Freitod. Sie nehmen Tabletten und sterben in ihren Wohnungen, sie stürzen sich von Dächern vor die Eingänge der Nachtbars, ertrinken in Kanälen und Seen. Denn so weit ist es doch nicht her mit den Versprechungen der neuen Liebe. Auch die nach eigenen Vorstellungen personalisierte Recheneinheit kann den Menschen nicht darüber hinwegtäuschen, dass er im Grunde seiner Seele „alleine“ ist, „isoliert“, „weil kaum einer hier mehr Anschluss an andere fand.“

Und die vielen Suizide machen der Stadt Probleme. Nicht so sehr aus ethischen Gründen, sondern vielmehr aus finanziellen. Weil die Bürger ja alleine leben, finden sich meistens keine Angehörigen, die sich um die Bestattung kümmern und sie vor allem bezahlen. So muss die Stadt ermitteln, ob es Angehörige gibt, muss diese zur Bezahlung der Rechnungen zwingen – oder bleibt auf den Bestattungskosten sitzen. Und das passiert immer öfter und wird über kurz oder lang zu einem finanziellen Desaster für die öffentlichen Haushalte sorgen. Diese mühsame Detektivarbeit führt zu einer Überlastung der mit dieser Aufgabe betrauten Polizisten im eigens eingerichteten Suizid-Dezernat.

So kommt Roberta ins Spiel. Roberta ist eine Recheneinheit und stammt vom Start-up Intellabour GmbH, das Androiden für den umkämpften Arbeitsmarkt zur Verfügung stellt. Roberta ist keine Haushaltshilfe und keine „Sexpuppe“. Sie ist programmiert für die Polizeiarbeit, für das Aufspüren der Angehörigen der durch Suizid gestorbenen Menschen. Dazu kann sie natürlich auf alle Informationen aus den Daten der Verwaltung, dem Internet und auch den Programmen anderer Recheneinheiten zugreifen Sie kennt alle Vorschriften für die Polizeiarbeit, ihr fallen die kleinsten Veränderungen auf, Blicke und Gesten und die winzigen Veränderungen der Gesichtsfarbe oder der Körpertemperatur der Menschen in ihrer Umgebung, und sie kann daraus blitzschnell Schlüsse ziehen. Und wenn es sein muss, dann wandert sie auch über den Grund eines Sees, um Beweisstücke zu finden.

Robertas erste Aufgabe ist die Ermittlung der Eltern von Lennard Fischer. Lennard ist Profitaucher und Workshopleiter für Aufmerksamkeitsentflechtung. Er lebt zusammen mit der Recheneinheit Beata, die er übernommen hat, weil ihr Vorbesitzer sich in einen anderen Mann verliebt und Beata und die eigene Wohnung zurückgelassen hat. Einen Monat hat Lennard gebraucht, um Beata das Küssen und das Umarmen beizubringen, denn ihr Vorbesitzer hat sie zum Kochen, Aufräumen und Putzen programmiert. Nun ist Lennard in einem See ertrunken und Roberta betrachtet seinen Leichnam am Ufer. Glücklich wie ein Baby sieht er aus, findet Roberta, zufrieden, weil er seinen letzten Atemzug unter Wasser gemacht hat. Robertas Sensoren untersuchen eine Vielzahl von Messwerten und sie weiß sofort, dass Lennard vor dem Gang ins Wasser Kokain genommen hat und andere halluzinogene Drogen:

„Auch Einwirkungen von außen waren nicht erkennbar. Sie legte eine Hand flach auf seinen Brustkorb. Selbsttötung war der menschlichste Ausweg, kein Gott und kein Tier hatte dieses Privileg, und vielleicht auch Roberta nicht.“

So beginnt Robertas Suche nach Familienmitgliedern Lennards, die zur Bezahlung seiner Bestattung herangezogen werden können. Stundenlang fährt sie mit der U-Bahn durch Berlin und Umgebung, setzt sich mit dem Bestatter auseinander und mit Mitarbeitern der Behörden, deren Verhalten – obwohl die Geschichte ja in der Zukunft spielt – wie ein Rückfall in die Mitte des 20. Jahrhunderts wirkt. Diese Kooperations(un)willigkeit fordert Roberta zu immer neuen Überrumpelungsstrategien heraus und bringt den Leser ein ums andere Mal zum Lachen. KI meets Bürokratie – das Thema gibt wohl auch in der Zukunft noch einiges her und ist in vielen Situationen, wenn nicht für Roberta, dann aber für den Leser, ein großer Spaß.

Der Strang, der von Robertas Recherche erzählt, bringt uns tief in eine Gesellschaft, die auf der einen Seite der unseren so ähnlich ist, dass die Geschichte auch jetzt und hier spielen könnte. Es ist aber auch eine Gesellschaft, in der die Menschen sich Roboter als Lebenspartner nach eigenen Wünschen kreieren und in der Roboter auf den Arbeitsmarkt drängen. Eine Gesellschaft, in der die Suizidrate ständig steigt und als Todesursache die üblichen Krankheiten abzulösen droht. Und eine Gesellschaft, in der die Angehörigen sich nicht um ihre Toten kümmern. Eine dystopische Gesellschaft also wieder einmal, in der die Weiterentwicklung der Künstlichen Intelligenz die Menschen nicht bereichert, sondern die durchaus problematischen Entwicklungen vorantreibt.

Braslavsky hat sich für ihre Geschichte eine interessante Erzählerperspektive ausgesucht. Der weitaus größere Teil nämlich wird aus der Perspektive Robertas erzählt. Das ist ein Problem – und gleichzeitig ein Gewinn für den Roman. Kritisch ist die Wahl dieser Erzählperspektive, weil die Erzählstimme einer Künstlichen Intelligenz, die dann doch erzählt wie ein Mensch, zumindest zweifelhaft ist. Es ist nun einmal problematisch, einem Computer eine Stimme zu geben, ihm sozusagen mentale Prozesse zuzuschreiben, wenn er seine Umgebung beobachtet und deutet, wenn er aus den Beobachtungen lernt, wenn er diese Beobachtungen auch gedanklich in Sprache umsetzt, genauso, wie wir Menschen es tun.    

Diese Perspektive ist aber andererseits auch sehr reizvoll. Roberta, die gerade erst programmiert und eingeschaltet wurde, versucht, einen – sozusagen eingebauten – Mangel zu beheben. Sie beklagt, dass sie keine eigenen Erfahrungen habe, keine Gefühlsregungen, ja, dass ihr eine Identität fehle. Und indem sie nun ihre Umgebung beobachtet, indem sie schaut, was Menschen tun, wie sie sich verhalten und wie sie sprechen, versucht sie diesen Mangel zu beseitigen, versucht sie, eine (eigene?) Identität zu erlangen.

Identität ist also ein Thema, das Braslavsky am Roboter Roberta ausleuchtet. Bei der Identitätssuche hat Roberta jedenfalls Unterstützung durch ihre Programmierung. „Sie war der Verstandesersatz in Zeiten zunehmender menschlicher Geistes- und Gefühllosigkeit“, sinniert sie einmal über sich. Und tatsächlich: Den menschlichen Ermittlern ist die Identität der Suizidopfer über die biographischen Daten hinaus egal. Roberta aber ermittelt weiter und sucht im Leben Lennards nach seinen wahren Interessen, Wünschen und Begabungen. Sie versucht, ihn zu verstehen, und kommt eine Seite Lennards auf die Spur, die er seinem sozialen Umfeld gegenüber immer versteckt hat. Sie scheint auch die einzige im ganzen Umfeld Lennards zu sein, der es wichtig ist, dass er eine würdige Beerdigung bekommt.

Ein irrwitziges Setting hat Emma Braslavsky sich also für ihren neuen Roman ausgedacht, überdreht, komisch, erschreckend. Es ist eine Großstadtgeschichte, in der der Mensch kaum mehr vom Roboter zu unterscheiden ist. In der sich aber der Roboter bei der Suche nach sich selbst am Menschen orientieren – und manchmal gar der bessere Mensch ist.

Emma Braslavsky (2019): Die Nacht war bleich, die Lichter blinkten, Berlin, Suhrkamp Verlag

6 Kommentare

  1. Welch‘ ein Szenario, liebe Claudia. Das Buch muss ich unbedingt lesen, spielt es dann auch noch in Berlin, meiner Heimat. Leider gibt es das Buch noch nicht als Hörbuch, ich war jedoch erstaunt, dass es die Serie Agent der Zukunft der Autorin, Teil 1 – 4, als Hörbuch zu erwerben gibt. Leider ist jeder Teil nur um die 90 Minuten lang und so überlege ich noch, ab ich die 4,60 Pro Teil anlege. Mal sehen.
    Liebe Grüße aus Berlin von Susanne

    • Liebe Susanne,
      ich erkenne ja nur Berlin – wird auch genannt – , aber ich anderen Rezensionen habe ich gelesen, dass die Geschichte in Kreuzberg spielt. Vielleicht erkennen Ortskundige ja das eine oder andere wieder. Und auf solch ein Szenario muss man wirklich erst einmal kommen. Und Roberta ist auch eine echt nette Recheneinheit.
      Die Serie, die du genannt hast, kenne ich gar nicht. Da muss ich gleich mal wieder recherchieren.
      Liebe Grüße, Claudia

  2. Auf jeden Fall ein interessanter Zugang. Mir gefällt die Gleichzeitigkeit von technischer Perfektion und menschlichem Zerfall sehr gut. Umso glatter und funktionaler die Oberflächen, umso weniger dringt durch. Dahinter kann es rotten. Dass ein Roboter hier nun „humanistisch“ wirkt, ansetzt, ist dann eine besondere Überraschung.

    • Das stimmt, das Streben des Roboters nach menschlicher Identität ist hier wirklich eine Überraschung und ein Aspekt, der den Roman trägt. Ähnlich überraschend ist ja auch die Reaktion der Androiden bei Ian McEwan: Dass sie sich selbst zerstören, weil sie an den Menschen – und ihrer Gewalt/Abwertung bzw. auch Irrationalität – verzweifeln. So bieten die aktuellen Romane durch die Roboter immer wieder einen neuen Blick auf uns Menschen.
      Viele Grüße, Claudia

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