Alle Beiträge, die unter Reportagen gespeichert wurden

Juan Moreno: Tausend Zeilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus

Die Reportage ist eine ganz besondere journalistische Textsorte. Damit die Leser bedeutsame Situationen miterleben und nachempfinden, damit sie das Gefühl haben, bei den Ereignissen mit vor Ort zu sein, dort zu sehen und hören, was passiert, wird der Reporter zu einem übermittelnden Medium. Er schreibt auf, was er am Schauplatz der wissenswerten und aufregenden, vielleicht auch erstaunlichen Vorgänge erlebt hat, er notiert, mit wem er gesprochen und was er beobachtet hat, er erzählt die Geschichte einer Betroffenen. Er übermittelt also die Situation so lebensnah wie möglich, mit dem Ziel, beim Leser ein „Kopfkino“ zum Laufen zu bringen. Damit diese eine Situation, die hier für ein vertieftes Verständnis beim Leser sorgen soll, aber auch umfassend verstanden werden kann, bedarf es einer Einordnung der erzählten Szenen in einen faktenorientierten Hintergrund. Hier kommt also die journalistische Recherche zum Zug, hier werden Daten vermittelt, hier wird reflektiert und analysiert. Und es geht natürlich auch immer um die Frage nach der Wahrheit, der Überprüfbarkeit und der Echtheit – sowohl der erzählten Situation als auch der dazugehörenden Informationen. Da löste der …

Wolfgang Bauer: Über das Meer. Mit Syrern auf der Flucht nach Europa. Eine Reportage

Gerade die vergangene Woche hat uns wieder Beispiele der menschenverachtenden Taten der Schleuserbanden sehr deutlich vor Augen geführt: In Österreich wurde ein Kühltransporter gefunden, in dem über 70 Menschen erstickt sind, auf dem Meer vor Libyen sind wiederum zwei Schiffe mit Flüchtlingen an Bord gekentert. Wer Di Nicolas und Musumecis Bericht, wer Wolfgang Bauers Reportage gelesen hat, wundert sich fast schon mehr darüber, dass solche Funde, dass solche Unglücke auf dem Meer nicht noch viel häufiger passieren. Haben Di Nicola/Musumeci in ihren Recherchen „Bekenntnisse eines Menschenhändlers“ die Arbeitsweisen der Schleuser- und Schmugglernetzwerke, die Flüchtlinge aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa bringen, beschrieben, so zeigt uns Wolfgang Bauer in seiner beeindruckenden Reportage die andere Seite der Flucht, nämlich die traumatischen Erlebnisse der Flüchtlinge. Er hat versucht, zusammen mit dem tschechischen Fotografen Stanislav Krupar, mit syrischen Flüchtlingen im April 2014 aus Ägypten über das Meer nach Italien zu gelangen. Täglich kommen zigtausend Flüchtlinge auf diesem Weg an den Küsten Italiens und Griechenlands an. Welche Erlebnisse sie bis dahin schon hinter sich gebracht haben, können wir …

Andrea Di Nicola, Giampaolo Musumeci: Bekenntnisse eines Menschenhändlers. Das Milliardengeschäft mit den Flüchtlingen

Eines der Themen, über das Zeitungen, Fernsehnachrichten und Internetseiten jeden Tag berichten, ist das der vielen Flüchtlinge, die in diesem Jahr ihre Einreise nach Europa versuchen. Von 600.000, die in diesem Jahr nach Deutschland kommen, ist die Rede, vielleicht werden es auch 750.000 [1] oder 800.000. Auf welchen Wegen diese Menschen nach Europa gelangen, welchen Risiken sie sich aussetzen und welchen Händen sie ihr Leben anvertrauen, das haben die beiden italienischen Autoren Andrea Di Nicola, der als Kriminologe mit dem Schwerpunktthema „organisierte Kriminalität“ an der Universität Trient lehrt, und Giampaolo Musumeci, Fotograf und Dokumentarfilmer, in diesem Buch dargestellt. Sie haben an den üblichen Routen mit den vielen Schleusern gesprochen und gewähren so einen tiefen Einblick in „die größte kriminelle Reiseagentur der Welt“. Für ihr Buch haben sie 2013 und 2014 recherchiert, also noch bevor die ganz großen „Reisebewegungen“ eingesetzt haben, die wir in diesem Jahr beobachten können. Der Titel, dies sei zu Beginn festgehalten, ist recht auffallend, vielleicht gar reißerisch – und dies ist auch kein Übersetzungsfehler, sondern er entspricht durchaus dem italienischen Original – …

Robert Kisch: Möbelhaus. Ein Tatsachenroman

Fast könnte man meinen, dass Robert Kisch dort weiter schreibt, wo Kristine Bilkaus Roman „Die Glücklichen“ endet. Wie in Bilkaus Roman nämlich Georg, so ist auch hier ein Journalist, nämlich Robert Kisch, arbeitslos, gleich zweimal hintereinander hat ihn die Krise der Zeitungen getroffen, gleich zweimal hintereinander ist er gekündigt worden – und nun findet er keinen neuen Job mehr. Selbst die Versuche, es als freier Journalist zu schaffen, klappen nicht. So wie Georg hat auch Robert einen Sohn, fühlt auch er sich als Familienvater verpflichtet, für das Familieneinkommen zu sorgen. Nur Robert ist schon einen Schritt weiter als Georg, einen Schritt weiter auch nach unten auf der sozialen Leiter, denn er hat sich entschlossen, irgendeinen Job weit außerhalb des Journalismus anzunehmen, Hauptsache ein sicheres monatliches Einkommen, und so hat er begonnen, in einem großen Möbelhaus als Verkäufer zu arbeiten. Der morgendliche Gang „ins Gefängnis“, wie die Mitarbeiter den sonnenlichtlosen Bau nennen, die Morgenbesprechung, bei der die Abteilungsleiter ihre Verkäufer „auf Kurs bringen“, dies ist natürlich nicht bezahlte Arbeitszeit, die inhaltsleeren, dummen Phrasen, die die Verkäufer …

Heike Geißler: Saisonarbeit

Es gibt wenig Literatur darüber, wie es so abläuft in unseren Produktionshallen, Büros und Eventagenturen. Romane, die sich mit der Welt der Arbeit und ihrer Auswirkungen auf die Menschen beschäftigen, Romane, die sich damit auseinandersetzen, wie weit das Primat der Wirtschaft in alle gesellschaftlichen Bereiche eingedrungen ist, sind kaum zu finden. Auch in den neuesten Verlagskatalogen drängeln sich Entwicklungsromane und die üblichen Geschichten zu Liebe, Lust und Leidenschaft und ihren dramatischen Seiten, flankiert von den Geschichten, die uns in die Vergangenheit entführen. Kaum ein deutscher Roman setzt sich dagegen mit ganz aktuellen gesellschaftlichen Verwerfungen auseinander. So muss der interessierte Leser also zu Fachpublikationen greifen oder ist froh, wenn es wenigstens mal einen Essay, eine Reportage zum Thema gibt. Und einen Essay hat nun Heike Geißler geschrieben über ihre Zeit als Weihnachtssaisonkraft im Leipziger Lager von Amazon – und gleich noch eine Auseinandersetzung über die wirklich alle Energie aussaugende prekäre Arbeit. Auch wer schon einmal an einer Kasse im Supermarkt, an einer Maschine in der Produktion oder an der nach Prinzipien der Arbeitsteilung bis in kleinste …

Gabriele Goettle: Der Augenblick. Reisen durch den unbekannten Alltag

Gabriele Goettle hat diesem Band mit 26 Reportagen, die zwischen 2007 und 2009 entstanden und bereits in der TAZ erschienen sind, den Untertitel „Reisen durch den unbekannten Alltag“ gegeben. Tatsächlich erzählen die in diesen Reportagen porträtierten Frauen von ihrem Alltag und konzentrieren sich bei ihrem Reden und Erzählen vor allem auf ihre Berufe oder ihr sozialpolitisches Engagement, sodass ganz ungewöhnliche, eben unbekannte Bereiche des Alltags beleuchtet werden. Es sind Texte entstanden, in denen außergewöhnliches Expertentum deutlich wird und das vor allem auch in seiner hier zusammengetragenen Vielfalt ungewöhnlich, interessant und spannend ist. Die Kioskfrau berichtet über ihre jahrzehntelange Arbeit und beschreibt dabei, fast nebenbei, nicht nur ihr Arbeitsethos, sondern auch die soziale Entwicklung in ihrem Umfeld. Die Körperhistorikerin schildert die Ergebnisse ihrer Forschungen und ihre Erkenntnis, dass sich Körper- und Krankheitswahrnehmungen im Laufe der Jahre und Jahrhunderte geändert haben, von einer ganz unmittelbaren, fast bildlich-naiven Beschreibung von Krankheitssymptomen hin zu unserem eher mathematisch-statistisch geprägten Blick auf Krankheiten, der Risiken fast vorhersehbar macht. Die Gründerin des Krisentelefons „Pflege in Not“ berichtet von den schon irrwitzigen Zuständen …

Meike Winnemuth: Das große Los

Was tun, wenn man eine größere sechs- oder gar siebenstellige Summe im Lotto gewinnen würde: Erst einmal die notwendigsten materiellen Wünsche erfüllen – das Traumauto, das Traumhaus, das Pferd, das Boot – oder mit dem Geld etwas ganz anderes anstellen, nämlich endlich das Studium beginnen, das man immer schon mal anfangen wollte, eine lange Reise machen, die man sich immer schon mal erträumt hat, eine Auszeit nehmen vom Beruf oder gar einen Neuanfang starten in einer anderen Stadt, einem anderen Land, einem neuen Beruf oder, oder, oder. Beim Überlegen wird schnell klar, dass hier um die fast schon philosophische Frage geht, was man so völlig anderes anstellen könnte mit dem eigenen Leben – aber vielleicht ist ja auch alles genau so gut, wie es gerade ist (so ergeht es ja Jocelyne in Delacourts Roman „Alle meine Wünsche“). Meike Winnemuth hat das große Los erwischt, 500.000 € hat sie gewonnen bei „Wer wird Millionär?“. Sie hat sich zu der Rateshow beworben, weil sie als freie Journalistin ein finanzielles Polster haben wollte, um nicht jeden Auftrag unbedingt …

Erwin Koch: Von dieser Liebe darf keiner wissen. Wahre Geschichten

Gute Reportagen zu lesen, ist ein wahrer Genuss. Zu einer Zeit entstanden, als es weder Kameras noch Facebook gab, um uns auch noch die letzten Ecken der Erde auszuleuchten, kam dem Journalisten die Aufgabe zu, besondere Ereignisse aus den Metropolen und Winkeln der Welt so zu berichten, dass die Leser den Eindruck gewinnen konnten, unmittelbar vor Ort bei dem Ereignis dabei gewesen zu sein. Neben dem eigenen Augenschein und der Recherche von Hintergrundinformationen hat der Reporter also die Aufgabe, möglichst anschaulich und unmittelbar zu schreiben, mit der Sprache so zu malen oder zu filmen, dass der Leser bei der Lektüre sinnliche Eindrücke entwickeln kann, dass eigene Bilder entstehen, ein „Kino im Kopf“. So bewegt sich die Reportage auf der Grenze zwischen dem (objektiven) Tatsachenbericht, denn Tatsachen sind jeweils die Grundlage der Geschichten, und dem (subjektiven) Erleben. Als Experte vor Ort wählt der Reporter nicht nur aus den Geschehnissen aus, was ihm interessant, merk- und denkwürdig oder auch fremd erscheint, sondern arbeitet durch die Art seiner Textgliederung, seines Spannungsaufbaus und der Wahl seiner Sprache eher wie …