Gute Reportagen zu lesen, ist ein wahrer Genuss. Zu einer Zeit entstanden, als es weder Kameras noch Facebook gab, um uns auch noch die letzten Ecken der Erde auszuleuchten, kam dem Journalisten die Aufgabe zu, besondere Ereignisse aus den Metropolen und Winkeln der Welt so zu berichten, dass die Leser den Eindruck gewinnen konnten, unmittelbar vor Ort bei dem Ereignis dabei gewesen zu sein. Neben dem eigenen Augenschein und der Recherche von Hintergrundinformationen hat der Reporter also die Aufgabe, möglichst anschaulich und unmittelbar zu schreiben, mit der Sprache so zu malen oder zu filmen, dass der Leser bei der Lektüre sinnliche Eindrücke entwickeln kann, dass eigene Bilder entstehen, ein „Kino im Kopf“. So bewegt sich die Reportage auf der Grenze zwischen dem (objektiven) Tatsachenbericht, denn Tatsachen sind jeweils die Grundlage der Geschichten, und dem (subjektiven) Erleben. Als Experte vor Ort wählt der Reporter nicht nur aus den Geschehnissen aus, was ihm interessant, merk- und denkwürdig oder auch fremd erscheint, sondern arbeitet durch die Art seiner Textgliederung, seines Spannungsaufbaus und der Wahl seiner Sprache eher wie ein Romanautor, der die Geschichte in ganz besonderer Weise arrangiert. Und so ist auch der Weg zur literarischen Reportage, in der, immer noch auf den nachprüfbaren Fakten basierend, die Tatsachen noch freier, die Sprache und die Form noch kreativer genutzt werden, nicht weit. [1]
Erwin Koch schreibt Reportagen, die den Leser sofort vereinnahmen und erst wieder loslassen, wenn er – atemlos – bis ans Ende der Geschichte gelangt ist. Dann sieht er eine genaue Szenerie vor sich, er hat Menschen mit ihren besonderen Konflikten kennen- und schätzen gelernt, und fragt sich, wie es den Menschen aus den Geschichten heute wohl geht. Und darüber hinaus kennt er Hintergründe, hat Informationen gewonnen und hat, im besten Falle, am Beispiel eines ganz konkreten Lebens gesehen, welche Auswirkungen gesellschaftliche oder politische Ideen und Handlungen haben. In den in diesem Band versammelten Reportagen geht es fast immer um Leben und Tod [2].
Da sind die Reportagen, die sich mit den Menschen und ihren Familien beschäftigen, wenn die Diagnose einer unheilbaren Krankheit ausgesprochen wird: der 14-jährigen Sarah, die an Leukämie erkrankt, Sanne, gerade auf die Welt gekommen, mit der Schmetterlingskrankheit, und Jörg Immendorf, dem Künstler, dem ALS mehr und mehr die Kontrolle über den Körper raubt; die Reportagen, die dem Leser Ausschnitte einer schier unglaublichen Politik zeigen, so der Uiguren, die, in China verfolgt, von Land zu Land ziehen, um sich einen kleine Lebensgrundlage aufzubauen und dabei als Gefangene in Guantanamo landen, oder die Geschichte des Brasilianers Domingo, der sich als Gewerkschafter dafür einsetzt, dass die staatlich zugesicherte Landverteilung auch umgesetzt wird und der dafür auf die Todesliste der Großgrundbesitzer gerät. Und dann ist da noch Gertrude Harris, die dafür kämpft, dass ihr Vater, der im ersten Weltkrieg standrechtlich erschossen wurde, nach 90 Jahren endlich rehabilitiert wird; Dario, der sich mit über 40 Jahren endlich traut, homosexuell zu leben, denn in seiner Familie hat er nichts Gutes gehört über Schwule. Und Rafael und Richard, zwei homosexuelle Priester aus Kolumbien, bestellen sogar ihre eigenen Mörder, bevor ihre Liebe und ihre Krankheit auffallen werden.
Diese fast unglaublichen Geschichten erzählt Koch in einer Sprache, die niemals wertet, niemals dramatisch oder pathetisch wird, sondern wenn nötig ruhig, wenn nötig atemlos, immer sachlich, immer wertschätzend auf die Personen und ihre Handlungen schaut. Mit ganz wenig Worten gelingt es ihm, gleich eine ganze Szenerie zu erschaffen, mit allen Wünschen, allen Hoffnungen – und wie sie sich in Luft auflösen:
Dario Negrotti, zwanzig, Konditor-Confiseur, meldet sich am Konservatorium Bern zur Aufnahmeprüfung an, er übt eine Szene aus Schillers Räuber, auch Goethes Zauberlehrling, walle, walle manche Strecke, dass, zum Zwecke, Wasser fließe, und mit reichem. Vollen Schwalle zu dem Bade sich ergieße, und den berühmten Schlussmonolog aus Die Nashörner von Eugène Ionesco. Endlich steht er auf der Bühne, zehn, fünfzehn Menschen hängen im Raum, Experten, die hüsteln und warten, dass Dario, die Hände feucht und kalt, los wird, was er gelernt hat, immer wieder zu Hause in Derendingen, Kanalgasse 2, was ist meine Sprache?, ist es Deutsch, das?, es muss wohl Deutsch sein, aber was ist denn Deutsch?, man m uss das Deutsch nennen, wenn man will, niemand kann es bestreiten, ich bin der Einzige, der es spricht, was sage ich?, verstehe ich mich denn?, ein Ungeheuer bin ich, ein Ungeheuer, nie werde ich Nashorn, nie!
Dario versucht es auch an der Schauspielschule Zürich (…) (S. 37/38)
2005, aus Anlass des 60-jährigen Bestehens der Süddeutschen Zeitung, hat Stefan Klein eine Reportage über das Schreiben von Reportagen geschrieben und dort auch darüber nachgedacht, ob die Reportage im Angesicht der elektronischen Medien, ihrer Vielfalt und vor allem auch ihrer Schnelligkeit, überhaupt noch eine Zukunft haben kann.
Kann es nicht sein, dass gerade wegen des Stroms der bunten Bilder, wegen des Wustes an Informationen, wegen der schieren Unmöglichkeit, dies alles zu verarbeiten, ein Bedürfnis besteht nach einer geschriebenen Reportage, die einordnet, Zusammenhänge herstellt und Hintergründe sichtbar werden lässt? Die gleichsam eine Schneise fräst in den wilden Dschungel aus Nachrichten, Halbwahrheiten und Gerüchten? Die nicht wie die Linse einer Kamera gierig und sensationsgeil heransaugt, was heranzusaugen ist, sondern ruhig betrachtet und so einen Kontrapunkt setzt zu der Kakophonie rundherum? Scheinheilige Fragen. Ich bin mein ganzes berufliches Leben Zei-tungsreporter gewesen. Natürlich glaube ich an die Reportage, gerade auch und erst recht im Zeitalter der superschnellen Information, vor allem aber glaube ich daran, dass nichts den Augenschein ersetzen kann. (Stefan Klein (2005): Eine Schneise in den Dschungel fräsen)
Und ja, natürlich hat sie eine Zukunft, wenn es Autoren gibt wie Erwin Koch, die uns so eindringliche, so spannende, so realistische Geschichten erzählen können, die über den wahren Kern des einzelnen Schicksals hinaus eine Fragestellung aufwerfen, die politische oder gesellschaftliche Bedeutung hat. Dann werden tatsächlich Hintergründe sichtbar, dann trägt die Geschichte tatsächlich dazu bei, „einzuordnen und Zusammenhänge herzustellen“ , wie Klein schreibt, so, wie es andere Medien in der Form nicht wollen oder nicht schaffen. Wer weiß schon etwas über die sechszehn Uiguren in Guantanamo, die nur dort sind, ohne Rechte, gehalten wie Vieh, weil sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren:
Im Januar 2000, den Tag hat er vergessen, bricht Abu Bakr, ein Sattler aus der Stadt Gulja, ins bessere Leben auf. Er streichelt den Bauch seiner Frau und will nicht weinen, die Frau ist schwanger.
Wann? Fragt sie.
Bald, sagt er, einunddreißig Jahre alt, und geht.
Abu Bakr Qassim ist Uigure, Teil einer turkstämmigen Minderheit im Westen Chinas, zehn Millionen Uiguren allein in der Region Xinjiang, sie sind Muslime, erobert und bedrückt von den Chinesen seit einem halben Jahrhundert, Ostturkestan. (S. 111)
[1] Informationen zur Gattung der Reportage sind z.B. hier und hier zu finden
[2] In einem anderen Band hat Erwin Koch Reportagen über die Liebe zusammegetragen: „Was das Leben mit der Liebe macht. Wahre Geschichten“, Corso Verlag, Hamburg 2011
Hier berichtet Erwin Koch über seine Art des Arbeitens.
Eine weitere Besprechung ist hier zu lesen.
Erwin Koch (2013): Von dieser Liebe darf keiner wissen. Wahre Geschichten, München
Liebe Claudia,
ich danke dir ganz herzlich für diesen wunderbaren Tipp. Vom Autor oder auch diesem Buch habe ich bisher noch nie etwas gehört, es wandert aber sofort auf meine Wunschliste. Bereits deine Besprechung hat mich sehr berührt und angesprochen, so dass ich mir das Buch wohl auf jeden Fall zu legen werde. Danke auch für die Links, den Artikel zur Arbeitsweise von Erwin Koch habe ich mit viel Interesse gelesen.
Bei den Geschichten in diesem Band handelt es sich aber um fiktive Geschichten und nicht um wahre Reportagen, oder verstehe ich das falsch?
Liebe Grüße
Mara
Liebe Mara,
es sind, wie der Untertitel sagt, „Wahre Geschichten“. Der Begriff „literarische Reportage“ bedeutet „nur“, dass der Text eher geschrieben und „komponiert“ ist wie ein literarischer Text, also sprachlich besondrs gestaltet ist, vielleicht auch mit Blick auf die Zeitebenen usw, die Grundlage aber immer die Tatsachenrecherche ist.
Und Koch hat ganz besonders gut gestaltete „literarische“ Reportagen verfasst. Beim Lesen fühlt man sich, als würde eine Geschichte erzählt, und manchmal bleibt sie einem fast im Hals stecken, wenn man bedenkt: das ist tatsächlich Menschen so passiert, vor dem Konflikt haben sie gestanden, das haben sie wirklich erlebt. Mich hat besonders die Reportage über das Baby mit der Schmetterlingskrankheit berührt, über seine Eltern und wie sie damit zurechtkommen. Die Reportage ist mir mehr unter die Haut gegangen als so mancher Roman. Ähhnliche Wirkung hat die unglaubliche Geschichte der Uiguren in Guantanamo. Als Leser möchte man wirklich manchmal denken: alles nur ausgedacht, aber: so ist es eben nicht.
Ich würde mich riesig freuen, wenn Du – und viele andere hier – Kochs Reportagen auch lesen würdest und über Deine Lektüreerlebnisse schreibst.
Viele Grüße, Claudia