Im Flugzeug schon geht das Chaos los, als Benjamin, 13-jährig, nach Monrovia in Liberia fliegt, um seinen Vater zu besuchen, der dort als Entwicklungshelfer Brücken baut. Neben Benjamin sitzt die Frau des ehemaligen deutschen Botschafters in Liberia (die ursprünglich aus Wuppertal (!) kommt). Und sie ist die magische Helferin, die Benjamin mit allen Hilfsmitteln ausstattet, damit er seinen Heldenweg im dunklen, mythischen Wald, der hier Liberia ist, sicher bestehen kann. Sie hat zwar die Tüte, in der Benjamin nicht nur die Sonnenmilch, einen Sonnenhut, etwas Bargeld, sondern vor allem auch seinen Pass verwahrt, an sich genommen und verschwindet damit bei ihrem sehr schnellen Ausstieg nach der Landung. Dafür lässt sie aber ihren sehr muffigen Mantel im Flugzeug liegen, den Benjamin nun an sich nimmt und später feststellen wird, dass viel Geld in seinen Taschen steckt. Indem sie ausgerechnet kurz vor der Landung einen wunderschön blinkenden Ball durchs Flugzeug rollen lässt, stellt sie auch die Bekanntschaft zwischen Benjamin, der zwischen den Stuhlreihen hinter dem Ball herkrabbelt, und Brilliant her. Brilliant ist die sehr verwöhnte Enkelin von Liberia-Flüchtlingen, die nun ihren Onkel besucht, dem gleich alle Total-Tankstellen im Land gehören. Und die Botschafterin hat Benjamin außerdem auch mit einer magischen Botschaft versorgt, die ihn in den nächsten abenteuerlichen Tagen begleiten wird:
In Liberia kann man nicht sterben. (…) Wusstest du das nicht? Sieh mich doch mal an, warum, glaubst du, fliege ich immer wieder zurück? Warum lebe ich noch immer in diesem heißen, schrecklichen Land? (…) Es ist unmöglich [zu sterben]. Solange du weiß bist. (…) Weiß musst du schon sein. (18/19)
Bei der Ankunft am Flughafen überschlagen sich dann die Ereignisse: Benjamin wird natürlich von den Polizisten festgehalten, denn ohne Pass darf er nicht einreisen. Sein Vater, der ihn ja abholen wollte, kommt nicht. Brilliant erinnert sich dann an den merkwürdigen weißen und rothaarigen Jungen, weil sie am Auto des Onkels aufgehalten wird, denn am Wagen sind gleich alle Reifen platt. Das wiederum hat ein Kleinkrimineller namens Harris zu verantworten, der nun, als guter Helfer in der Not, Brilliants Onkel zu einer „Werkstatt“ lotst, in der der Onkel völlig überteuerte Reifen erwerben kann. Da sitzt aber Benjamin schon mit im Wagen und entdeckt während des Reifenwechsels das Geld im Mantel der Botschafterin – und Harris beobachtet ihn beim Zählen.
Daraus ergeben sich dann gleich die nächsten Verwicklungen, an deren Ende Benjamin nicht nur den Übergriffen Harris entkommen ist, nicht nur Bo und seine Familien kennengelernt hat, sondern auch im blauen Haus angekommen ist, in dem die Entwicklungshelfer, die versprechen, sich nach seinem Vater zu erkundigen, leben. In dem Zimmer, in dem er schläft, findet er das Tagebuch eines Arztes, der von seiner Arbeit in einem psychiatrischen Krankenhaus erzählt und besonders von einer Patientin, die wohl weggelaufen ist: Flower.
Während Benjamin dort im blauen Haus ist, ärgert die sehr verwöhnte Brilliant den 16-jährigen Edward, den ihr Onkel extra zu ihrer besonderen Bewachung abgestellt hat, indem sie Edward beispielsweise mit verbundenen Augen über eine viel befahrene Straße gehen oder mehrfach von der Jacht des Onkels zum Strand schwimmen lässt, obwohl das Meer hier viele gefährliche Strömungen hat, weil sie Benjamin, der sich dort mit einigen Entwicklungshelfern aufhält, zu ihrer Geburtstagsfeier einladen will. Und während dieses Strandaufenthaltes will Bo will endlich den Mantel zu Benjamin zurückbringen und macht sich auf den Fußweg durch halb Monrovia. Irgendwann treffen alle drei am blauen Haus zusammen und begeben sich auf die Suche nach Brilliant, die sie nicht nur durch die Stadt führt, sondern auch zu einem im Bürgerkrieg zerstörten Luxushotel und dann in den Dschungel.
Und natürlich übernimmt Bo die Führung der Expedition, denn er ist schließlich derjenige, der sich hier auskennt. Eigentlich ist Bo blind, aber das will er gar nicht hören, so wie er auch seinen Stock nicht nutzt. Er hat eben besondere Fähigkeiten, die manchmal sogar besser sind, als sehen zu können. So kann er hören, ob ein Familienmitglied die Treppe vor dem Haus heraufkommt oder ein Fremder; er kann riechen, ob ihm jemand zuhört, er kennt sich in der Weltpolitik aus, weil er mit seinem Radio immer BBC hört und über die Straßen Monrovia läuft er wie einer, der genau sieht, zwischen welchen Autos er die Fahrbahn überqueren kann. Er findet sich im Wald zurecht, weil er hören kann, wie weit er von der Straße entfernt ist, er kann in einem Gespräch sofort einschätzen, ob sein Gegenüber ihm wohlgesinnt ist oder nicht, wo andere Menschen im Verhältnis zu ihm stehen, ob es sich lohnt abzuhauen. Er kann am Geräusch der Geldnote unterscheiden, ob es sich um liberianische oder amerikanische Dollarnoten handelt und sieht, so meint Okogo jedenfalls, den Menschen direkt auf die Seele, ohne sich an ihrer (Ver-)Kleidung auszuhalten. Und zur Not kann er sich auch einmal mit einer guten Geschichte aus einer brenzlichen Situation befreien, denn von Okogo, der eine Schreibmaschine besitzt und für die Nachbarn die Korrespondenz erledigt, hat Bo gelernt, wie gute Geschichten zu erzählen sind. Und seine kleine Schwester, die kleine Spinne, will auch immer Geschichten von ihm hören.
Merkels „Bo“ ist konsequent aus der Perspektive der drei Jugendlichen erzählt, und zwar von einem auktorialen Erzähler, der sehr souverän die einzelnen Handlungsstränge der drei Protagonisten auslegt und immer wieder zusammenführt. Wie in einem Film erlebt der Leser die parallelen Handlungen auch parallel, wie mit einer Kamera, werden Situationen eingefangen, die so beschrieben sind, dass sie geradezu Filmausschnitte im Kopf des Lesers erzeugen. Auch die Übergänge zwischen den einzelnen Kapiteln, den einzelnen Handlungssträngen, sind wie im Film mit kunstvollen Überblendungen gestaltet. Und sicherlich ist die Art des ausufernden, bis ins kleinste Detail sich entspinnende Erzählen auch dem blinden Jungen geschuldet, der sich seine Welt über das Hören und das Erzählen erschließt, und auch, das erzählte Rainer Merkel in einem Interview, dem Wissen der Jugendlichen in armen Ländern, dass sie den weißen, reichen Menschen eine gute Geschichte auch verkaufen können.
Der Leser erlebt also mit den Jugendlichen die komische und manchmal kaum erklärbare Welt der Erwachsenen, er reist durch Monrovia und später in den Urwald, ohne, mit Ausnahme des zerstörten Luxushotels, die Verwüstungen des Krieges zu sehen. Aus den Augen der Jugendlichen hat der Leser einen unbewerteten Blick auf die Entwicklungshelfer, die in diesem sehr armen Land in Luxushotels Poolpartys feiern und ihre freien Nachmittage am Strand verbringen. Er sieht das nur sparsam möblierte Haus von Bo, aus dem die Geschwister nun ausziehen müssen, weil sie die Miete nicht mehr zahlen können, er besucht mit Benjamin und Bo die armseligen Hütten der Wachleute, die das blaue Haus und das psychiatrische Krankenhaus schützen und oft mehrere Jobs haben müssen, um in ihren armen Hütten überleben zu können.
Die Hütte von Mister Grimms gefiel Benjamin so gut, dass er am liebsten einen ganzen Tag an diesem Ort verbracht hätte, obwohl es eine sehr ärmliche Behausung war. Ein paarmal dachte er: Es sieht hier so aus wie auf einer karibischen Insel, von der meine Mutter mir immer vorgeschwärmt hat. Auch die anderen Hütten in der Umgebung waren ganz aus Naturmaterial, bestanden aus großen Palmblättern und Bastmatten, und die knorrigen Äste der Bäume ragten aus dem Boden, so dass man sich zum Ausruhen draufsetzen konnte. (S. 400/401)
Der Leser nimmt auch teil an der Entwicklung von Brilliant, die im Urwald so geläutert wird, dass sie ein wenig von ihrem hohen Ross heruntersteigt, und natürlich von Benjamin, dem sehr ängstlichen Jungen, der zu Hause von seinen Mitschülern drangsaliert wird und hier nicht nur die erste zarte Liebe erfährt, sondern auch Freunde findet und seine Fähigkeiten einsetzten kann. Diese Entwicklung wird möglich, weil Erwachsene hier merkwürdig abwesend sind – nicht nur Benjamins Vater ist zunächst unauffindbar, auch Brilliant reist ohne Eltern, der Onkel ist viel zu beschäftigt, um auf sie zu achten, und die Eltern von Bo und seinen Geschwistern werden nie genannt. Ermöglicht wird diese Entwicklung durch die Abenteuer, die durch die Suche nach Flower ausgelöst sind und durch den Kleinkriminellen Harris, der zum Glück von einer Dummheit geschlagen ist, die geradezu an die Panzerknackerbande erinnert, einen weiteren Spannungsbogen bekommt.
Das alles ist gut gemeint, aber mit den 700 Seiten nicht gut gemacht. Jede einzelne Szene ist für sich genommen gut gestaltet, beim Lesen ermüdet dies überbordende Erzählen aus der Perspektive der Jugendlichen, die sich ins schier Unendliche dehnende Erzählung gleich dreier Geschichten; es ermüdet die von Anfang an unrealistische Suche nach Flower, der dumme Harris, der ständig an das Geld aus dem Mantel will (das Motiv erinnert auch an die dummen Diebe aus Pippi Langstrumpf), der sehr überzeichnete Charakter von Brilliant; es ermüdet die Erzählung von Jugendlichen, die ihre Geschichte eben nicht Jugendlichen erzählen, sondern Erwachsenen. Das ist sehr schade, denn die Idee des Romans, der Ort, an dem sie spielt, die Figuren, dies alles ist wirklich spannend – aber eben nicht über diese Länge.
Das Interview mit Rainer Merkel ist hier zu sehen und hier (bei Rezensionen) hat der Autor die Geschichte des wahren Bo, den er in Liberia kennengelernt hat, erzählt.
Rainer Merkel (2013): Bo, Frankfurt am Main
Hallo Claudia, ich habe schon immer ein bisschen „Angst“, wenn in meinem Reader ein neuer Artikel von dir auftaucht, weil ich denke: O weia, schon wieder ein neuer Titel, der garantiert auf meine Wunschliste wandert. Aber nein, diesmal nicht, ich vertraue dir und freue ich mich einfach, von dir gut zu dem Buch informiert worden zu sein und zu denken, nee, du hast Claudia nicht überzeugt, also kommst du auch nicht auf meine Liste. Viel Spaß mit deinem nächsten Buch. LG Anna
Liebe Anna,
mit „Bo habe ich mich beim Lesen wirklich schwer getan, das Lesen hat schon richtig lange gedauert. Jetzt, beim Schreiben und mit ein bisschen Distanz und der kleinen Recherche, habe ich ihn fast ein wenig lieb gewonnen. Mit den vielen Seiten ist er dem Autor aber wirklich zu lang geworden, da war es manchmal schon schwer mit der Motivation. Also, wenn Du gar nicht mehr wissen solltest, was Du lesen könntest, dann könntest Du es ja mal mit „Bo“ versuchen… Ich wäre schon sehr neugierig auf Deine Meinung.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia,
bei mir stand dieses Buch eigentlich ganz oben auf meiner Bücherfrühjahrsliste. Vor einiger Zeit hatte ich jedoch eine schlechte Kritik dazu gelesen und es dann erst einmal wieder aus den Augen verloren. Ich freue mich nun ein wenig darüber, dass diese Entscheidung wohl nicht ganz falsch gewesen ist. Gerade auch angesichts der Länge des Romans, werde ich wohl erst einmal zu anderen Büchern greifen und mich dann höchstens noch einmal am Taschenbuch versuchen. 🙂 Mein geplagter Geldbeutel freut sich!
Liebe Mara,
es ist Dir offensichtlich ähnlich gegangen wie Anna: Ich konnte Euch überhaupt nicht von „Bo“ überzeugen :-). Dabei würde ich schon ganz gerne mal mit einem anderen Leser über den Erzähler diskutieren. Ich habe da so eine abgedrehte Idee, habe mich aber nicht getraut, sie in die Rezension zu schreiben, zum einen, weil ich mir nicht sicher bin, zum anderen, weil ich nicht zu viel verraten will für diejenigen, die wild entschlossen sind, „Bo“ lesen zu wollen. Vielleicht wird ja etwas aus dieser Diskussion, wenn es dann das Taschenbuch gibt. Bin schon ganz gesapnnt!
Viele Grüße, Claudia
Oje, ein lieber Mensch hat mir dieses Buch geschenkt, und wie das eben so mit Buchgeschenken ist, war ich gleichzeitig glücklich und skeptisch – glücklich, weil sich überhaupt mal jemand getraut hat, mir ein Buch zu schenken, und zwar ganz eigenständig, ohne auf meine Wunschliste zu gucken (dort hätte er Bo auch nicht gefunden); skeptisch, weil ich natürlich meine eigene, ewig lange Leseliste habe, da fällt es nicht leicht, Bücher, die man nicht selbst ausgewählt hat, dazwischenzuschieben. Derzeit liegt Bulgakow auf dem Nachttisch (ebenfalls ein Geschenk…), aber sobald ich diesen Wälzer durch habe, ist Rainer Merkel an der Reihe. Auch wenn ich jetzt durch deine Rezension etwas verunsichert bin. Bzw. ich hatte es fast schon geahnt, dass diese irrsinnige Geschichte auf 700 Seiten nicht funktionieren kann. Ich bin gespannt…
Ja, dass uns jemand Bücher schenkt, das ist schon eine schwierige Sache, denn wir haben ja alle unseren ganz eigenen Geschmack, unsere besonderen Lieblingsautoren und Lieblingsthemen und unsere ewig lange Liste (und die wird durch das Bloglesen auch so schnell länger…). Ich bin aber schon gespannt auf Dein Leseerlebnis. Vielleicht liest Du den „Bo“ ja ganz anders, vielleicht findest Du so ein „Road-Movie“ viel spannender und kannst der Geschichte um die drei Jugendlichen viel mehr abgewinnen als ich. Und es steht ja immer noch die Frage nach dem Erzähler im Raum – aber vielleicht verrenne ich mich da auch in etwas. Ich bin also sehr, sehr neugierig auf Deine Besprechung.
Viele Grüße, Claudia
Puh, wenn ich nach Deiner Besprechung gehe, Claudia, hat Merkel wohl etliche Handlungsstränge in vielen Windungen zu einem Roman verschlungen. Ich bin sowieso immer skeptisch, was 700-Seiter und mehr angeht. Das kommt meinen Lesegewohnheiten nicht entgegen.
Aber eigentlich tauche ich hier nur auf, weil ich soeben entdeckt habe, daß Rainer Merkel der nächste Gast in Literatur im Foyer sein wird. Das interessiert Dich sicher.
http://www.swr.de/literatur-im-foyer/
Ja, das habe ich auch schon entdeckt. Vielleicht werde ich es mir am Sonntag anschauen. Ich fand ja schon das Interview mit Rainer Merkel auf 3sat sehr interessant, auch wenn ich immer noch den ein oder anderen Kritikpunkt an dem Roman habe.
Und 700-Seiten-Romane liegen zahlrreich auf meinem SUB. Das scheint in diesem Frühjahr bei den Autoren nicht kürzer zu gehen. Ich bin schon gespannt, wie sich die so lesen, denn gerade bei langen Büchern müssen sie auch richtig gut sein.
Ein schönes Wochenende wünscht Claudia