Alle unter Verrat verschlagworteten Beiträge

Ernst-Wilhelm Händler: München. Gesellschaftsroman

Als Gesellschaftsroman bezeichnet Ernst-Wilhelm Händler seinen Roman im Untertitel und erzeugt damit ganz konkrete Erwartungen bei seinen Lesern: Eine Großstadt mit ihren verschiedenen Bewohnern und ihren gesellschaftlichen Verwerfungen gerate hier unter das Brennglas des Autors, so meint der Leser, wie in Alfred Döblins „Berlin Alexanderplatz“, wie in John Lancasters „Kapital“. Nach Berlin und London nun also München, so der Romantitel. Damit hat Händler schon einmal eine falsche Spur ausgelegt, denn in seinem Roman werden weder gesellschaftliche Unterschiede ausgelotet noch komplexe Handlungsstränge verschiedener Figuren kunstvoll ineinander verwoben. In München spielt der Roman und zeigt viel Lokalkolorit, aber er spielt nur in einer Gesellschaft, der besseren nämlich. Alle Figuren sind auf sehr viel Geld recht weich gebettet, gehen in den angesagten Münchner Shops großzügig einkaufen und zeigen mit den angesagten Modemarken, wer sie sind. Sie verkehren auf Partys von RTL-Größen, an den Kulturplätzen der Stadt oder auch beim Charity-Dinner auf Schloss Herrenchiemsee, wenn dort Prinz Franz seinen achtzigsten Geburtstag in angemessener Kulisse begeht. [Zum Weiterlesen hier entlang]

Karen Köhler: Wir haben Raketen geangelt

Ihren Erzählungen stellt Karen Köhler ein Zitat von Frieda Kahlo voran, das, viel besser als es der verspielt wirkende Titel und der ebenso gestaltete Buchumschlag vermuten lassen, das Leitmotiv aller versammelten Geschichten verdeutlicht: I tried to drown my sorrows, but the bastards learned how to swim. Dabei haben Karen Köhlers Figuren, in dem Moment, in dem sie sie uns zeigt, nicht nur mit Sorgen zu kämpfen, sondern sind geradezu in existenzielle Nöte geraten, ausgelöst durch Tod oder Krankheit oder weil sie verlassen worden sind. Dieses Thema variiert die Autorin, zeigt uns verschiedene traumatisierende Situationen, die ihren Figuren, mit einer Ausnahme sind sie alle um die dreißig Jahre alt, allesamt den Boden unter den Füßen wegzieht, Situationen, die Hilflosigkeit erzeugen, Ohnmacht. In der ersten Erzählung „Il Comandante“ steckt die Protagonistin mitten in einer Krebsbehandlung, kein Haar hat sie mehr am Körper, einen künstlichen Darmausgang mitten auf dem Bauch und die Diagnose zeigt, dass der Krebs bereits gestreut hat, weitere Behandlungen stehen an, Ausgang ungewiss. Ihr Freund hat sie seit ein paar Tagen nicht mehr besucht, das …

Leonardo Padura: Ketzer

Wer einen Schmöker sucht für verregnete – oder gerade auch sonnige – Ferientage, einen üppigen Roman, der den Leser über die Kontinente und durch die Jahrhunderte entführt – in das Havanna von heute und das der 1930er bis 1950er Jahre, nach Amsterdam und bis nach Osteuropa zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in Rembrandts Atelier, die Behausungen der Einwanderer und auf die alte Prachtstraße Calle G in Havanna – dem sei Paduras „Ketzer“ empfohlen. Der kubanische Schriftsteller, der sich auch mit kritischen Reportagen über die Missstände in seinem Land einen Namen erworben hat, schickt wieder seinen Ermittler Mario Conde ins Rennen, den ehemaligen Polizisten und jetzigen Jäger bibliophiler Schätze. Doch dieses Mal geht es nicht um einen Mord, sondern um die Suche nach einem Bild Rembrandts, das seit 1939 verschollen ist, nun aber bei einer Auktion in London plötzlich wieder auftaucht. Und nebenbei – oder doch: vor allem – geht es um die Frage, wie viel Freiheit verschiedene Gesellschaften ihren Mitgliedern zugestehen, um individuelle Entfaltungsmöglichkeiten wahrnehmen zu können- und welchen hohen Preis diese Freiheit haben kann. …

Michael Köhlmeier: Die Abenteuer des Joel Spazierer

Joel Spazierer ist ein Lügner, ein Dieb und ein Mörder. Er ist ein Schutzengel, ein fürsorglicher Begleiter, ein liebevoller Vater. Er arbeitet als Automechaniker ebenso erfolgreich wie als Drogendealer und Professor für wissenschaftlichen Atheismus (!). Joel Spazierer bewegt sich problemlos in Städten des West- und des Ostblocks, wenn es sein muss, macht er sich unsichtbar und lebt wochenlang im Wald oder im Keller eines Luxushotels. Er kommt in der Unterwelt genauso klar wie in der Gesellschaft der Industriellen oder der Apparatschiks der DDR:  Joel Spazierer besitzt die Gabe der Anpassung an die unterschiedlichsten Lebensbedingungen. Natürlich ist Joel Spazierer nicht sein richtiger Name. Geboren ist er, nach eigenen Auskünften jedenfalls, im März 1949 in Budapest als András Fülöp. Sein Großvater, Ernö Fülüp, ist Leiter der internen Abteilung an der Semmelweisklinik. Er gerät in die Hände der Staatssicherheit, deren Häscher ihn einsperren und foltern, weil sie ihm vorwerfen, er habe versucht, den Parteivorsitzenden Ungarns während einer Gallenblasenoperation auf Geheiß des jugoslawischen Politikers Tito zu ermorden. Seine Großmutter, Helena Fülöp-Ortmann, eine Ägyptologin, die mit einem Buch über Echnaton …

Sascha Reh: Gibraltar

Bernhard Milbrandt hat die Bank ausgeraubt und ist nun auf dem Weg nach Gibraltar. Dort, bei einer Offshorebank, will er ein Konto eröffnen, um an das Geld zu gelangen, dass er gerade bei seinen Deals zur Seite geschafft hat. Er ist kein Bankräuber alten Stils, der mit Strumpfmaske über dem Kopf und Pistole in der Hand in der Schalterhalle einer Bank Angst und Schrecken verbreitet, sodass der Kassierer ihm das Bargeld in die mitgebrachten Taschen packt. Bernhard Milbrandt hat seine eigene Bank abgezockt, die Bank, bei der er seit Ende seines Studiums als Händler arbeitet und bei der er sich im Laufe der Jahre wegen seiner guten Erfolge und hohen Erträge eine Ver-trauensstellung erarbeitet hat – obwohl sein aggressiver und risikoreicher Spekulationsstil so gar nicht zum Firmenleitbild passt. Vor eineinhalb Jahren konnte er Johann Alberts, den Komplementär der Bank, überreden, ihn Eigenhandel betreiben zu lassen, also mit dem Eigenkapital der Bank Geschäfte zu tätigen. Diese Geschäfte sind höchst riskant, denn seit der Bankenkrise 2008 sind die Vorschriften für die Höhe des Eigenkapitals heraufgesetzt worden. Milbrandt …

Taiye Selasi: Diese Dinge geschehen nicht einfach so

Kweku Sai ist 16, als er seiner Mutter mitteilt, dass er mit den Missionaren nach Pennsylvania gehen wird. Er steht vor ihr, barfuß, in der Hütte aus Lehm, die sein Vater gebaut hat, mit dem in der Mitte fünf Meter hohen Dach aus Schilf. Sein Vater hat die Familie verlassen, aus Scham wahrscheinlich, weil er ins Gefängnis musste und dann öffentlich ausgepeitscht wurde, denn er hat einen betrunkenen englischen Soldaten geschlagen, der seine Frau belästigt hat. Nun will auch Kweku weg und natürlich will die Mutter ihn zurückhalten, sagt, dass er hier gebraucht werde, bei der Familie, doch Kweku will nicht bleiben in Ghana, in dem Dorf am Meer, in dem er Fischer werden kann, vielleicht Tischler oder Bediensteter einer reichen Familie, dann mit Uniform oder Anzug, aber immer barfuß. Er will weg, will lernen, will so leben wie die Engländer mit ihrem großen Haus am Strand. Und weil es Streit gibt, wirft Kweku der Mutter vor, sie wolle ihn nicht weglassen, weil sie eifersüchtig sei, eifersüchtig, weil sie mit sieben Jahren die Schule verlassen …

Eva Menasse: Quasikristalle

Xane verbringt die letzten Tage der Sommerferien bei ihrer Freundin Judith. Die beiden 14-jährigen liegen Musik hörend und träumend im Garten, tratschen über Lehrer und Mitschülerinnen, essen abends zusammen mit Judiths Vater, probieren ihre ersten Drogen. Xane möchte gerne die Schule wechseln, statt Altgriechisch will sie lieber Französisch lernen. Ihre Eltern haben nichts gegen einen Schulwechsel, die Freundin ist auch schnell überredet und um Judiths Eltern zu überzeugen, organisiert Xane einen Anruf ihrer Mutter. Die dritte Freundin, Claudia, werden sie in der alten Schule zurücklassen, sie ist sowieso eher das fünfte Rad am Wagen, denn Claudia ist die merkwürdige Freundin mit den Vollkornkeksen und der selbst getöpferten Teekanne, die Blumen aus Seidenpapier bastelt und den Sommer bei ihren Großeltern auf dem Land verbringt. Das alles gibt Judith und Xane viele Anlässe zum Lästern, in der Schule aber verteidigen sie Claudia gegen jede dumme Bemerkung, als wäre sie gegen sie selbst gerichtet. Claudia stirbt noch vor Beginn der Schule plötzlich und so gerät der erste Schultag nicht nur zum Beginn einer neuen Zeit für Judith und …

Connie Palmen: Logbuch eines unbarmherzigen Jahres

Sieben Wochen nach dem Tod ihres Mannes beginnt Connie Palmen mit ihrem „Logbuch“, sie will in dem Jahr nach dem Tod Hans van Mierlos „Notizen über Liebe und Tod“ machen: Ich tue es, weil ich weiß, dass man dies vergisst, diesen Horror der ersten Monate, des ersten Jahres, man vergisst es, wie man Zahnschmerzen vergisst – oder Wehenschmerzen, wie man erzählt. Man weiß noch, dass es schlimm war, schrecklich, der schlimmste Schmerz, den man je hatte, aber fühlen kann man es nicht mehr. Vergessen dient einem Zweck: Niemand würde je wieder ein Kind bekommen oder einen anderen lieben wollen, wenn er noch genau wüsste, wie weh es getan hat, das Liebste zu bekommen, und weh es getan hat, es eines Tages verlieren zu müssen. (S.14) Viele Menschen neigen dazu, den Gedanken an den Tod, unseren eigenen und den unserer Angehörigen und Freunde, zu vergessen oder zu verdrängen, weil er zu entsetzlich scheint. „Der Tod“, so der Philosoph Wilhelm Schmid (1), „ist das Ende der Zeit für den, der stirbt, und, zumindest für einen Augenblick, der …

Grégoire Delacourt: Alle meine Wünsche

Beim Stöbern im Besten Buchladen hat das Umschlagbildes mein Interesse geweckt: Faden, Nadel, Knopf und Stoff. Und als ich dann auf dem Klappentext gelesen habe, dass die Protagonistin einen Weblog über Sticken, Nähen und Stricken betreibt, bin ich neugierig geworden  – auch wenn ich beim Hinweis auf den hohen Lottogewinn erst einmal einen recht kitschigen Inhalt befürchtet habe. Jocelyne Guerbette ist die Besitzerin eines Kurzwarenladens in Arras. Sie lebt dort mit ihrem Mann, die beiden Kinder gehen schon ihre eigenen Wege. Seit ein paar Monaten betreibt sie unter dem Namen „Zehngoldfinger“ einen Blog, der so schnell so viele Leserinnen anspricht, das es schon fast unheimlich ist: Ich schreibe darin jeden Morgen über die Freuden des Strickens, des Stickens, des Nähens. Ich stelle Stoffe und Wolle vor, Bänder mit Pailletten, aus Samt, Satin und Organdy; Baumwoll- und Elstikspitze, Tattenschwanzschnur, gewachste Schnürsenkel, geflochtene Kunstseidenkordel, Anorakkordel. Und schon kommt eine Journalstin und möchte sie interviewen für einen Beitrag in der Zeitung: Sie haben schon tausendzweihundert Besucher am Tag, ruft die Journalstin, tausendzweihundert, allein hier in der Gegend. (…) …