Kweku Sai ist 16, als er seiner Mutter mitteilt, dass er mit den Missionaren nach Pennsylvania gehen wird. Er steht vor ihr, barfuß, in der Hütte aus Lehm, die sein Vater gebaut hat, mit dem in der Mitte fünf Meter hohen Dach aus Schilf. Sein Vater hat die Familie verlassen, aus Scham wahrscheinlich, weil er ins Gefängnis musste und dann öffentlich ausgepeitscht wurde, denn er hat einen betrunkenen englischen Soldaten geschlagen, der seine Frau belästigt hat. Nun will auch Kweku weg und natürlich will die Mutter ihn zurückhalten, sagt, dass er hier gebraucht werde, bei der Familie, doch Kweku will nicht bleiben in Ghana, in dem Dorf am Meer, in dem er Fischer werden kann, vielleicht Tischler oder Bediensteter einer reichen Familie, dann mit Uniform oder Anzug, aber immer barfuß. Er will weg, will lernen, will so leben wie die Engländer mit ihrem großen Haus am Strand. Und weil es Streit gibt, wirft Kweku der Mutter vor, sie wolle ihn nicht weglassen, weil sie eifersüchtig sei, eifersüchtig, weil sie mit sieben Jahren die Schule verlassen musste und nicht lernen durfte und weil sie nie aus dem Dorf am Meer herausgekommen sei. Und so geht er nach Amerika, ohne sich von ihr zu verabschieden. Zwar verspricht er sich zurückzukommen, wenn er es geschafft hat, aber als die Mutter krank wird, kommt er zu spät, das Geld für die Flugtickets geliehen – der erste Riss in seinem Herz.
In den USA lebt er von Stipendien, macht beste Abschlüsse in der Schule, im College, an der Universität. Er lernt Fola kennen, mutterlos in Nigeria aufgewachsen und geflohen, als ihr Vater, ein Anwalt, im Zuge des Biafra-Krieges ermordet wird. Sie verlieben sich, finden gar die große Liebe, die sie nicht gewagt haben zu suchen. Und sie gründen gemeinsam eine Familie nach ihren eigenen Ideen und Vorstellungen:
Er konnte nur Fola hören – eine Dreiundzwanzigjährige, die das Schreiben, dass sie zum Jurastudium zugelassen war, gerahmt an die Wand hängte und die einen Platz an der University of Georgetown bekommen hatte und Olu in utero trug – er hörte Fola sagen: „Ein Traum reicht für uns beide.“ Sie folgte ihm nach Baltimore und verschob ihr Jurastudium und brachte das gemeinsame Baby zur Welt, ohne einen Penny in der Tasche, verkaufte Blumen auf dem Gehweg und duschte ind er Küche, damit einer von ihnen seinen Traum verwirklichen konnte. (S. 95)
Fortan leben Kweku und Fola das typische Modell der Aufstiegsfamilie, vielleicht noch unterstützt von der Idee des amerikanischen Traums, dass jeder, der es nur wirklich will, den Aufstieg auch schaffen kann. Sie bekommen vier Kinder, Olu, den ersten Sohn, dann Kaiwo und Kehinde, die Zwillinge, zehn Jahre später folgt Sadie.
Auszeichnungen, Klavierstunden, riesiges Backsteinhaus, astronomische Gebühren für die Prep School, die fürs beste College vorbereitet, und jeden Morgen ruft er: „Tschüss“, um Viertel nach sieben, in seinem OP-Kittel und dem weißen Mantel. Er hatte seine Seite der Vereinbarung erfüllt. Sein Erfolg als Gegengabe für ihr Opfer. Zwei Wörter, die sie nie aussprechen. Niemals das Wort „Erfolg“, denn was war der Maßstab (US-Dollar? Gerahmte Diplome?), und wie viel war genug? Niemals das Wort „Opfer“, denn es klang immer feindselig, wenn sie es aussprach, und absurd, wenn er es versuchte, als hätte er nicht die geringste Ahnung. Alles war gebaut auf dem Sand dieser Vereinbarung, aber sie wagten nie, das Thema anzuschneiden, nachdem Fola ihren Satz gesagt hatte: „Ein Traum reicht. (S. 96)
Der Traum scheitert, weil der amerikanische Traum eben doch nicht jeden, egal, wie hart er gearbeitet, egal, wie sehr er sich angepasst hat, einschließt, auch hier spielen offensichtlich Hautfarbe und Herkunft eine Rolle. Kweku, der beste Chirurg des Krankenhauses, wird fristlos entlassen. Ein Jahr lang kämpft er juristisch gegen diese Ungerechtigkeit an, dann empfiehlt ihm sogar sein Anwalt aufzugeben, nach Kalifornien zu ziehen, dorthin, wo ihn niemand kennt, und neu zu beginnen. Kweku, der seiner Familie aus Scham ein Jahr lang nichts erzählt hat, traut sich nach diesem Ratschlag nicht mehr nach Hause, er lässt Fola und seine vier Kinder einfach sitzen. Als er sich Wochen später wieder zurücktraut, ist Fola weggezogen, hat das Haus verkauft, die Kinder von den Schulen abgemeldet; er findet sie nicht mehr wieder.
Taiye Selasi hat einen wunderbaren Familienroman geschrieben, so überzeugend komponiert und arrangiert, dass man tatsächlich kaum glauben kann, dass es ihr erster Roman ist. Sie hat sechs bemerkenswert gezeichnete Mitglieder der Familie Sai erschaffen, jedes mit ganz eigenen Charakterzügen, eigenen Stärken und Schwächen, Wünschen und Träumen, den oft sehr tief sitzenden Verletzungen, und der Suche nach dem Platz im Leben. Nicht nur Kweku und Fola tragen dabei ihre Familiengeschichten aus Afrika mit sich, auch ihre Kinder werden, bei allen Anstrengungen der Eltern, wiederum ihre Erlebnisse in der Familie mit sich tragen, die ihnen allen, trotz ihrer Intelligenz und ihrer guten Abschlüsse, den Start in das eigene Leben sehr schwer machen. Die Verletzungen der einen Generation werden weiter gegeben an die nächste, und so lässt sich erklären, warum „die Dinge (…) nicht einfach so“ geschehen.
Und Taiye Selasi findet wunderbare Motive, die sie ihren Protagonisten zuordnet, so zum Beispiel Kwekus Pantoffeln. Zeit seines Lebens wird Kweku auch im Haus nicht ohne seine Pantoffeln laufen, nie mehr will er barfuß sein, nie mehr leben wie in Ghana. Taiwo findet ihren Vater einmal nachts im Wohnzimmer schlafend, es ist die Nacht, in der er im Krankenhaus entlassen wird, und erschrocken sein über seine schrundigen und verquollenen Fußsohlen, die sie noch nie in ihrem Leben gesehen hat. Und als Taiwo von seinem Tod erfährt, ist sie erschüttert, fast weniger darüber, dass er, der kompetente Arzt, einen Herzinfarkt erlitten hat, ohne rechtzeitig Hilfe zu holen, sondern mehr noch darüber, dass er im Garten gestorben sei, barfuß auf dem Rasen liegend.
John von Düffel, der nicht nur die Buddenbrooks zu einem Theaterstück umgeschrieben, sondern mit den Romanen „Houweland“ und „Beste Jahre“ auch selbst Familienromane verfasst hat, schreibt [1], dass die Familie eben deshalb so ein außerordentlicher Rahmen für Geschichten sei, weil Konflikte hier viel unmittelbarer wirken, denn sie entstehen ja eigentlich in einem Schutzraum, der Familie immer auch ist, aber wenn es hier zu Streit und Brüchen komme, dann seien die einzelnen Familienmitglieder auf der anderen Seite eben auch viel ungeschützter und die Verletzungen gingen viel tiefer. So verstehen Olu, Taiwo, Kehinde und Olu ja auch nicht, warum ihr Schulerfolg so wichtig ist, warum sie in diesem großen Haus leben, in dem sie sich gar nicht wohlfühlen, warum ihrem Vater seine Arbeit so viel wichtiger ist, als an ihrem leben teilzunehmen. Und sie verstehen schon gar nicht, warum ihr Vater die Familie ohne ein Wort verlässt und warum ihre Mutter Taiwo und Kehinde danach wegschickt zu einem Onkel nach Nigeria, der gerade nicht für die sorgt, sondern sie auf üble Weise sexuell missbraucht. Sie fühlen sich allein gelassen, von ihren Eltern verraten, ohne ihren Schutz, ihre Liebe und ihre Anerkennung.
Der Gedanke ist da. Dass Mütter Verrat üben. Und was geschieht mit den Töchtern, die von ihren Müttern verraten werden? Sie werden nicht so knuddelig wie Sadie, denkt Taiwo. Sie werden nicht kicherig und bezaubernd wie Ling. Sie bekommen einen Panzer. Werden hart. Sie hören auf, Mädchen zu sein. Obwohl sie aussehen wie Mädchen und sich wie Mädchen benehmen und wie Mädchen flirten und wie Mädchen küssen – aber in Wirklichkeit sind die Generäle, Befehlshaber im Krieg, die beim ersten Tageslicht aufbrechen, um weiteren Angriffen zuvorzukommen. Mit einer Armee hinter sich, ihre Talente sind ihre Reiterschwadrone, alles wird in die Schlacht geschickt, ihre Intelligenz und Schönheit und was sie sonst noch zur Verfügung haben, um die Burg einzunehmen, ihre Ehre wiederherzustellen. (344/345)
So erzählt die Autorin hier nicht nur die Geschichte einer afrikanischen Familie in den USA, die mit Entwurzelung und Rassismus zu kämpfen hat, sondern auch die Geschichte vieler anderer Familien, die lernen müssen, mit ihren Spannungen, Entfremdungen und Konflikten umzugehen. Die Familie Sai scheint es zu schaffen; der Tod des Vaters und das Zusammenkommen aller bei seiner Beerdigung scheint das Fundament zu legen, die Konflikte zu überwinden, nicht zuletzt, weil die Kinder die Herkunft ihres Vaters begreifen.
Ein weitere Besprechung findet ihr hier.
[1] John von Düffel (2009): Wovon ich schreibe, Köln.
Taiye Selasi (2013): Diese Dinge geschehen nicht einfach so, Frankfurt am Main
Das Buch liegt hier auf dem Stapel, deshalb werde ich deine Besprechung erst später lesen, aber ich freue mich jetzt schon darauf. Versande gerade in Prüfungsarbeiten … Arrgh. LG Anna
Dann freue Dich auf die Lektüre! Mir hat der Roman sehr gut gefallen. Den Prüfungsarbeiten werde ich mich erst in der nächsten Woche zuwenden. Kopf hoch bei den Korrekturen!
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, ganz vielen Dank fürs Verlinken 🙂 Werde dich sofort zurückverlinken, denn deine Rezension finde ich auch sehr gelungen und aufschlussreich. Nur ein kleiner Flüchtigkeitsfehler: der Romantitel lautet „DieSE Dinge geschehen nicht einfach so“ *hihi*
Werde ich sofort verbessern! Danke für den Hinweis.
Viele Grüße, Claudia