Bernhard Milbrandt hat die Bank ausgeraubt und ist nun auf dem Weg nach Gibraltar. Dort, bei einer Offshorebank, will er ein Konto eröffnen, um an das Geld zu gelangen, dass er gerade bei seinen Deals zur Seite geschafft hat. Er ist kein Bankräuber alten Stils, der mit Strumpfmaske über dem Kopf und Pistole in der Hand in der Schalterhalle einer Bank Angst und Schrecken verbreitet, sodass der Kassierer ihm das Bargeld in die mitgebrachten Taschen packt. Bernhard Milbrandt hat seine eigene Bank abgezockt, die Bank, bei der er seit Ende seines Studiums als Händler arbeitet und bei der er sich im Laufe der Jahre wegen seiner guten Erfolge und hohen Erträge eine Ver-trauensstellung erarbeitet hat – obwohl sein aggressiver und risikoreicher Spekulationsstil so gar nicht zum Firmenleitbild passt.
Vor eineinhalb Jahren konnte er Johann Alberts, den Komplementär der Bank, überreden, ihn Eigenhandel betreiben zu lassen, also mit dem Eigenkapital der Bank Geschäfte zu tätigen. Diese Geschäfte sind höchst riskant, denn seit der Bankenkrise 2008 sind die Vorschriften für die Höhe des Eigenkapitals heraufgesetzt worden. Milbrandt kann Johann Alberts zu diesem Handel auch nur überreden, weil die Bank jetzt schon sehr misslich dasteht, ein Verkauf von Unternehmenssparten steht kurz bevor. Milbrandt verspricht Alberts, durch seine Geschäfte den Eigenkapitalanteil inner-halb eines Jahres zu erhöhen. Alberts sagt zu, denn er will mit allen Mitteln die Bank, seine Kunstsammlung, die Stiftungen, nichts weniger also als sein Lebenswerk, retten. „Bernhard war es“ – so sagt Johann Alberts später – „der uns vor der Übernahme durch die Österreicher gerettet hat“, auch wenn Alberts selber den Eigenhandel als „Irrsinn“ bezeichnet. Trotzdem gesteht Alberts Milbrandt zu, Eigenkapital für die Bank im Kasino zu erspielen.
Nun hat Milbrandt Leerverkäufe griechischer Staatsanleihen in großem Stil betrieben, in dem festen „Wissen“, dass die europäischen Staaten Griechenland bei seinen Zahlungsschwierigkeiten nicht helfen werden, so wie es auch im Maastrichtvertrag vereinbart ist. Sein Plan ist es, die griechischen Staatsanleihen in der kommenden Woche, wenn klar ist, dass es keine EU-Hilfe geben wird, zu einem Schrottpreis zurückzukaufen, mit einem riesigen Gewinn für die Bank. Gegen Bernhards Wissen aber beschließen die europäischen Staaten, Griechenland doch mit Krediten zu helfen, griechische Staatsanleihen steigen im Wert und zu diesem hohen Preis müssen nun die Konten glattgestellt werden – das bedeutet den Ruin für die Bank. In diesem Chaos sieht Milbrandt für sich nur die Chance, die Flucht nach vorne anzutreten: An allen Sicherungen der Banken vorbei über-weist er in dem entstehenden Chaos um die Rückkäufe 40 Millionen Euro auf verschiedene Konten. Er verlässt seinen Arbeitsplatz, steigt in seinen PKW und fährt nach Gibraltar. Bei der Kontoeröffnung dort versichert ihm der Bankmitarbeiter, dass das Geschäft nach Milbrandts Zufriedenheit ablaufen werde:
Er fragte überhaupt wenig. Dafür erklärte er ihm, dass die Bank nach Begründung einer Ge-schäftsbeziehung als Gesellschafter einer Firma auftreten werde, die formell sein Konto führe. Somit sei Bernhard weder als Besitzer zu identifizieren, noch unterliege die Kontoführung deutschen Steuerbestimmungen. (S. 190)
Sascha Reh gewährt in seinem Roman Einblicke in die Arbeitswelt und Lebenswelt der Banker. Vor allen Dingen zeigt er aber auch, wie diese Menschen ticken, welcher Persönlichkeit, welcher Werte und Normen es bedarf, um so zu arbeiten. Milbrandt ist Spieler, er ist äußerst risikofreudig, egoistisch auf seine Siegprämie bedacht, von seinem Tun absolut überzeugt; er wägt keine Ent-scheidung ab, sieht nie die Grenzen seines Handelns, blendet völlig aus, dass sein Gewinn der Verlust eines anderes ist. Auch in seinem Privatleben bleibt kein Raum für Empathie oder soziales Handeln; die Ehe ist ein weiterer Kriegsschauplatz.
Aber Sascha Reh kommt nicht nur das Verdienst zu, einen Roman zur Finanzkrise geschrieben zu haben, in dem die Hintergründe und Folgen der unglaublichen Fehlspekulationen gut und nachvollziehbar beleuchtet werden, sondern er zeigt auch, ausgehend von dem Kulminationspunkt des Bankraubes, die Geschichten von sechs mehr oder weniger beteiligten Personen auf, indem er die Ereignisse um Bernhard Milbrandts Flucht aus verschiedenen Perspektiven, erzählt. Jede dieser Personen hat eine eigene Stimme, eine ganz eigene Art zu erzählen, zu reflektieren und zu beurteilen. Und so kann der Leser, indem er die verschiedenen subjektiv gefärbten Teile neu zu-sammensetzt, seine – objektive? – Sicht auf die Dinge gewinnen.
So lernt der Leser Thomas kennen, den Sohn Johann Alberts, der seine Facharztausbildung zum Psychiater kurz vor Ende abgebrochen hat und seitdem seine Dienste nicht als Psychotherapeut, sondern explizit als Berater anbietet. Weil er seinen Rat nur telefonisch leistet, kann er dabei durch die Städte Europas spazieren. Und er lernt Helene kennen, die Frau Johanns und Mutter Thomas´, die schon lange hinter dem Rücken ihres Mannes die Fäden in der Bank zieht. Und neben Bernhard erzählt auch dessen Frau Carmen ein Stück der Geschichte sowie Valerie, ihre Tochter und Bernhards Stieftochter.
Besonders gelungen in diesem Roman ist Johanns Alberts Erzählung der Geschichte, seine Abrechnung auf dem Totenbett, die leider keiner mehr hört. Johann macht sich klar, dass er schon einige Zeit von seinen Mitarbeitern hintergangen worden ist, er erklärt Thomas noch einmal ausführlich, wie er sich für seinen beruflichen Weg interessiert und dafür gesorgt habe, dass Thomas immer wieder Klienten bekommen habe; er macht sich aber immer noch nicht klar, dass auch ihn ein Teil der Schuld trifft, dass er sich immer noch selbst belügt, unter anderem auch wenn er zurückdenkt an die Art und Weise der Enteignung der jüdischen Mitgesellschafter der Bank.
Die Wäscherei ist Kreditnehmer bei Alberts. Sie sitzt in der Kantstraße, nicht weit von unserem Kontorhaus. Der Besitzer der Wäscherei heißt Pocholsky und hat einen Exklusivvertrag mit der Klinik, Restlaufzeit 2 Jahre und 4 Monate, seine Zinsen liegen bei 5,7 Prozent. (S. 245) (…) Ich habe immer in Unternehmen investiert, die sinnvolle und nützliche Produkte herstellen, in Ver-sicherungen, in Haugesellschaften. Das ist doch der Sinn des Kreditwesens: die Güterproduktion anzukurbeln, den Fortschritt zu finanzieren, den Lebensstandard der Menschen zu verbessern. Ich weiß, dass ich altmodisch bin, aber ich bin nicht schlecht damit gefahren. (S. 257) (…) Das ist mein eigentliches Talent: Menschen nach ihren Fähigkeiten zu beurteilen und für mich zu gewinnen. Sie woanders abzuwerben, wenn es sein musste. Und ich habe immer darauf vertraut, dass es Leute waren, denen ich vertrauen konnte. Du weißt das, Thomas. Es ist wichtig, dass du das weißt. (252) (…) Ich weiß jetzt, wie es sich anfühlt, wenn man seine Schuld nicht begleichen darf. Immer habe ich nach dem Grundsatz gelebt: Ein Mann muss seine Schulden bezahlen, was auch geschieht. Jetzt weiß ich, dass ich wohl kein Mann von Ehre bin. Die Schuld Helene, ist viel hartnäckiger als die Schulden es sind. Sie bleibt in der Welt, sosehr man auch versucht, sie zu begleichen. (302)
So hat Sascha Reh auch einen Familienroman geschrieben, der den Vater-Sohn-Konflikt auf verschiedene Weisen auslotet, nicht nur im Verhältnis Johanns zu Thomas, sondern auch zwischen Johann und Bernhard, den Johann wie einen Ziehsohn gefördert hat. Reh hat aber auch einen Familienroman geschrieben, in dem sehr komplex, anschaulich und nachvollziehbar die Lebenswege, Motivationen, Verstrickungen und Charaktere der Familienmitglieder gezeigt werden.
Bei den Namen Johann und Thomas stellen sich dann schnell Assoziationen zu den „Buddenbrooks“ ein. Und wie bei den Buddenbrooks geht auch hier eine Familie und ein Unternehmen unter, weil das „alte Denken“, das zwar auf Solidität setzt, aber auch von Selbstüberschätzung und Realitätsverlust geprägt ist, einem „neuen Denken“ nichts mehr entgegenzusetzen hat. Und das neue Denken ist hier gekennzeichnet vom Spielen, nicht nur bei Spekulationen in der Bank, sondern auch beim Umgang miteinander, bei dem, wie im Pokerspiel, getäuscht wird, gedroht und intrigiert. Und dieses Verhalten ist nicht nur bei Bernhard zu erkennen, sondern vor allem auch bei Helene und Carmen, den Ehefrauen und Müttern, die, völlig monströs gezeichnet, nur das eigene finanzielle Interesse im Blick haben und dabei alle menschlichen und sozialen Empfindungen ausblenden. Opfer sind – natürlich – die Kinder, aber Thomas und Valerie sind es auch, die mit ihren Aktionen für Gerechtigkeit Hoffnung geben, dass nicht schon die ganze Gesellschaft infiziert ist von Egoismus und Gier.
Milbrandts Plan wird übrigens nicht funktionieren, denn Gibraltar ist nicht nur für ihn der Hoffnungsort, der ihm ein neues, sorgenfreies Leben verspricht, sondern ist dies auch für zahlreiche afrikanische Flüchtlinge, die auf ihrem Weg nach Europa dort an Land gegangen sind und – wie Bernhard – in den Bauruinen der einst geplanten pompösen Ferienanlagen einen sicheren Unter-schlupf gefunden haben.
Eine andere Rezension findet ihr hier
Sascha Reh (2013): Gibraltar, Frankfurt am Main, Schöffling & Co Verlagsbuchhandlung
Liebe Claudia,
danke für diese tolle Besprechung. Die Rezension bei Caterina hatte ich bereits mit großem Interesse gelesen und mir dann auch gleich das Buch gekauft. Doch dann ist es, wie dies bei mir immer mal wieder passiert, in Vergessenheit geraten und im Bücherregal nach hinten gerutscht. Nach deinen Eindrücken (auch wenn ich den Eindruck habe, dass du dich dem einem klaren Urteil enthältst, oder täuscht das?) – wird das Buch aber wieder hervorgeholt. Ich finde es spannend, dass Sascha Reh sich mit der Finanzkrise ein sehr aktuelles Thema gesucht hat. Erst gestern habe ich in der ZEIT einen spannenden Artikel von Mangold darüber gelesen, dass viele Gegenwartsautoren mehr um sich selbst kreisen, als sich gegenwärtigen Themen zuzuwenden. Da scheint dieses Buch eine erfrischende Abwechslung darzustellen.
Liebe Grüße
Mara
Liebe Mara,
ich kann den Roman nur empfehlen, er hat nicht nur eine spannende Handlung, ist nicht nur gut recherchiert was die Transaktionen in der Bank betrifft, sondern transportiert das alles auch in einer jeweils besonderern Sprache, immer in Abhängigkeit von der Figur, aus deren Perspektive gerade erzählt wird. Und dabei sind die beiden Ehefrauen – Helena und Carmen – überhaupt keine Sympathieträger. Die sind mir beim Lesen, ganz ehrlich, ziemlich auf die Nerven gegangen. Aber genau so muss es ja sein, damit ihr Charakter richtig schön zum Leuchten gebracht wird. Vielleicht findet sichj ja demnächst auch auf Deinem Blog eine Besprechung. Und vielleicht können wir alle zusammen dafür sorgen, dass Reh noch den ein oder anderen zusätzlichen Leser findet. – Und ich muss offensichtlich dringend in die ZEIT schauen, denn der These Mangolds, die Du hier notiert hast, kann ich mich nur anschließen.
Viele Grüße, Claudia
Hallo Claudia,
danke für die schöne und ausführliche Rezension. Ich glaube, das ist ein Buch, was ich mir merken muss. Das Thema finde ich interessant und ausgesprochen aktuell und gut geschrieben scheint es auch zu sein.
Liebe Grüsse, Kai
Lieber Kai,
ich sorge bei Euch gerne für eine noch vollere Leseliste :-)! Reh schreibt hier wirklich über eine ganz aktuelle Geschichte und da es wenige Romane zum Thema der Finanzkrise gibt, ist sein Roman wirklich eine Empfehlung. Kristof Magnusson hat sich vor einiger Zeit schon mal mit der Thematik beschäftigt, aber nicht so ernsthaft, so komplex und so gut wie Reh das in „Gibraltar“ gemacht hat. Vielleicht findet der Roman ja seinen Weg zu Dir.
Viele Grüße, Claudia
Freut mich, dass dir das Buch so gut gefallen hat wie mir. Interessant finde ich deinen Verweis auf die Buddenbrooks, die ich – Schande über mein Haupt! – nicht gelesen habe, sodass mir diese Parallele gar nicht aufgefallen ist. Aber ich stimme dir zu: Gibraltar ist nicht einfach nur eine Geschichte über die Finanzkrise, sondern auch und vor allem ein Familiengeschichte, und das macht den Roman so stark. Hier wird nicht nur das große Ganze beleuchtet, sondern auf den Einzelnen: Anhand des Individuums wird die Krise einer ganzen Gesellschaft veranschaulicht. Diesen Bogen hat Reh meines Erachtens sehr überzeugend geschlagen.
PS: Merci für die Verlinkung!
Liebe Caterina,
ich habe mich ja im Frühjahr von Dir zu dem Roman verführen lassen, denn Du hattest ihn schon vor Deiner Besprechung als aktuelles oder zukünftiges leseprojekt auf Deiner Seite. Und dann stand „Gibraltar“ im Regal meines Lieblingsbuchladens. So ist er zu mir gekommen und nun habe ich ihn endlich gelesen. Und ja, ich fand ihn sehr gelungen. Und bestimmt gibt es beim zweiten und gar dritten Lesen noch viel mehr Bezüge zu anderen Personen, Themen usw. zu entdecken als nur die Namensähnlichkeiten mit den Buddenbrooks. Mir hat ja auch der alte Mercedes von Johann Alberts so gut gefallen, der dann irgendwann im letzten Winkel Spaniens, zeitgleich mit seinem Besitzer, „seinen Geist aufgibt“ und den Missetäter in der sengenden Hitze sich selbst überlässt – was für ein Motiv! Davon gibt es bestimmt noch viel mehr zu identifizieren. Und wenn man, wie Du schreibst, die Krise der Einzelnen als Krise der Gesellschaft sieht, dann wird einem doch ein bisschen anders…
Viele Grüße, Claudia
Das liest sich außerordentlich interessant. Danke für die Empfehlung.
Gerne geschehen! Ich freue mich, wenn Rehs Roman noch ganz viele Leser findet!
Viele Grüße, Claudia