Berit Glanz´ Debütroman reiht sich schon vom Titel her nahtlos ein in die Reihe aktueller Romane, die davon erzählen, was Digitalisierung alles bedeuten kann. Und ist – zum Glück – ganz anders. Denn Glanz entwirft keine dystopische Zukunftsgesellschaft, in der KI und Algorithmen längst das Kommando übernommen haben, so, wie wir es in den jüngsten Romanen von Schönthaler und Braslavsky lesen können. Glanz siedelt ihren Roman im Hier und Jetzt an und lässt ihre angepasst-unangepasste Protagonistin Beta von ihrem Leben erzählen. Davon, dass sie sich als Junior-Quality-Assurance-Testerin bei der Fehleranalyse mit Gorilla- und Monkey-Tests ein wenig langweilt. Und sich deshalb gerne auf ein Detektivspiel einlässt, das sie in die Theaterszene der 1920er Jahre führt. Dort experimentiert das Künstlerpaar Lavinia und Walter mit freiem Tanz und fantasievollen Masken und Kostümen, angetrieben von einer großen Lust auf Veränderung, ja, auf Revolution. Gegensätzlicher könnten die heutige IT- und die Theaterwelt vor hundert Jahren gar nicht sein. Aber genau aus diesem Spannungsverhältnis bezieht der Roman seinen ganz besonderen Reiz.
Beta hat alles, was zu einer Erfolgsbiografie der heute 30-Jährigen gehört: Sie lebt in Berlin und verdient so gut, dass sie sich allen aktuell modischen Schnick-Schnack kaufen könnte. Natürlich arbeitet sie in einem Start-up, das sich mit der Programmierung von Apps beschäftigt. Die Mitarbeiter sind top-motiviert, sie arbeiten auch samstags, wenn es nötig ist. Und wenn die App so gut wird, dass ein finanzstarker Investor sie aufkauft, dann können sie alle über ihre Beteiligung am Unternehmen Kasse machen.
Die Büros sind in moderner Betonoptik gehalten, es gibt Getränketresen, den unvermeidlichen Kicker und natürlich Superfood. An Wochenenden winken Gruppenaktivitäten, im Hochseilgarten, beim Gokart-Fahren, bei einer Schokoladenverkostung oder einer Weihnachtsparty schon im November. Und wenn den Chefs die aberwitzige Idee kommt, dass es toll für die Teams wäre, in einem Co-Workingspace in Barcelona zu arbeiten, dann setzt sich der ganze Tross eben nach Barcelona in Bewegung. Und macht dort, was sonst in Berlin gemacht worden wäre, nur mit besserem Ausblick von der Dachterrasse. Was die Teams hier gerade programmieren, an welcher App sie arbeiten, das wird nie genannt.
Beta geht mit den Umständen dieses besonderen Biotops recht gelassen und reflektiert um. Auch sie hat Rubiks Zauberwürfel auf dem Schreibtisch, aber er zeigt ihr an der Farbe einer Seite den Tag an. Die Kollegen und Kolleginnen vom Development kommen dann vorbei und erklären ihr, dass es nicht funktioniere, sie könne nicht sofort mit einer Seite in einer Farbe beginnen. Beta aber dreht ungerührt weiter, denn sie will eine perfekte Seite, die ihr den neuen Wochentag anzeigt. Es ist ja nur ein kleines bisschen Widerstand, das sie sich hier erlaubt. Aber die Inszenierungen der Digitalarbeit durchschaut sie sofort:
„Es ist Montag, und die weiße Seite des Rubik-Würfels liegt vor mir, als Martin das Team zusammenruft. Er habe ein Memo, sagt Martin und macht ein aufgeregtes Gesicht, von Alex, unserem CEO. Der trägt immer einen silbergrauen Cashmerepullover zu seinem schwarzen Vollbart. Martin liest uns das Memo vor. Alex hat beschlossen, dass nun alle Angestellten zwei Teams bilden: gelb und rot. Wir sind jetzt Teil des roten Teams. Martin ist ganz fiebrig und benutzt ab jetzt nur noch die roten Posts-its, um uns zu motivieren.“
Klar, dass es bei der Einteilung in zwei Teams nicht bleiben wird. Schon am nächsten Tag erscheint Alex höchstpersönlich im betongrauen Büro und ruft einen Wettbewerb zwischen den beiden Teams aus: Wer gewinnt, der wird mit Anteilen belohnt. Bei solchen hinter Gamification versteckten Formen der Konkurrenz und des Wettbewerbs sind doch alle noch motivierter.
Immerhin: Es gibt einen Entspannungsraum. Dort steht ein großes Aquarium, in dem rote und gelbe Schleierschwänze in den Farben des Firmenlogos ihre Kreise ziehen. Wer Ruhe sucht, der kann hier sitzen, mit schallreduzierenden Kopfhörern die Geräusche des Büros ausblenden und „zum Runterkommen“ den Fischen zuschauen. Nun lässt Alex einen Roboterfisch ins Wasser, so gut gemacht, dass er von den echten kaum zu unterscheiden ist. Der aber eine winzige Kamera zwischen den Augen trägt und damit Bilder aus dem Wasser auf den Bildschirm an der Wand projiziert. Wer nun vor dem Aquarium sitzt, um zur Ruhe zu kommen, kann das eigene, verschwommene Bild auf dem Bildschirm sehen, wenn er sich umwendet. Beta, die diesen Spionfisch an einem Nachmittag alleine im Ruheraum beobachtet, entscheidet sich, ihn auszuwildern, entnimmt ihm dem Aquarium und setzt ihn in das Wasser der Spree. Noch Tage wird er seine Bilder in dunkelgrün-blau an den Bildschirm senden und niemandem fällt auf, dass sie nicht aus dem Aquarium, sondern aus der Spree gesendet werden.
In ihrer Freizeit fotografiert Beta gerne Tiere und druckt sie dann mit ihrem 3-D-Drucker aus. Für diesen Sommer hat sie sich eine eigene Challenge auf ihre ganz persönliche To-do-Liste geschrieben, nämlich in jeder Eisdiele im Viertel das Erdbeereis zu probieren. Manchmal verabredet sie sich über Tinder und geht dann mit dem Date nach Hause, auch wenn sie den Mann merkwürdig findet, mit seinem Kosten-Nutzen-Denken und der Kleidung, die farblich genau auf die Dekoration der Bar abgestimmt zu sein scheint.
Und sie probiert gerne etwas Neues aus. Eine App namens Dawntastic zum Beispiel, die den Nutzern das Aufwachen erleichtern möchte, indem sie nämlich zum gewünschten Zeitpunkt einen Anruf vermittelt, der von irgendeinem anderen Nutzer auf der Welt kommt. Im schönsten App-Sprech kommt das Story-Telling von Dawntastic daher:
„Morgens mit geschwollenen Augen auf den Wecker einschlagen? Immer wieder die Snooze-Funktion drücken? You snooze, you loose! So sieht so auch dein Morgen aus? Hast du schon wichtige Meetings und einzigartige Gelegenheiten verpasst, weil dich dein Kopfkissen nicht losgelassen hat?
Dann haben wir die Lösung für dich: Zahlreiche Untersuchungen renommierter Schlafforscher haben uns gezeigt, dass es am besten ist, mit einem spannenden Gespräch aufzuwachen. Unsere App Dawntastic verbindet dich mit gleichgesinnten Langschläfern auf der ganzen Welt. Du kannst einen verschlafenen Schüler aus Schanghai mit deinem Lieblingswitz wecken oder dich morgens von einem unserer unzähligen freundlichen User sanft aus dem Schlaf holen lassen. Es gibt nur zwei Regeln: Das Aufweckgespräch darf maximal drei Minuten dauern und ein Gesprächspartner bleibt anonym.
Guten Morgen!“
Beta probiert die App sofort. Und stößt bald auf einen interessanten Anrufer, der sie morgens aus den USA anruft und ein ungewöhnliches Profilbild hat: „Ein anthropomorphes Wesen in einem körperbetonten Anzug, der mit rostroter und blasslila Farbe bemalt ist, dazu eine Maske mit übergroßen Augen und lange Drähte, die aus der Taille und dem Kopf des Wesens ragen.“
Es ist das angenehme Gespräch mit dem Anrufer aus Palo Alto, es ist sein ungewöhnliches Profilbild und sein ebenso ungewöhnlicher Namen – „Toboggan“ – die Beta nicht mehr loslassen. Und so fängt sie an, Informationen über den anonymen Anrufer zu sammeln. Beta stellt die Seite „Toboggan.eu“ ins Netz, auf die der Anrufer, wenn er nur seinen Profilnamen googelt, stoßen muss. Und tatsächlich: „Toboggan“ findet Betas Seite und hinterlässt Nachrichten in ihrem Quellcode. So beginnt eine mitreißende digitale Schnitzeljagd, bei der der Leser es irgendwann nicht lassen kann, selbst im Netz zu recherchieren. Um nachzuprüfen, ob es dieses Künstlerpaar, Lavinia Schulz und Walter Holdt, tatsächlich gegeben hat und ob es im Berlin der 1920er Jahre ihr Ansinnen war, mit ihren freien Tanz in fantastischen Kostümen und ganz besonders gestalteten Masken nichts weniger als das Theater zu revolutionieren.
Berit Glanz´ auf den ersten Blick spielerisch-leichtfüßiger Roman, der nicht nur mitten in der Start-up-Szene angesiedelt ist und den Leser mit Informationen über die Arbeitsmöglichkeiten bei coolen App-Programmierern versorgt, spielt auf gleich mehreren Ebenen mit den Eigenarten des Internets. In einer Weise, die ich bisher so noch nicht gelesen habe. Dabei ist sie sprachlich mittendrin im modernen Wortgeklimper der neusten Methoden des Projektmanagements und der Start-ups. Und führt doch tief in die alte Welt vor hundert Jahren, in eine durch und durch analoge Welt. Aber zu Schauspielern, und hier steht Lavinia im besonderen Fokus, die ihre Welt verändern wollen. Die Masken, die Lavinia für ihr revolutionierendes Tanztheater kreiert, sind dann auch ein ganz wesentliches Motiv des Romans, ein Motiv, das wieder in unsere heutige Zeit weist. Und bei Beta und ihren Freunden zu einem Akt des geschickten Widerstands führt.
Das ist er also möglicherweise, der Roman zur Zeit, der die Digitalisierung nicht per se in ihren dystopischen Aspekten ausleuchtet. Der statt dessen ihre Begleiterscheinungen in den Personen, in den bis in den letzten Winkel durchdachten wettbewerbsorientierten Arbeitsbedingungen und in der Sprache eher entlarvt. Und dabei auf vergnügliche Weise – nämlich während der völlig absurden Arbeitsreise in einem Bus – die Möglichkeiten des Widersetzens auslotet, durchaus angeregt durch die ausdrucksstarken Maskierungen von Schulz und Holdt. Es ist ein starker und ein vielschichtiger (Debüt-)Roman, den Berit Glanz uns hier vorlegt.
Berit Glanz (2019): Pixeltänzer, Frankfurt am Main, Schöffling & Co
Der Lifestyle der Start-Ups wurde in diversen Feuilletons schon satirisch aufgegriffen, beackert, thematisiert, aber das hier klingt anders. Mir gefallen die Motive und die Idee, die 1920er-Avantgarde mit der Pseudo-Avantgarde unserer heutigen Wirtschaft zu kontrastieren. Kann natürlich auch ein diffuses Gesamtbild ergeben, macht in jedem Fall aber neugierig.
Danke für den Tipp!
Gern geschehen!
Und dabei wollte ich den Roman eigentlich gar nicht lesen. Gerade wegen der Verweise auf die 1920er Jahre. Aber dann erwies sich doch gerade dieser Kunstgriff als besonders gelungen. Zwar geht Beta in ihrem Widerstand nicht so an und über die Grenzen wie es Lavinia getan hat, dafür ist die Zeit aber auch eine andere.
Jedenfalls wünsche ich viel Vergnügen bei der Lektüre!
Viele Grüße, Claudia
Kann deine Unlust zunächst insofern gut verstehen, weil solche Kunstgriffe auch gerne forciert kommen und Romane sperriger machen als nötig, im schlimmsten Falle verwässern sie das Gesamtergebnis. Ich interessiere mich aber sehr für solche Avantgardeprojekte und freue mich, wenn die nicht vergessen, sondern in Berührung mit der Gegenwart gehalten werden.
Liebe Grüße zurück und danke!
Reizende Idee: Digitalisierung als Tanztheater.
Schöne Tage und Grüße,
Bernd
Und mit Masken! Damals wie heute. Wenn du magst, kannst du zumindest die 100-Jahre-alten Masken bestaunen auf der Seite http://www.toboggan.eu.
Viele Grüße, Claudia