Lesen, Romane

A.L. Kennedy: Süßer Ernst

Über Meg und Jon sind schon einige Lebensstürme hinweggefegt. Und haben mit Kratzern, Verletzungen und tiefen Wunden ihre Spuren hinterlassen. Meg Williams, Mitte Vierzig, ist als Wirtschaftsprüferin in eine Insolvenz geraten. Nun lebt sie, seit ziemlich genau einem Jahr trockene Alkoholikerin, im ererbten Haus ihrer Eltern, das die besten Tage schon lange hinter sich hat, und kümmert sich im Tierheim halbtags um die Rechnungen. Sie ist traurig, hält sich die Menschen in ihrer Umgebung auf Abstand und beurteilt alles mit spitzer Zunge. Jon, Ende Fünfzig, ist geschieden und in ein Einzimmerapartment in einem heruntergekommenen Stadtteil gezogen, auch wenn er sich eine andere Umgebung durchaus leisten könnte. Er arbeitet als Vize-Direktor in der PR-Abteilung eines Ministeriums und lässt die Skandale der Politiker sowie die nicht weniger skandalträchtigen politischen Entwicklungen durch eine elegante Wortwahl immer wieder in einen positiveren Rahmen stellen. Die Erfahrungen seines Lebens haben ihn wütend gemacht – und zynisch. Die Nähe zu anderen Menschen meidet er.


A.L. Kennedy hat für die Rollen der Protagonisten ihres Romans zwei Figuren ausgewählt, die nicht gerade als strahlende Helden erscheinen. Damit sind sie uns Lesern ja nicht unähnlich: mehr oder weniger gezeichnet vom Leben, aber mit dem Willen, es doch noch besser hinzukriegen. Und so begleiten wir Meg und Jon an diesem Tag, es ist Freitag, der 14.4.2015, der ein besonderer Tag für sie werden soll. Denn sie haben sich für den Nachmittag zum Essen verabredet. Und beide sind sie ungeheuer aufgeregt wegen dieser Verabredung, sind gleichermaßen nervös wie voller Freude, so wie es eben ist, wenn man sich verliebt hat – den Erfahrungen des Lebens zum Trotz.

Dass das überhaupt passiert ist, ist schon eine großartige Geschichte. Jon nämlich bietet über Zeitungsannoncen Frauen an, ihnen Liebesbriefe zu schreiben. Zehn Briefe werden es sein. Und wenn sie mögen, können sie zurückschreiben. Meg ist eine von Jons „Kundinnen“, die auf ihre Briefe Antworten verfasst. Und über diese Korrespondenz, allein über den völlig altmodischen Austausch von handgeschriebenen Worten, ist das Verlieben passiert. Das würde nicht weiter führen, denn Jon hat sich für diese ausgefallene Autorenschaft nicht nur ein Pseudonym zugelegt, sondern auch ein Postfach aus dem er wöchentlich die lagernden Liebesbriefe abholt. Im Café gegenüber beobachtet Meg den Eingang zur Postfiliale, wägt ab, welcher der Männer „ihr“ Mr August sein könnte – erkennt ihn und spricht ihn an. Sie trinken einen Kaffee zusammen, reden erste Sätze, aber Jon, völlig überrumpelt, hält das Treffen kaum aus, flieht fast. Aber sie halten Kontakt, schreiben Handynachrichten, telefonieren – und verabreden sich wieder: am Bahnhof London Bridge, am Freitagnachmittag.

An diesem Morgen wandert Meg um 6:42 Uhr, weil sie nicht mehr schlafen kann, in Gummistiefeln und einem Mantel über dem Pyjama durch den Park oben auf dem Telegraph Hill in der Nähe ihres Hauses. Mit dem zunehmenden Licht der aufgehenden Sonne hat sie die Gebäude in der Umgebung angeschaut, viktorianische Gebäude, nebeneinander aufgereiht, mit Lücken, die durch die V-1- und V-2-Raketen entstanden sind und in denen neue, geschmacklose, wie sie findet, Gebäude gebaut wurden. Meg vermutet, dass sich heute niemand mehr für die Schäden interessiert, auch wenn irgendwo eine Gedenktafel daran erinnern soll. Sie allerdings, so denkt sie, interessiert sich genau auf diese Schäden, „für Schäden und Lücken. Konnte beides lehrreich sein.“ Als die Sonne höher steigt, kann sie auch die Londoner Skyline an der Themse betrachten mit ihren auffälligen architektonischen Orientierungspunkten: der „komplizierte Metallzylinder“ in der Nähe von Vauxhall, die Turbinen, die „unsicher über Elephant & Castle aufragen“, der „riesige Glaszapfen bei der London Bridge“. Dort wird sie heute Nachmittag sein, dort wird sie Jon wieder treffen, „am Bahnhof London Bridge“, hat er gesagt.

Während Meg durch den Park wandert, gießt Jon die Blumen seiner Ex-Frau in seinem Ex-Haus. Und entdeckt dabei einen kleinen Vogel, der sich in den Maschen eines Netzes verfangen hat. Er befreit ihn, unter den wachsamen Augen der Vogelmutter. Doch dann passiert das Missgeschick: Vogelkot landet auf seiner Anzughose. So kann er auf keinen Fall ins Ministerium. So kann er nicht zur Arbeit gehen, nach Hause fahren scheidet ebenfalls aus, er ist jetzt schon spät dran. Vom Berufsverkehr ganz zu schweigen.

Und dann kommt zu allem Unglück der Anruf von Samson, dem Sonderberater aus einem anderen Ministerium, der Jons Hilfe einfordert. Einer der Abgeordneten hat mal wieder über die Stränge geschlagen und einer farbigen Aktivistin aus der eigenen Partei „I like Big Butts“ zugerufen. Das ist der Abgeordnete, der letztens auf einer Reise nach Leipzig schon einen markigen Spruch über die Deutschen auf Lager hatte. Dieses Mal ist er gefilmt worden. Und das im Wahlkampf. Jon denkt aber im Traum nicht daran, Samson zu helfen und freut sich diebisch, als der fluchend auflegt. Das Hosenproblem wird er lösen, wenn er sich mit dem Taxi erst zu einem Laden und dann zum Ministerium bringen lässt.

Kennedy versteht es auf exzellente Weise, uns Leser am Leben ihrer Protagonisten teilhaben zu lassen. Parallel erleben wir die Geschichten von Jon und Meg im Verlauf des Tages. Die distanzierte Sie- bzw. Er-Perspektive wechselt dabei ständig mit dem nicht aufhörenden Gedankenfluss Jons und Megs. Die Erzählperspektiven verzahnen sich so miteinander, dass auch für den Leser eine Atemlosigkeit entsteht, die sehr genau das gehetzte Leben dieser beiden Protagonisten bei ihren Wegen von Termin zu Termin, von Ort zu Ort mitempfinden lässt.

Es sind jeweils Alltagsszenen, von denen Kennedy erzählt: Megs Untersuchung beim Arzt, Jons kurzfristig einberaumter Termin bei Samsons Minister, Megs Arbeit im Tierheim, Jons Treffen mit einem Journalisten, Megs Besuch bei den anonymen Alkoholikern und so weiter, bis sie sich schließlich mitten in der Nacht doch endlich treffen. Und alle diese alltäglichen Szenen, alle normalen Tagesroutinen sind dann doch wieder Anlässe für Erinnerungen an die eigenen Lebensgeschichten, Anlässe für genaue gesellschaftliche Analysen, bieten vor allem ein ums andere Mal den Anlass, im privaten Erleben das Politische zu entdecken. Dabei durchleben wir, wie auf einer Achterbahnfahrt, alle Gefühlslagen der Protagonisten mit: Das euphorische Verliebtsein, die kritisch kreisenden Gedanken, ob das Treffen zustande kommt, manchmal die abgrundtiefe Traurigkeit, die zehrende Einsamkeit. Und immer wieder Gegenwartswertungen, bei denen beide sich ebenso scharfsichtig wie spitzzüngig erweisen, sodass der Leser wieder und wieder in lautes Lachen ausbricht, das ihm aber oft schnell im Hals stecken bleibt.

„Mir wird schlecht, wenn ich den Eaton Square überquere – tu ich seit Jahren – und das neue Bürgersteigmobiliar sehe, diese Männer, die wie Butler gekleidet sind und vor den Häusern herumstehen müssen. Als gäbe es nicht genug Möglichkeiten, das viele geld, so viel, zu viel Geld auszugeben, das den Haueigentümern drinnen zur Verfügung steht, oder vielleicht auch nicht drinnen, sondern woanders, aber potenziell drinnen; darum muss das Personal sichtbar gemacht werden, und zwar als unterbeschäftigt: ganze Menschen stehen auf Abruf bereit, wenn jemand aus dem Taxie steigt, oder eine Tür geschlossen vorgefunden wird und daher geöffnet werden muss.“

Zwischen den Kapiteln sind kleine Erzählungen, Miniaturen, eingeschoben. Wie durch ein Blitzlicht erleuchtet scheinen Situationen des öffentlichen Lebens auf, aus der U-Bahn, von der Rolltreppe, einem Platz, dem Park. Wildfremde Menschen begegnen sich, passen aufeinander auf, helfen sich, sind freundlich zueinander. Hier bekommt das laute, feindselige und oft ungehobelte Leben in einer modernen Großstadt plötzlich eine zusätzliche Facette der Ruhe und der Fürsorge. Meg hat diese Situationen beobachtet und notiert, weil sie doch den heilenden Auftrag hat, gute Momente zu sammeln, statt ständig mit den gleichen Gedanken über die Dinge nachzudenken, die sie wütend machen. Es sind aber auch die Szenen, die den Erlebnissen von Meg und Jon, ihren Erinnerungen, ihren Sorgen und Verletzungen etwas Positives entgegenstellen.

„Süßer Ernst“ hat A. L. Kennedy ihren großartigen, an Ideen überquellenden und in einer wirkungsvollen Sprache erzählten Roman genannt. „Süß“ – aber nie kitschig – ist die zarte, moderne Liebesgeschichte, die sich anbahnt und für so viel Gefühlsaufruhr sorgt. Aber „ernst“ ist das Leben eben auch, mit dem Kampf gegen den Alkoholismus, die Erinnerungen an Missbrauch und vielleicht eine schwere Erkrankung. „Ernst“ sind ebenfalls die Missstände im politischen System Großbritanniens. Es ist nicht konkret der Brexit, der hier verhandelt wird, sondern Machtmissbrauch, wie er auch in anderen Ländern vorkommen kann oder vorkommt. Und den Jon nicht mehr hinnimmt. Wir werden nicht wissen, zu welchem Konsequenzen Jons Handeln in diesem Fall führt. Immerhin: Am Samstagmorgen sitzen Meg und Jon im Telegraph Park und beobachten gemeinsam den Sonnenaufgang.

A. L. Kennedy (2018): Süßer Ernst, aus dem Englischen von Ingo Herzke und Susanne Höbel, München, Carl Hanser Verlag

4 Kommentare

  1. Beim Lesen Deiner wundervollen Buchbesprechung hat sich bei mir direkt dieses spezielle A.L.-Kennedy-Gefühl eingestellt. Ich liebe es, wie mich diese Autorin in einem Moment dazu bringt, schallend zu lachen, und im nächsten in einen tiefen menschlichen Abgrund blicken lässt.

    • Mir hat der Roman und diese besondere Art des Schreibens auch sehr gut gefallen. Und ich möchte das „spezielle Kennedy-Gefühl“ durchaus noch häufiger erleben. Ich habe da ja auch einiges nachzuholen. Und wenn sie immer so entlarvend und „auf den Punkt“ formuliert und erzählt, wie es sich aus deinem Kommentar liest, dann habe ich ja noch viele gute Kennedy-Lesestunden vor mir. Ich mag solche treffenden gesellschaftlichen und politischen Analysen und Bewertungen ja auch sehr. Und im Moment fällt mir fast kein deutscher Autor ein, der so formuliert.
      Viele Grüße, Claudia

      • Nachzuholen habe ich allerdings auch noch einiges. Bisher bin ich vor allem Fan von A.L. Kennedys Erzählungen.

      • Die Erzählungen kenne ich auch nicht. Immerhin hat es schon einer ihrer Romane bis ins Buchregal geschafft: „Alles, was du brauchst“. Da haben wir ja noch einiges zu lesen! Mit Terézia Mora ist es mir im vergangenen Jahr auch so ergangen, dass ich sie – spät, aber immerhin – entdeckt habe. Und bisher habe ich es noch nicht geschafft, einen der „alten“ Romane zu lesen. Immer wieder drängelt sich eine Neuerscheinung dazwischen. Ich muss wohl mal über meine Prioritäten nachdenken ;).
        Einen schönen und hoffentlich auch sonnigen Sonntag, Claudia

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