Lesen, Romane

Karl-Heinz Ott: Und jeden Morgen das Meer

Wie brüchig eine Existenz sein kann, das erfährt Sonja Bräuning mit über sechzig. Fast geflohen ist sie vom Bodensee nach Wales, ans Ende der Welt, könnte man meinen, dorthin, wo der Blick aufs meistens wild tosende Meer Weite und Grenzenlosigkeit und Ewigkeit verspricht – und die größtmögliche Freiheit, weil sie sich hier Tag für Tag für oder gegen das Leben entscheiden kann.

Zu einem Zeitpunkt, zu dem Menschen ihres Alters darüber nachdenken, wie sie die Zeit ohne Arbeitsverpflichtung verbringen wollen, steht Sonja da mit einem in die Jahre gekommenen Hotel, das dringend renoviert werden müsste, und so hohen Schulden, dass die Banken im Ort, deren Vertreter jahrelang bei ihr ein- und ausgegangen sind, ihr kein weiteres Geld mehr leihen. Selbst Arno, ihr Schwager, der in besseren Zeiten mit seinem Bruder und dessen Michelin-Stern geprahlt hat, gewährt ihr keinen Kredit mehr. Er drängt sie aus dem Haus, das früher einmal die Gaststätte seiner Eltern gewesen ist, eines der „bodenständigen“ Häuser, in denen die Sauce zum Braten aus der Tüte kam.

Bruno und sie haben Restaurant und Hotel in ganz andere Bereiche geführt. Dafür hat Bruno einen Michelin-Stern bekommen. Jahrelang haben die nobelsten Fahrzeuge aus Deutschland, der Schweiz und anderen Ländern auf ihrem Parkplatz geparkt, haben die Gäste den exquisiten, jeden Tag frisch aus Paris eintreffenden Fisch gegessen und die im Weinkeller eingelagerten edlen Tropfen getrunken. Und Bundeskanzler Kohl hat seinen Staatsgast Chirac nicht zum Essen von Saumagen in die Pfalz geführt, sondern ist bei ihnen eingekehrt. Bruno hat gekocht, um die Gäste mochte er sich nicht kümmern. Von Tisch zu Tisch zu gehen, das war nicht sein Ding. Das hat Sonja übernommen, hat sich mit den Gästen unterhalten, hat sich um ihr Wohlergehen gekümmert, hat überhaupt alle Aufgaben übernommen, die nicht zum Hoheitsgebiet des Chefkochs gehörten.
Und nun liegt das alles, liegen dreißig Jahre Arbeit in Scherben vor ihr. Als Brunos Stern abhandengekommen war – und er war nicht schnell, nicht geistesgegenwärtig genug, um ihn selbst zurückzugeben, wie andere in seiner Situation es tun – , und die Kosten für das gute Essen und die guten Getränke schon gar nicht mehr über die Stern-angemessenen-Preise zurückfließen konnten, als sich zur persönlichen Schmach auch die kaum noch aufzufangenden finanziellen Probleme gesellten, da zog Bruno sich mehr und mehr in den Weinkeller zurück. Und nun ist Bruno gestorben, vielleicht wegen des Alkohols, vielleicht war es auch Selbstmord.

Die Versuche Sonjas, in anderen Hotels unterzukommen, scheitern, vor allem wegen ihres Alters und weil ihre Kenntnisse im modernen Hotelmanagement nicht auf den aktuellen Stand sind. Auch der Schwager macht Druck und so ergreift Sonja den Strohhalm, den ihr der englische Stammgast, Mr Pettibone, angeboten hat: sie will das Hotel seines Onkels an der walisischen Küste führen, in Abydyr. Dort lebt Sonja nun schon seit drei Jahren. Viele Tage stehen alle Zimmer leer, an manchen Tagen kommen ein paar Fernwanderer vorbei, manchmal ein paar Urlauber. In die Hotelkneipe sitzen des Abends immer ein paar Menschen aus dem Ort, um ihr Bier zu trinken. Mit dem ehemaligen Glamour ihres Hauses und ihrer Gäste am Bodensee hat dies hier wahrlich nichts zu tun: „Gegen freie Logis und ein besseres Trinkgeld verwaltet sie den schieren Stillstand.“

Karl-Heinz Otts Roman ist auf den ersten Blick die Geschichte des Niedergangs des hochdekorierten Restaurants der Bräunings am Bodensee. Das – aus vielen möglichen Gründen – die Auszeichnung verliert und das Ehepaar in einen langsamen, aber stetigen Abstiegsstrudel gerät. Eine Geschichte darüber, wie nah Erfolg und Misserfolg nebeneinanderliegen, welche verheerenden Konsequenzen diese von außen erst zugewiesene und dann entzogene Auszeichnung auch und vor allen Dingen auf das Innere der Menschen hat.

Auf den zweiten Blick aber ist dieser Roman aber auch eine Meditation über Verluste. Sonjas ganzes Leben ist davon geprägt: Erst hat sie ihre Eltern verloren, die es zurück in die USA zog, wo der Vater herstammte, und die das Baby lieber der Großmutter abgaben. Dann wurde die Großmutter vergesslich, Sonja musste ins von Nonnen geführte Internat ins Voralpenland ziehen. Zur Beerdigung der Großmutter durfte sie nicht fahren. Dann vermittelten die Nonnen ihr eine Ausbildung im Hotel in St. Moritz. Schon bei der Hinfahrt fühlte sie sich von den Bergen und Felsen eingesperrt, bekam Atemnot von der Enge der Täler. Aber sie lernte Bruno dort kennen, dem sie sich sofort nah fühlte, wegen seiner Zurückhaltung, seiner Scheu. Und so kam sie in den Lindenhof, wieder in eine Gegend mit Blick auf die Berge, wohin sie doch nie mehr wollte. Mit einer Schwiegermutter, die nicht begeistert war von der Wahl des Sohnes und sie als Aschenputtel bezeichnete. Und dann, in der Zeit des langsamen Abstiegs, als Bruno immer öfter seine Abende alleine im Keller verbrachte, verlor sie auch ihn – oder hatte ihn vielleicht auch schon früher verloren, in den immerwährenden Anstrengungen, um aus der Dorfkneipe ein angesehenes Haus zu machen.

„Sicherlich hatte sie ihn sogar geliebt, ohne zu wissen, wo wahre Liebe beginnt und bloßes Mögen endet. Jedenfalls hatten sie sich sofort gut vertragen, wie auch später noch, mal mehr, mal weniger, wie es die Tage eben mit sich brachten. Sie war froh, jemanden um sich zu haben, mit dem man sich vertraut fühlte und den man bestens zu kennen meinte, auch wenn er wenig redete. Seine Treue besaß etwas so Selbstverständliches, dass man gar nicht von Treue reden musste. Man gehörte zusammen durch die Arbeit und überhaupt, auch in Zeiten, die ihn von ihr wegrückten.“

Es ist ein melancholischer Erzählton, der Sonjas Gedanken, Erinnerungen und Reflexionen ausbreitet. Der deutlich macht, dass sie ihre Situation nun, mit dem zeitlichen und räumlichen Abstand, sehr genau zu analysieren weiß, der aber auch ihre innere Leere zeigt, zeigt, dass sie sich selbst verloren, dass sie lange Jahre schon mehr funktioniert als gelebt hat, sich nun nur noch als „man“ betrachtet. Als Kontrapunkt dazu dienen die Beschreibungen der rauen und tosenden See in Wales. Und wirklich ist Sonja vor allem nach Wales gezogen, weil sie so eine Sehnsucht hatte nach dem Meer. Beim ersten sintflutartigen Regen zieht sie ein Regencape über ihr Nachthemd,

„schlüpfte in ihre Sandalen, stiegt die drei Stockwerke hinab zum Ausgang, kämpfte sich über die Straße, krallte sich am Küstengeländer fest und ließ die Brecher auf sich einstürzen. Die Brandung schlug ihr ins Gesicht, ihre Augen brannten, sie konnte nichts mehr sehen. Sie wusste nicht, was stärker war, ihr Wille zu überleben oder ihr Wille aufzugeben.“

Den Verlusten stellt Sonja Lebensentwürfe entgegen, in denen Menschen sich ihre Freiheit zurückerobert haben. Einer ihrer hochbetagten Gäste hat sich eine Woche aus seinem Altersheim hinausgestohlen, ein Kollege aus dem Hotelgewerbe führt nun sein eigenes Haus, in dem er seine Philosophie umsetzte, jedem Gast ehrlich zu sagen, was er vom ihm hält. Und jeden Morgen macht Sonja ihren Spaziergang auf den Klippen am Meer, jeden Morgen betrachtet sie die Wellen, den Horizont, den Himmel und die Möwen und jeden Morgen genießt sie den Luxus der Freiheit, entscheiden zu können, ob sie den Tag leben möchte oder nicht.

In seinem knappen Roman leuchtet Karl-Heinz Ott grandios die Biografie einer Frau aus, die im Alter und erst nach sehr schmerzlichen Erlebnissen zu ihrer Autonomie zurückfindet. So eine Geschichte könnte schnell im kitschigen Selbstfindungsjargon enden. Dem entgeht Ott aber durch seine allen Verlusten zum Trotz starke Frauenfigur, die ebenso leicht und fein erzählend sowie klar beobachtend und reflektierend ihrer Lebensgeschichte auf den Grund geht. Und dabei einige Mechanismen zu Tage fördert, die auch die Leser nachdenklich stimmt.

Karl-Heinz Ott (2018): Und jeden Morgen das Meer, München, Carl Hanser Verlag