Lesen, Romane

Elizabeth Strout: Alles ist möglich

„Alles ist möglich“, meint die Beratungslehrerin Patty und verspricht der fünfzehnjährigen Schülerin Lila Lane, ihr einen Platz am College zu beschaffen und das Geld für ein Studium, wenn Lila das möchte. Lilas Noten seien so gut, da könne sie ein Studium beginnen. Lila fängt an zu weinen. Weil sie immer weinen muss, wenn jemand nett ist zu ihr. Und das kommt in ihrer Familie nicht oft vor.

Schon vor ein paar Tagen hat Lila in Pattys Büro gesessen. Das Gespräch ist jedoch völlig anders verlaufen, denn Lila war arrogant und respektlos. Sie hat sich über Pattys ernsthaftes Lob lustig gemacht, hat Pattys Fragen nach ihren Berufswünschen nicht beantwortet, sondern Patty stattdessen gefragt, ob die Bilder der Kinder, die auf der Kommode stehen, ihre eigenen seien. Und das obwohl sie doch ganz genau weiß, dass Patty keine eigenen Kinder hat. Und erklärt hat Lila:

„Weil Sie und Ihr Mann nie zusammen in der Liste waren, stimmt´s?“ Das Mädchen stieß ein Lachen aus; ihre Zähne waren schlecht. „Das heißt es nämlich über Sie, wussten Sie das? Fatty Patty und ihr Mann waren nie zusammen in der Kiste, und überhaupt hat sie´s noch nie mit einem gemacht. Sie sind immer noch Jungfrau heißt es.“ „Raus hier, du mieses Stück Abschaum“, ist Pattys Reaktion.

In Elizabeth Strouts Roman wird gelästert und gedroht, es wird gelogen und betrogen, es gibt sexuellen Missbrauch in verschiedener Gestalt, die Gewalt durch die Macht der Eltern, die Gewalt der Armut, die von einer wenig Anteil nehmenden Nachbarschaft zu Stigmatisierung und Ausgrenzung führt. Strout erzählt also in vielen Facetten von den Dingen, die Menschen anderen Menschen antun können. Das könnte eine sehr deprimierende und niederschmetternde Lektüre sein. Aber das ist das Lesen ihres Romans ganz und gar nicht: Das Gegenteil ist der Fall.

Und das liegt nicht nur daran, dass sie den vielen üblen Erfahrungen, die ihre Figuren machen, auch das Streben nach Glück und Liebe entgegensetzt, die Suche nach einem besseren Leben. Und ein besseres Leben kann sich schon einstellen, wenn man ein gutes Buch liest, wenn man verzeihen kann, wenn man eine Situation annehmen kann, wie sie ist. Oder wenn man es eben nicht hat mit dem Verzeihen, wenn es für die eigene Seele besser ist, den Konflikt beim Namen zu nennen.

Patty ruft nach dem denkbar schlecht gelaufenen Gespräch mit Lila, der sie doch mit ihrem Studien-Angebot einen Weg aus der Armut weisen wollte, ihre Schwester Linda an. Ein bisschen Beistand hat sie sich wohl gewünscht, ein bisschen Verständnis für ihren Ausspruch vom Abschaum, für den sie sich jetzt schon schämt. Die Unterstützung kommt sofort, macht es Patty aber auch nicht leichter:

„Erinnerst du dich denn nicht? Sie waren Gesocks, Patty. Gott, mir fällt gerade wieder ein, dass sie diese – was waren das? Irgendwelche Verwandten von ihnen eben. Der Junge hieß jedenfalls Abel. Grundgütiger, war das ein Früchtchen. Er ist immer in den Müllcontainer hinter Chatwin´s Café gestiegen und hat da die Abfälle nach Essensresten durchgewühlt. Ich meine, so hungrig kann doch kein Mensch sein. Warum macht jemand so was? Aber er hat sich ja nicht einmal geschämt, das weiß ich noch. Mir ist immer ganz schlecht geworden bei dem Anblick. Offen gesagt wird mir jetzt noch schlecht.“

So abfällig und unreflektiert spricht also Linda. Von der Patty aber bei ihrem Telefongespräch den Eindruck hat, dass sie nicht zuhöre, sich gar nicht für ihren Streit mit Lila interessiert. Patty hat oft den Eindruck, dass Menschen einander nicht zuhören, weil sie oft nur mit sich selbst und ihren eigenen Problemen beschäftigt sind und sich nicht auf ihr Gegenüber einlassen. In einem späteren Kapitel erfahren wir dann, dass Patty Recht hat mit ihrem Eindruck, denn Linda steckt gerade in einem großen Gewissenskonflikt. Sie weiß nämlich genau darüber Bescheid, dass ihr Mann das Gästezimmer des Hauses mit Kameras ausgestattet hat, um am Laptop seine Kundinnen ungestört zu beobachten. Und auch Linda schaute dabei früher ganz gerne zu. Linda weiß auch, dass er den weiblichen Gästen gerne mal nachstellt. Gerade hat er eine der Frauen in ihrem Zimmer überrascht, sodass sie, nur noch in Unterwäsche bekleidet, auf die Straße geflohen ist. Nun liegt bei der Polizei eine Anzeige gegen ihren Mann vor. Auf Linda und ihre Aussage kommt es jetzt an. Linda aber, die doch so trefflich über Armut urteilen kann, wird ihren Mann nicht belasten.

Wie in einem Episodenfilm erzählt Strout ihren Roman in neun Erzählungen, in denen jeweils eine andere Protagonistin, ein anderer Protagonist im Vordergrund stehen. So gibt es auch keinen richtigen Plot, kein spannendes Finale, auf das der Roman zusteuert. Stattdessen zeigen die Geschichten nicht mehr und nicht weniger als Freud´ und Leid des normalen Lebens. Strout erzählt mitten aus dem Alltags-Leben ihrer Protagonisten und doch ist das kein bisschen langweilig, kein bisschen schleppend oder betulich. Denn Strout schaut genau hin, entwickelt ihre Figuren in den Situationen bis ins kleinste Detail und zeigt die Fülle an Erlebnissen in den Leben ihrer Figuren, ohne dass dies konstruiert wirkt. Und Strout verrät keine ihrer Figuren, denn selbst die Figuren, die die eine oder andere charakterliche Tugend vermissen lassen, sind so gezeichnet, dass wir für diesen Mangel Verständnis entwickeln können.

So lernen wir diese Menschen aus der amerikanischen Provinz mit all ihrem oft erschreckend engen und ausgrenzenden Denken und ihren Vorurteilen gut kennen. Und wir sehen Elizabeth Strout uns geradezu zuzwinkern, wenn sie zwar eine ihrer Erzählungen über die Exklusion von Homosexualität im bäuerlichen Milieu ansiedelt, dann aber erzählt von der lesbischen Pastorin, die neu in ihr Amt eingeführt wird.

Zusammengehalten wird der Roman dadurch, dass die Figuren, mit einer Ausnahme, alle aus der Kleinstadt Amgash stammen, die der ehemalige Hausmeister der Schule Tommy Guptill als „heruntergewirtschaftet“ bezeichnet und die inmitten von Mais- und Sojabohnenfeldern rund eine Autostunde von Chicago entfernt liegt. Die meisten Figuren leben in gesicherten finanziellen Verhältnissen, aber sie tragen eben die diversen Traumata ihrer Kindheit oder die grausamen Erinnerungen an die Erlebnisse im Krieg in Europa oder Vietnam mit sich. Durch die episodische Konstruktion und dadurch, dass die Figuren sich untereinander kennen, erfahren wir im Laufe des Romans dann immer wieder, wie die eine oder andere Geschichte sich weiterentwickelt hat.

Ein weiterer roter Faden ergibt sich durch Lucy Barton und ihr neu erschienenes Buch. Das liegt in den Buchhandlungen im Ort natürlich gut sichtbar auf einem Extra-Tisch. Ein bisschen Stolz auf die ehemalige Nachbarin – auch wenn sie und ihre Familie früher einen willkommenen Anlass für Klatsch und Tratsch boten –, die nun eine berühmte New Yorker Schriftstellerin ist, spielt sicher eine Rolle. Und so kommt Lucy Barton und ihr Buch in den Gesprächen der verschiedenen Figuren auch immer mal wieder vor.

Patty, die gerne in den Buchhandlungen stöbert, findet am Nachmittag ihres Streitgesprächs mit Lila dieses Buch und kauft es. Es stellt sich als eine Biografie heraus, in der Lucy auch über ihre Kindheitserlebnisse erzählt. Und Patty hat die Lektüre zutiefst beeindruckt:

„In ihrem Buch sprach Lucy Barton von den Wegen, die die Menschen sich suchten, um auf andere herabblicken zu können, und Patty hatte das Gefühl, dass das stimmte. […] Lucy Bartons Buch hatte sie verstanden. Das war es – das Buch hatte sie verstanden. Diese Süße wie von einem gelbfarbenen Bonbon füllte ihr immer noch den Mund. Lucy Barton wusste, was Scham hieß, o Gott, wie gut wusste sie das. Und sie hatte diese Scham hinter sich gelassen. „Puh!“, sagte Patty, als sie den Motor abstellte. Und sie blieb noch eine Weile im Auto sitzen, bevor sie schließlich ausstieg und hineinging.“

Auch Patty überwindet ihre Scham und ihren Groll. Und sucht noch einmal das Gespräch mit Lila. Sie erklärt und entschuldigt ihren bösen Ausspruch über den „Abschaum“. Und bietet Lila erneut an, ihr bei der Studienplatz- und Geldsuche zu helfen.

Es sind diese Szenen in den Erzählungen, in denen uns auch Elizabeth Stouts Roman vorkommt, wie ein süßes gelbfarbenes Bonbon, das langsam auf der Zunge zergeht.

Elizabeth Strout (2018): Alles ist möglich, aus dem Amerikanischen von Sabine Roth, München, Luchterhand Literaturverlag

Aufmerksam geworden bin ich auf Strouts Roman durch Petras Besprechung auf ihrem Blog literaturreich.

2 Kommentare

  1. Wunderbar, danke Claudia – das hat mich richtig neugierig gemacht!

    Da werde ich wohl gleich tatsächlich durch Berlins momentanen Bilderbuchsommer zu meinem Lieblingsbuchladen laufen …

    Ganz herzlichen Dank für diese Anregung und eine sorglose Zeit mit viel Muße zum Lesen
    Bianka

    • Liebe Bianka,
      ich freue mich immer, wenn ich eine Leserin von einem Buch überzeugen kann und zum Lesen anstiften kann. Und hoffe, dass dir der Roman ebenso gut gefällt wie mir.
      Viele Grüße, Claudia

Die Kommentarfunktion ist geschlossen.