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Oliver Nachtwey: Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegehren in der regressiven Moderne

Die gesamtwirtschaftlichen Daten sahen zum Jahresende so gut aus, dass sich Angela Merkels Einschätzung „Den Menschen in Deutschland ging es noch nie so gut“ (hier und hier, beide Links von 2018) wiederum zu bewahrheiten schien. Da verwundert ein Essay mit dem doch ganz anders konnotierten Titel „Abstiegsgesellschaft“ sehr. An der Universität Basel beschäftigt sich Oliver Nachtwey mit der Auswertung von gesamtwirtschaftlichen Daten, um damit der sozialen Verfasstheit unserer Gesellschaft und den Veränderungen im Ablauf der vergangenen Jahrzehnte auf die Spur zu kommen. Als Professor für Sozialstrukturanalyse erforscht er die Sozialstruktur von Gesellschaften, erforscht ihre sozialen Milieus und die dabei gelebten Lebensstile der verschiedenen Milieus. Und auch wenn seine Thesen aus dem Band „Abstiegsgesellschaft“ von 2016 stammen, so wird, wenn man die neueren Daten noch einmal genauer recherchiert, schnell deutlich, dass seine Thesen auch für 2018 keineswegs überholt sind. Und manches, was er im Text dargelegt hat, z.B. die Entwicklungen am rechten Rand des Parteienspektrums, haben sich im Laufe der fast drei Jahre nach Erscheinen des Essays noch deutlicher herausgebildet.

Vor ein paar Monaten schon hat Katharina Herrmann über Oliver Nachtweys Auseinandersetzung mit der „Abstiegsgesellschaft“ geschrieben. Ihre Vorstellung des Buches hat mich neugierig gemacht. Dass Nachtwey seine Motivation für den genaueren Blick auf die Daten und Fakten auch damit begründet, dass sowohl die Angst vor dem sozialen Abstieg oder der Abstieg selbst auch mehr und mehr Eingang in die Literatur finde, hat mein Interesse noch mehr geweckt. So verweist Nachtwey u.a. auf Robert Kischs „Möbelhaus“ (2015), in dem ein Journalist von seinem Weg aus der Redaktionsstube in den Möbelverkauf erzählt. Von Heike Geißlers Arbeit im Lager von Amazon, von der sie in ihrem Band „Saisonarbeit“ (2014) berichtet. Und von Thomas Melles Roman „3000 Euro“ (2014), von Georg M. Oswalds „Alles was zählt“ (2000) und von Silke Scheuermanns „Die Häuser der anderen“ (2012).

Nachtwey weiß selbst darum, dass die These von der „Abstiegsgesellschaft“ den Leser erst einmal irritiert. Denn unsere Gesellschaft lebe ja gerade vom Ideal des Aufstiegs. Für die soziale Moderne, also die Zeit zwischen den 1950er Jahren und dem Beginn der 1970er Jahre, lasse sich dieses Phänomen auch nachweisen: Der Sozialstaat sorgte für eine zuverlässige Milderung der Lebensrisiken durch Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter, genauso aber auch dafür, dass die Arbeitsfähigkeit erhalten wurde. Ein unbefristeter und sozialversicherungspflichtiger Arbeitsvertrag mit einer 40-Stunden-Woche sei eine Selbstverständlichkeit gewesen, selbst für ungelernte Arbeitnehmer. In dieser Zeit der Produktivitätssteigerung seien für alle Arbeitnehmer die Löhne kontinuierlich gestiegen, sodass sich insgesamt der Lebensstandard verbessert habe. Der gesetzliche Anspruch auf Urlaub (seit 1963!) und die Einführung der Fünftagewoche habe allen Arbeitnehmern eine selbstbestimmte Freizeit und so manche Fernreise ermöglicht. Und die Bildungsexpansion, die eine bessere Bildung auch für die Kinder bildungsferner Schichten ermöglicht habe, sei für Aufstiege in höhere soziale Schichten genutzt worden. Insgesamt, so konstatiert Nachtwey, sei in diesen Jahren gesamtgesellschaftlich ein sogenannter Fahrstuhleffekt, ein Begriff, den der Soziologe Ulrich Beck in seinem Buch „Risikogesellschaft“ 1986 geprägt hat, zu beobachten gewesen:

„In der Wachstumsgesellschaft standen – so die Metapher – alle Schichten, von Arbeitnehmern bis zu Vermögensbesitzern, zusammen im Fahrstuhl und fuhren gemeinsam nach oben. Die Ungleichheiten zwischen den Schichten bzw. sozialen Klassen wurden dadurch zwar nicht beseitigt, sie spielten aber insofern keine große Rolle mehr, als es allen besser ging.“

Als dann die Zeit der wirtschaftlichen Stagnation begann, änderten sich auch die (sozial-)politischen Vorstellungen und machten mehr und mehr dem Platz, was heute als Neoliberalismus bezeichnet wird. Nachtwey erklärt hier einige Entwicklungen, durch die verschiedene Institutionen versucht haben, bei niedrigen Wachstumsraten der Wirtschaft trotzdem die Renditen für das Kapital zu sichern. Stichpunkte hier sind die Deregulierung der Finanzmärkte durch die Regierung, die Erschließung öffentlicher Märkte, hier nennt der Autor vor allem die Gesundheitsbranche, durch Kapitalgesellschaften, die Politik des billigen Geldes durch die Zentralbanken und damit einhergehend immer wieder platzende Finanzblasen, z.B. im Immobilienmarkt.

Als Folge dieses Postwachstumskapitalimus, so zieht der Autor das Fazit, ergeben sich größere gesellschaftliche Spannungen. Diese Zeit bezeichnet Nachtwey als „regressive Moderne“:

„Das Adjektiv regressiv bezieht sich auf den Umstand, dass Gegenwartsgesellschaften hinter das in der sozialen Moderne erreichte Niveau der Integration zurückfallen. Modernisierung impliziert, dass wir nicht Zeugen eines eindeutigen Rückschrittes hinter das in den vermeintlich besseren Zeiten Erreichte werden.“

So macht Nachtwey deutlich, dass in einigen Bereichen durchaus weiterhin emanzipatorische Fortschritte erzielt werden. Diese Fortschritte tragen häufig aber auch Rückschritte in sich. Als eines von mehreren gesamtgesellschaftlichen Beispielen, die er betrachtet, sei hier auf die Bildung verweisen. So erklärt der Autor, dass sich der Zugang zur Bildung vereinfacht habe. Tatsächlich erreichen Kinder sozial schwächerer Schichten heute leichter eine Fachhochschulreife oder eine Allgemeine Hochschulreife, beginnen ein Studium und erlangen akademische Abschlüsse. Durch diesen leichteren Zugang aber und die steigenden Absolventenzahlen entwerten sich die Abschlüsse gleichzeitig, sodass die Konkurrenz und Verdrängung steigen. Friederike Gösweiner erzählt in ihrem Roman „Traurige Freiheit“ genau davon: Mit allen akademischen Abschlüssen in der Tasche ist sie auf der Suche nach einem Job als Journalistin. Und tingelt doch nur von einem Volontariat zum nächsten. Wenn ihre Zeit vorbei ist, wird sie mit großem Bahnhof verabschiedet, doch weiß sie genau, dass die nächsten willfährigen Volontäre längst warten, dass sie ihren Schreibtisch freiräumt.

Eine weitere Veränderung sieht der Autor u.a. im Bereich der Arbeit selbst. Hier erhalte der einzelne Arbeitnehmer immer mehr Freiheiten und Möglichkeiten, eigene Entscheidungen zu treffen. Er werde so immer mehr zum „Unternehmer seiner selbst“. Das aber sei letztendlich ein faustischer Pakt, denn im Gegenzug dazu werde die “Arbeit entgrenzt und subjektiviert, der Markt buchstäblich in die Unternehmen hinein verschoben“, um so eine höhere Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter zu erreichen. Diese Entwicklung werde in solchen Bereichen zusätzlich anstrengend, in denen „emotionale“ Arbeit geleistet wird, in denen also die Empathie der Mitarbeiter eine wesentliche Rolle im Arbeitsprozess spielt, so wie in allen Berufen, die sich (sozial) um Menschen kümmern. Welche Wirkungen Angst davor, die eigene Leistungsfähigkeit nicht auf den Punkt bringen zu können, haben kann, davon erzählt Kristine Bilkau in „Die Glücklichen“. Da ist es Isabell, die Cellistin, die nach der Geburt ihres Sohnes, als sie ins Orchester zurückkehrt, kaum mehr ihr Solo fehlerfrei spielen kann. Natürlich bekommt sie irgendwann die Kündigung. Später wird das gesamte Orchester entlassen, die Musik vom Band reicht für die Musical-Vorstellungen auch.

Nachtwey zeigt hier weitere Entwicklungen auf, die seine These von der regressiven Moderne belegen. Und verweist auf den „Rolltreppeneffekt“, der sich zum einen durch individuelle Abstiege oder Abstürze zeige. Der Rollentreppeneffekt zeige sich aber zum anderen gerade bei der genauen Analyse gesamtwirtschaftlicher Daten, weil nämlich die Nettoeinkommen seit Jahren eher fallen. Auch sei zu beobachten, dass die Abstände zwischen den besseren Einkommen und den schwächeren sich wieder stärker auseinanderentwickeln. Nachtwey erklärt hier ausführlich, wie fehlende Möglichkeiten des Aufstiegs bzw. sogar soziale Abstiege gerade Teile der Mittelschicht treffen und hier für Verunsicherung sorgen, wie es gerade auch jüngere Akademiker treffen kann, sich von einem befristeten Job zum nächsten zu hangeln und wie dies auch mit der Berufswahl zu tun hat.

Oliver Nachtweys Essay zeigt eine differenzierte Analyse der Gegenwart. Er argumentiert auf der Basis von Zahlen, die seinem Text auch zugefügt sind, aber nicht in einem solchen Maß, dass der Leser vor lauter Daten, Tabellen und komplizierten statistischen Berechnungen den Überblick verliert. Auch wenn der Autor, man erkennt es an seiner „Neoliberalismuskritik“, einen kritischen und auf Probleme aufmerksam machenden Blick hat, wenn er also aus einer „linken“ Position heraus argumentiert, so verliert er sich nicht in einer Negativitätssuada, die der gegenwärtigen Situation ja auch nicht gerecht werden würde, sondern zeigt gerade durch den genauen Blick auf, wo Fortschritte zu verorten sind, wo Rückschritte. Auch die Möglichkeiten, die Menschen bisher genutzt haben, sich zu empören und aufzubegehren, stellt er vor. Dass er keine Lösungswege skizziert, hat auch etwas zu tun mit der Anlage des Textes, der eine Diagnose sein soll.

Für diejenigen also, die einen genauen Blick bekommen wollen auf die manchmal auch entgegengesetzten Veränderungen in unserer Gesellschaft, für diejenigen, die nach Erklärungen suchen für ihre divergierenden Eindrücke und auch für diejenigen, die diesen Entwicklungen immer wieder in den Geschichten der aktuellen Romane begegnen, ist die Lektüre ein Gewinn.

Oliver Nachtwey (2016): Die Abstiegsgesellschaft. Über das Aufbegheren in der regressiven Moderne, Berlin, edition suhrkamp

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