Als „der fesselndste Roman dieses Herbstes“ wurde Yannick Haenels Geschichte um „Die bleichen Füchse“ in Frankreich im Erscheinungsjahr 2013 angekündigt. Fesselnd ist er tatsächlich, wegen seiner Handlung und auch wegen seiner literarische Gestaltung, seiner Bezüge zur Literatur und Geschichte und der immer wiederkehrenden Motive. Er ist aber, um das Spiel mit den Superlativen fortzuführen: provozierend, verstörend und radikal. Und politisch aktuell, auch wenn er die Unruhen in Paris und anderen Städten aus dem Jahr 2005 aufgreift und weiter erzählt, damit aber eine gesellschaftliche Realität beschreibt, die sich bis heute nicht geändert haben mag, die vielleicht auch Auslöser für den Terror im Januar gewesen ist.
Die Geschichte beginnt damit, dass Jean Deichel an einem Sonntag im April, es ist der Tag der Präsidentschaftswahl, aus seinem möblierten Zimmer ausziehen muss. Mit der Miete ist er schon seit einigen Monaten säumig. Er ist arbeitslos, und weil er die Formulare nicht ordnungsgemäß ausfüllt, wird immer mehr seiner Arbeitslosenunterstützung gestrichen. Er hat die letzten Wochen vor allem in seinem Zimmer verbracht und kann genau beschreiben, wie die Sonne ins Fenster gefallen ist, wann sie in die eine Ecke des Zimmers, nämlich zwischen Heizkörper und Bett, da, wo er immer so gerne gesessen hat, mit diesem ganz besonderen Licht geschienen hat, das ihn so glücklich machte. Nun bleibt ihm nur, in das Auto eines Freundes zu ziehen, im Heck richtet er sich eine Schlafstatt ein, vorne sitzt er, raucht, schaut aus dem Fenster oder hört Radio.
Gleich an seinem ersten Abend im Auto, als er noch voller Verwunderung den sich verfärbenden Abendhimmel betrachtet und die Kirschblüten, die vom Baum über ihm auf die Straße schweben, hält der neu gewählte Präsident eine Rede:
Vor allem das Wort „Arbeit“ wiederholte sich: Man müsse arbeiten, immer mehr arbeiten, nur noch arbeiten. Ich fragte mich, ob auch andere Arbeitslose zuhörten, wie der „Neugewählte“ ein Loblied auf das sang, was sie nicht hatten und nie haben würden.
Denn die Arbeit, die er in seiner Rede als „republikanische Verpflichtung“ darstellte, als „Wert“, der, wie er sagte, imstande sei, „das Land zu retten“, existierte schlichtweg nicht mehr: Man drängte uns zu arbeiten, obwohl es keine Arbeit gab. Alle Leute, die ich traf, waren entlassen worden, man hatte sie rausgeworfen, sie vegetierten dahin, weil sie sie von der Arbeit ausgeschlossen hatten. (S. 16-17)
Jean Deichel findet in seinem „neuen“ Leben im Auto zu einem Tagesablauf: Morgens geht er in aller Frühe ins Schwimmbad, Arbeitslose haben hier kostenlosen Zutritt, dann wandert er stundenlang durch die Straßen des Viertels, trinkt in dieser Bar einen Kaffee, verbringt die Nachmittage lesend in der Mediathek Marguerite-Duras. Manchmal trifft er abends Bekannte aus seinem „alten Leben“, Künstler, mit denen er trinkt und völlig abstürzt. Einmal folgt er nachts einem Hund, der verletzt ist, und bleibt dort bei ihm, bis er gestorben ist. Manchmal sitzt er im Auto und liest Becketts „Warten auf Godot“, das Buch lag im Handschuhfach des Autos. Jean, fast ja selbst ein Landstreicher, scheint auch zu warten, er nennt diese Zeit rückblickend das „Intervall“.
Er freundet sich mit Issa und Kouré an, Flüchtlingen aus Mali, die bei der Müllabfuhr arbeiten und immer wieder durch die Straße kommen, in der Jeans Auto steht. Unter ihrem „Palaverbaum“ kommen sie ins Gespräch, dort stehen sie morgens und rauchen zusammen. Eines Tages gerät ein Obdachloser in das Müllauto und wird sofort zermalmt, er hatte in einem Müllcontainer geschlafen. Issa, Kouré und Jean pflanzen kleine Äste in den Boden, jeder legt einen Gegenstand zu den Ästen, gemeinsam denken sie an den unbekannten Toten, gemeinsam warten sie: „Ich dachte, drei, die warten.“
Und dann findet Jean auf seinen Spaziergängen eine Inschrift. Ausgerechnet in der Impasse Satan hat jemand an die Wand geschrieben „Die Gesellschaft existiert nicht“ und eine Zeichnung hinzugefügt – einen Fisch mit einem merkwürdigen Kopf. Jean zeichnet ihn ab und führt ihn, zusammen mit der Inschrift, nun immer mit sich. Er merkt, dass sich etwas in ihm verändert, etwas erwacht in ihm, er wird neugierig, was es mit Inschrift und Zeichnung auf sich hat, fühlt neue Kräfte in sich. Die Zeit des Wartens scheint vorüber zu sein.
Tatsächlich lernt er Anna kennen, wandert mit ihr durch die Straßen, zeigt ihr die Inschrift und die Zeichnung in der Impasse Satan und sieht ihr an, dass sie mehr über weiß. Ein paar Tage später nimmt sie ihn und führt ihn ein in den Kreis der „bleichen Füchse“. Hier treffen sich diejenigen, die keine Papiere haben, das sind die, die illegal in Frankreich sind und auch diejenigen, die ihre Papiere selbst vernichtet haben, weil sie das System nicht mehr akzeptieren. Sie alle haben sich unter dem Zeichen des bleichen Fuchses versammelt, einem Gott der Dogon in Mali:
Das war ein Gott, der nicht freundlich zu den Menschen war. Er lebte im Herz der Zerstörung, das verlieh ihm ein Wissen über jene, die heute unsere Welt verwüsten. Seine Grausamkeit ist eine Kunst, sie macht ihn von vorneherein zum Rebellen. (S. 118)
Auch Jean vernichtet seine Papiere, er gehört nun zu den bleichen Füchsen, sein „ich“ wird zu einem „Wir“. Und als das „Wir“ der identitätslosen großen Masse erzählt er im zweiten Teil des Romans, vom revolutionären Marsch der bleichen Füchse durch Paris, der ausgelöst wurde vom Tod Issas und Kourés, die von der Polizei gejagt wurden. Den bleichen Füchsen mit ihren afrikanischen Masken schließen sich bei dieser Demonstration immer mehr weitere Masken an – nämlich solche der Anoymous-Bewegung. Gewalt bricht aus – Feuer werden gelegt in Mülltonnen, Autos werden angezündet – aber es gibt keine Gewalt gegen Menschen.
Mit Jean Deichel hat Yannick Haenel eine Figur geschaffen, die die ganz aktuellen sozialen Probleme des Mittelstandes verkörpert – gerade in diesen Tagen ist zum Abstieg der unteren Mittelschicht in Frankreich eine dreiteilige Dokumentation auf arte gesendet worden. Jean Deichel hat erfahren, was der genaue und ehrliche Blick in die Arbeitslosenstatistik wohl jedem verraten könnte: es gibt, durchaus auch verstärkt durch wirtschaftliche Krisen, einfach nicht genug Arbeitsplätze für all die, die arbeiten wollen, arbeiten müssen. Die Ansprache des Präsidenten, die Aufforderung eines Journalisten zur Jagd auf Unterstützungsempfänger – „Man müsse sie alle zwingen zu arbeiten, er benutzte das Wort „Umerziehung“ und weiter: „Jemand, der nicht arbeitet, mindert meine Kaufkraft.“- , das alles bestärkt ihn nur in seiner Meinung, dass nur noch eine Revolution Veränderung bringen könne.
Und es schärft seinen Blick dahin zu schauen, wo es andere gibt, noch bedürftiger als er, weil sie nicht einmal Unterstützungsleistungen bekommen, nicht einmal im Auto leben. Und so erkennt er die prekäre Lage der Flüchtlinge, die nicht nur in Frankreich sind, weil sie vor den wirtschaftlichen Problemen in ihren Ländern entgehen wollen, sondern auch da sind, weil sie den kriminellen Verhältnissen in ihren Ländern entfliehen und sich dort eben nicht in die mafiösen Strukturen einfügen wollten. Nun können sie nicht mehr zurück: Auf ihre Köpfe ist ein Lösegeld ausgesetzt.
Natürlich ist Jean Deichels Haltung auch provozierend. Warum kann er sich nicht an die Regeln halten, warum nicht die Formulare fristgerecht einreichen, es gibt ja Arbeitslosenunterstützung und weitere Transferleistungen. Warum trägt er nur diese revolutionären Ideen mit sich herum, warum schließt er sich ausgerechnet den bleichen Füchsen an, die einen sehr fremden, voraufklärerischen und dämonischen Kult betreiben. Warum stellt er sich gegen den Staat, wenn er Asylbewerber und Flüchtlinge dem Zugriff der Polizei entzieht, warum gibt er seine Identität zugunsten eines Agierens in einem Wir auf, warum gerät er in einen derartigen rauschhaften Massentaumel, als die Totenfeier für Issa und Kouré zu einer Demonstration wird?
Verstörend ist die Figur des Jean Deichel, ganz besonders im zweiten Teil des Romans, wenn er die große Demonstration beschreibt, wenn er fordert, laut zu werden, unangenehm, endlich von allen gesehen zu werden. Verstörend ist seine Rede hier vor allem, weil er in ein „wir“ und „ihr“ teilt, weil der Leser so hin- und hergerissen wird, ob er zu dieser oder zu jener Gruppe gehört bzw. gehören möchte. Seine Forderungen, seine Begründungen sind radikal, enthalten aber doch auch eine Stück Wahrheit:
Ihr habt eine Welt errichtet, in der die Herrschaft selbst euch fesselt. Ist nicht das Leben jeden Einzelnen der wahnsinnigen Macht der Finanzwelt unterworfen und Opfer ihrer katastrophalen Deregulierung. (…) Eure Welt hat sich so arrangiert, dass in der Politik gar nichts mehr vollbracht wird. Ihr habe euer Ziel erreicht, aber eben dadurch habt ihr auch eure Vertreibung besiegelt. Wenn in der Politik nichts mehr passiert, passiert es außerhalb (…). (S. 180/181)
Mit radikalem Blick schaut Jean Deichel auf die Gesellschaft. Das mag an manchen Stellen sehr einseitig sein. Immerhin hat Haenel hier eine literarische Figur erschaffen, die deutlich und mahnend ihre Finger legt in die Wunden des neoliberalen Wirtschaftens. So eine Figur ist im Moment im deutschsprachigen Raum in der Literatur, weit und breit nicht zu sehen.
Yannick Haenel (2014): Die bleichen Füchse, Rowohlt, Reinbek
Ein Interview mit Yannick Haenel zu seinem Roman findet ihr hier.
Ein Interview mit Claudia Steinitz, der Übersetzerin der „Bleichen Füchse“, könnt ihr hier nachlesen.
Tobias von libroskop hat mich mit seiner Besprechung auf den Roman aufmerksam gemacht. Dort findet Ihr auch eine Einordnung des Romans in die aktuelle französische Literatur. Auch in Claudios Artikel auf SätzeSchätze zu dem Roman „Ausweitung der Kampfzone von Houellebecq sind weitergehende Hinweise über die französische Literatur zu finden, die sich wohl offensichtlich weit stärker – und im Ton auch schärfer – als die deutsche mit aktuellen politischen und gesellschaftlichen Problemen auseinandersetzt.
Danke für deine differenzierte Besprechung, Claudia. Besonders interessant finde ich, wie sehr gesellschaftliche Realität Literatur beeinflusst, ja geradezu gebiert, wie ja nicht zuletzt daran deutlich wird, dass es in Frankreich diese Stimme gibt und in Deutschland (noch?) nicht. Verstehe ich das richtig, dass Haenels Roman mit der „Bestandsaufnahme“ endet oder gibt es auch Ansätze in Richtung Auflösung (Hoffnung)? Liebe Grüße!
Liebe Maren,
ich sehe die Probleme, die Haenel in seinem Roman thematisert, auch in Deutschland. Gerade heute ist ein Armutsbericht zumindest für NRW veröffentlicht worden, der verdeutlicht, dass die Zahl der Armen steigt (http://www1.wdr.de/themen/aktuell/armutsbericht-nrw-100.html). Vielleicht sind solche Entwicklungen wie Pegida ein Ventil, um den Ärger darüber zu artikulieren, auch wenn das Ziel der Demonstrationen ein völlig falsches ist. Ich kann auch nicht beurteilen, ob die gesellschaftlichen Probleme in Frankrteich größer sind als in Deutschland, manche Äußerung in der deutschen Berichterstattung zu den Pariser Attentaten Anfang Januar empfand ich als recht arrogant. Jedenfalls gibt es aus meiner Ansicht auch für die deutschsprachige Literatur Anlass, sich stärker mit aktuellen gesellschaftpolitischen Problemen auseinanderzusetzen. Und wenn ich dann durch die Verlagsprospekte schaue, bin ich erstaunt über den Hang zur Vergangenheit und zur Auslotung rein innerlich-emotionaler Bespiegelungen. Und die alternde Ehe ist natürlich auch ein recht ergiebiges Thema, sozusagen für eine andere Altersklasse als die Entwicklungsromane :-). Die Themen müssen und sollen alle sein, ist ja gar keine Frage, aber dass es so wenig „politische“ Literatur gibt, finde ich schon erstaunlich. – Haenel bietet keine weitere Lösung an, der Roman endet inmitten des großen Demonstrationszugs. Vielleicht ist das eine Lösung, denn hier sind nicht nur die „Papierlosen“ versammelt, sie werden ja unterstützt von der Anonymus-Bewegung. Und die Menge der Demonstranten scheint gewaltig.
Viele Grüße, Claudia
Liebe Claudia, vielen Dank für deine ausführliche Antwort. Ich merke, ich habe reichlich kurz geschrieben. Ich wollte ganz sicher die Situation in Deutschland nicht verharmlosen, habe aber aus der Zeitungslektüre doch den Eindruck, dass die Entstehung von Parallelwelten in Paris und anderen französischen Städten weiter fortgeschritten ist als in Deutschland. Deswegen fand ich es ganz plausibel, dass es einen Roman wie den von Haenel schon auf Französisch, aber (noch) nicht auf Deutsch gibt. Deine Analyse des (fehlenden) Angebots an gesellschaftspolitisch relevanter Literatur unter den Neuerscheinungen im deutschsprachigen Raum ist sehr interessant. Ich selbst kenne mich damit viel weniger aus als du, wohl weil mein Fokus als Biografin auch literarisch eher auf Zeitgeschichte als auf Zeitgeschehen gerichtet ist. Beim Nachdenken über deine Kritik stellt sich mir die Frage, wieviel Nähe bzw. wieviel Distanz zu einem literarisch umgesetzten realen Geschehen dem Werk förderlich ist. Aber das Fass mache ich jetzt nicht mehr auf… 😉 Komm gut ins Wochenende!
Liebe Maren,
Du hast wohl recht, dass die Spannungen in Frankreich größer sind, als wir das kennen. Gerade heute ist ein Artikel von Alex Rühle in der Sddeutschen Zeitung (leider nicht online) gewesen, der aufzeigt, dass in der französischen Literaur, weit über Houellebecq hinaus, dieses Brodeln aufgenommen worden ist. Dabei geht es wohl weniger um die Verarmung des Mittelstandes als vielmehr um, ja, Bürgerkriege zwischen den verschiedenen Ethnien. Da scheinen Frankreich und seine Autoren tatsächlich „weiter“ zu sein als wir. Aber: Wir arbeiten dran. Die Bildungspolitik hat gerade ein neues Ziel: es sollen Warteschleifen vermieden werden. Hört sich erst einmal gut an, heißt aber, dass Bildungsgänge gestrichen werden (das spart teure Lehrer ein), junge Menschen ab 18, die also nicht mehr schulpflichtig sind, werden jetzt bei privaten Bildungsträgern „verwahrt“. Mal schauen, wie lange es dauert, bis auch hier junge Menschen auf die Barrikaden gehen. Nun bin ich aber doch wieder ein ziemlicher Schwarzmaler…
Trotzden ein schönes Wochenende, Claudia