Es ist schon eine spannende Idee, in die Häuser einer Straße zu schauen, um durch die vielen Lebensgeschichten ihrer Bewohner exemplarische Blicke zu bekommen auf die Beschaffenheit einer Gesellschaft. Diese Idee hat John Lanchester für die Pepys Road übernommen, eine Straße in London, deren Häuser vor über Hundert Jahren für die kleinen Angestellten aus Rechtsanwalts- und Steuerkanzleien erreichtet wurden, die aber mittlerweile in den Sog der Immobilienblase geraten und damit nur noch für sehr gut betuchte Menschen erschwinglich sind. Die momentan noch ansatzweise gemischte Bevölkerung, die hier lebt, zeigt dann tatsächlich ein gutes und vielschichtiges Panorama großstädtischen Lebens unserer heutigen Zeit. Dabei streift der Zeitraum von Dezember 2007 bis November 2008 tatsächlich die Zeit des Ausbruchs der Finanzkrise. Dass dieses Panorama in der Marketingmaschinerie von Verlag und Feuilleton dann aber gleich als Roman zur Finanzkrise erklärt wird, ist kaum nachvollziehbar.
Ein Jahr lang kann der Leser einige der Bewohner der Straße, aber auch der Menschen, die im Umfeld der Straße arbeiten, in ihrem Leben begleiten und schlaglichtartig Höhen und Tiefen miterleben. Als roter Faden dient außerdem auch eine Postwurfsendung, die die Bewohner erschreckt, weil sie auf Fotos Details ihres Häuser wiedererkennen und dazu den merkwürdigen Satz „Wir wollen was ihr habt“. Diese Briefe werden weiterhin verschickt und die Aktionen werden sich im Laufe des Jahres in ihrer Bedrohlichkeit steigern. Im Laufe der Polizeiarbeit, die auf Wunsch der Betroffenen für Aufklärung der merkwürdigen Post sorgen soll, geraten einige der Anwohner und Bediensteten auch ins Visier der ermittelnden Behörden.
Viele der hier versammelten Geschichten sind packend erzählt, zum Beispiel die von Petunias Tochter Mary. Sie kehrt in ihre Elternhaus zurück, um ihre Mutter, der einzigen Bewohnerin, die seit ihrer Kindheit in der Pepys-Road lebt und die an einem Hirntumor erkrankt ist, zu pflegen. Ein paar Woche habe sie nur noch zu leben, hatten die Ärzte erklärt. Aber nun, zuhause, zieht sich das Sterben doch viel länger hin als gedacht. Und Mary kann es nicht ertragen. So putzt und kocht sie und ist sehr beschäftigt, nur mit ihrer Mutter Zeit zu verbringen, das kann sie nicht. Den Gewissenskonflikt versucht sie mit Zigaretten zu ersticken, aber auch das gelingt nicht. Und oben im Zimmer liegt ihre Mutter, hat manchmal wache Momente und reflektiert dann über das Verhalten der Tochter, das sie sich auch anders wünscht.
Mary setzte sich auf den Stuhl neben dem Bett. Auf dem Nachttisch standen eine Kanne Wasser, ein Glas und ein paar Schnittblumen. Mary spürte, wie sehr es sie belastete, hier in diesem Zimmer zu sein. Ein quälendes Gefühl des Verlustes erfüllte sie, das Bewusstsein des sich in Zeitlupe vollziehenden Todes ihres Mutter. Und gleichzeitig passierte gar nichts. Die Zeit schien nicht zu vergehen.
Oder die fantastische Geschichte von Freddy Kamo und seinem Vater Patrick, die aus dem Senegal nach London gekommen sind, weil ein Talentscout Freddy beim Fußballspielen beobachtet und ihn zu einem Permier-League-Verein nach London gelotst hat. Ihre Zwei-Zimmer-Hütte tauschen Vater und Sohn nun mit einem modernen Haus an der Pepys Road. Patrick, der ehemalige Polizist, fühlt sich ohne seine Arbeit und seine Kontakte zu anderen Menschen so fremd und verloren in London, dass er versucht, die Stadt durch Spaziergänge kennenzulernen. Und so wird er zum Flaneur, zum Beobachter der Stadt und der Menschen:
Seine langen einsamen Wanderungen führten zwar nicht dazu, dass er London mit einem Mal ins Herz schloss, aber er bekam zumindest das Gefühl, die Stadt ein wenig besser zu verstehen – wie sie angelegt war und welchem Rhythmus sie folgte. Und er begriff auch, was ihn an diesem Ort so irritierte: Es war der Eindruck, dass hier alle jederzeit mit etwas beschäftigt waren. Die Menschen waren nie untätig. Und das galt auch für die Zeit, in der sie eigentlich nichts taten. Sie gingen mit ihren Hunden spazieren, oder besuchten Wettbüros, oder lasen die Zeitung, während sie an der Bushaltestelle warteten, oder hörten Musik mit ihren Kopfhörern oder fuhren aus Skateborrds (…).
Und Freddy erlebt direkt bei seinem ersten Spiel für den Londoner Verein, am zweitenWeihnachtstag, wie es ist, in der Premier-League zu spielen und sich dort durchzusetzen:
Zu Hause in Afrika, hatte er einen Trickgehabt, den er sooft angewendet hatte, dass er schon längst nicht mehr funktionierte (…) Aber hier kannte ihn niemand. Die Bewegung war Freddy noch vertrauter als sein eigenes Spiegelbild und fiel ihm so leicht, wie morgens aus dem Bett zu steigen. Er täuschte mit dem linken Fuß einen Sprung in Richtung Ball an, ließ ihn aber dann vorbeirollen und spielte ihn stattdessen mit rechts. Sein Gewicht verlagerte sich, und er wechselte die Richtung, alles in einer einzigen Sekunde, und er war weg. Es war Täuschung, Ausweichmanöver und ein plötzlicher Sprintstart in ein und derselben Bewegung.
Oder die Geschichte Quentina, die Hals über Kopf ihre Heimatverlassen musste, weil sie sich einer politischen Untergrundbewegung angeschlossen hatte, die den Umgang der Regierung mit Aids anprangerte. Nun, als abgewiesene Asylbewerberin in London, die wegen der politischen Verhältnisse aber nicht sofort abgeschoben wird, darf sie, die einen Bachelor und einen Master in der Tasche hat, nicht offiziell arbeiten und so treibt es sie in die Illegalität bei einem privaten Überwachungsunternehmen für das sie als Politesse die Parkvorschriften überwacht. Durch die Ermittlungen der Polizei, bei der sie als Zeugin verhört werden soll, fliegt sie auf und lernt, mitten in Europa, die unwürdigen Zustände der Abschiebehaft kennen.
Alle waren von dem Thema der Ernährung besessen. Eine der fünfzehn Forderungen der Häftlinge, die sich im Hungerstreik befanden, lautete: „Wir wollen etwas zu essen bekommen, das auch wirklich essbar ist. Und das war durchaus nicht als Scherz gemeint. (…) Die Mahlzeiten sahen nicht nur unappetitlich aus, sondern stanken noch dazu. Das Fleisch roch jedes Mal, als sei es schon verdorben. Es fehlten jegliche Gewürze im Essen; alles schmeckte nach nichts. Der Nachtisch war sogar noch klumpiger und ungenießbarer als das Hauptgericht.
Es gibt aber auch Charaktere, und das sind gerade die, die zum Bankenkosmos gehören, die sehr klischeehaft gestaltet sind. Allen voran Arrabella, die Frau des Bankers Roger, in deren Leben es tatsächlich nichts anders gibt als Konsum und Boshaftigkeit. Roger selber, der die Zeit als Leiter der Derivateabteilung vornehmlich damit zu verbringen scheint, sich seinen Jahresbonus auszurechen, durchschaut zwar den einen oder anderen Mechanismus des Verhaltenskodex der Banker, entzieht sich dem aber nicht, sondern macht immer wieder fröhlich mit. Und sein Assistent, der – natürlich – sein ärgster Konkurrent ist, bringt durch seine wahrlich kriminelle Energie nicht nur Roger um seinen Job, sondern das Bankhaus gleich noch in die Insolvenz, zum Glück noch kurz bevor mit der Pleite der Lehman Brothers sowieso die Geldblase an den Börsen zerplatzt.
Auch Lanchester zeigt somit als Auslöser der Bankenkrise den egomanischen Einzelnen als Täter, denjenigen, der vor lauter Gier den Hals nicht voll bekommt und durch einsame Alleingänge seine Bank ruiniert. Einen ähnlichen Ansatz hat schon Kristof Magnuson in seinem Roman „Ich war es nicht“ verfolgt. Damit wird aber ein Problem verharmlost, das eher in den Strukturen der Banken steckt und sich dort verselbstständigt hat, als dass es auf die Psychopathie eines durchgeknallten Einzeltäters heruntergebrochen werden kann
Nichtsdestotrotz ist „Kapital“ ein „süffig“ zu lesender komplexer Roman, der vielleicht nicht so sehr durch literarische und stilistische Raffinessen auffällt, sein Ziel aber, nämlich den Zustand einer Gesellschaft zu beschreiben, indem, exemplarisch, die Bewohner einer Straße beobachtet werden, gut und lesenswert umsetzt.
PS: Die Studie „Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt“ von Claudia Honegger, Sighard Neckel und Chantal Magnin, Berlin 2010, gibt sehr deutliche und erschreckende Einblicke in die Ursachen der Bankenkrise, besser als dies bisher ein Roman gezeigt hätte.
John Lanchester: Das Kapital, Stuttgart 2012, Klett-Cotta
Eine schöne Vorstellung! 🙂 Die Meinungen zu diesem Buch, die ich bisher wahrgenommen habe, sind etwas zwiespältig gelesen. Allein vom Thema her, aber auch von der Aufmachung des Buches, hatte mich der Roman eher nicht angesprochen, auch wenn ich komplexe und umfangreiche Bücher eigentlich gerne lese oder zumindest nicht davor zurückscheue. Mal schauen, ich werde wohl einfach auf das Taschenbuch warten. 🙂
Liebe Grüße
Mara
P.S.: Bandit bedankt sich übrigens für das Angebot, etwas über sich zu erzählen. Im Moment ist er sehr eingebunden 😉 aber wir werden darauf bestimmt zurückkommen.
Ich freue mich, dass Du dich durch die lange Besprechung gearbeitet hast. Und dabei habe ich ja die meisten Figuren und Geschichten schlicht unterschlagen. Ich habe das „Kapital“ in den Weihnachtsferien gelesen und, obwohl der Roman wirklich flüssig und locker geschrieben ist, schon ewig dafür gebraucht. Mit Neid, ach was: Mit GROßEM Neid habe ich gestern Elke Heidenreich im Literaturclub zugehört, als sie berichtete, sie lese schon so 400 Seiten am Tag! Wahnsinn! Kannst Du Dich so schnell durch die Bücher arbeiten? Wer nicht so schnell liest, sollte es sich dann genau überlegen, womit er seine kostbare Lesezeit verbringt. Und da ist das „Kapital“ auf der einen Seite schon interessant, aber sicher nicht das Buch, das man UNBEDINGT gelesen haben muss. Und da es ja immer so viele vielversprechende andere Romane gibt…
Liebe Grüße
Claudia
PS: Felix und Linus würden sich wirklich sehr über einen Beitrag von Bandit freuen. Vielleicht hat er ja über Ostern ein wenig freie Zeit…
Liebe Claudia,
nein, von einem Pensum von 400 Seiten am Tag bin ich auch weit entfernt. Es ist mir ein bisschen unbegreiflich, wie Elke Heidenreich das schaffen mag. Ich schaffe maximal 100 Seiten, wenn es gut läuft – am Wochenende auch manchmal mehr. Aber sehr viel mehr geht nicht. Ich muss gerade an Christian aus „Der Turm“ denken, der sich 500 tägliche Buchseiten zum Ziel gesetzt hatte. Irgendwie befürchte ich ja immer, dass dabei irgendwann der Spaß am Lesen verloren gehen muss. Oder? 🙂
Ich werde das Kapital auf jeden Fall im Auge behalten, aber wohl eher auf die Taschenbuchausgabe zurückgreifen.
Liebe Grüße
Mara
Ja, ich finde auch, dass bei so vielen Seiten Lesestoff am Tag der Spaß verschwindet, vielleicht tritt sogar irgendwann eine Übersättigung ein – das möchte ich aber auf keinen Fall Elke Heidnereich unterstellen, denn sie nimmt die Bücher, die sie bespricht, schon sehr ernst. Dass Christian aus dem „Turm“ auch so viel liest, habe ich vollkommen vergessen. Ich grübele gerade, ob mir noch andere literarische Figuren mit unbändigem Bücherhunger einfallen… hm, hm, im Moment nicht.
Liebe Grüße
Claudia
ah.. so richtig begeistert war ich von dem roman auch nicht, zu viele stereotypen und klisches. andererseits war er handwerklich gut gemacht und auf jeden fall saubere unterhaltung. zur richtigen zeit also durch aus das richtige buch….
Es ist genau, wie Du so treffend zusammenfasst: Handwerklich gut gemachte Unterhaltung – so zum Wegschmökern. Aber nicht so unbedingt DAS Buch, das das Leben verändert :-). Nun werde ich aber erst einmal Deine Rezension lesen und bin schon sehr gespannt!
Und: Herzlich willkommen auf meinem kleinen, noch sehr übersichtlichen Blog.