Romane

Hansjörg Schertenleib: Wald aus Glas

Eine furchtbare Kraft ist in uns, die Freiheit.

Dieses Zitat Cesare Paveses stellt Schertenleib seinem Roman voran. Und Freiheit und Selbstbestimmung sind auch die großen Themen des Romans, denn Schertenlaub zeigt uns gleich zwei Protagonistinnen, die 72-jährige Roberta und die 16-jährige Ayfer, die zu Beginn des Romans ihre Selbstständigkeit verloren haben und sie mühsam versuchen zurückzugewinnen, und dies, das erfährt der Leser gleich auf den ersten Seiten, nicht mit einem guten Ende.

Die 72-jährige Roberta ist in ein Altersheim zwangseingewiesen, denn sie hat sich geweigert, ihre Wohnung zu verlassen. Das Haus aber soll abgerissen werden, es steht schon ein Investor parat. Das Altersheim kommt ihr vor wie ein Panoptikum: der Zimmernachbar Humbel kennt nur das Thema der Fortpflanzung von Tieren, mit dem er bei Tisch alle Sitznachbarn belästigt. Frau Gautschi spielt, wann immer sie in den Speisesaal kommt, Stewardess, begrüßt alle Anwesenden recht herzlich, nennt die aktuelle Lokalzeit und bedankt sich für den Mitflug. Und wenn Roberta nicht abends zum organisierten Kartenspeilen kommt, muss sie sich dafür rechtfertigen. Das ist nichts für Roberta, die ihr Leben bisher selbst entschieden hat und so reift in ihr der Plan zur Flucht. Sie will zurück in ihre Heimat, sie will aus der Schweiz zurück nach Österreich reisen:

Mit einem Mal wusste sie, dass sie sich heute Nacht auf den Weg machen würde. Es ist ganz und gar nicht gleichgültig, wo man sich befindet, auch wenn man keinen Ort mehr hat auf der Welt. Ich verblasse, ich löse mich auf, hatte Roberta gedacht, als sie vor einigen Tagen zufällig ihr Spiegelbild entdeckt hatte. Worauf wartest du denn noch? fragte sie sich. Die Angst wird auch morgen da sein, also geh, geh endlich! (S. 45)

So macht sie sich des Nachts auf den Weg, den sie bis in Detail vorbereitet hat: in einem Rucksack bewahrt sie ihr Zelt auf, ihre neuen Wanderstiefel hat sie schon vorher gut eingelaufen, den Weg, den sie in Salzburg gehen möchte, bei Google Maps studiert und sie hat auch einen genaue Plan, wie sie ihren Hund Prinz aus einem Zwinger im Nachbarort befreien kann. Zu Fuß, mit einem Lieferwagen, einem Wohnmobil, dem Zug und dem Bus schafft sie die Strecke zurück in ihr Heimatdorf und trifft dabei auf viele Menschen, die ihr helfen weiterzukommen, und das nicht nur, weil sie sie ein Stück Weg mitnehmen, sondern auch, weil die Gespräche mit ihnen Roberta immer wieder ihr Leben reflektieren lassen. Und so wird ihre Rückreise nach Hause auch eine Rückreise in ihrem Leben.

Einen ähnlichen Weg wie Roberta geht auch Ayfer. Im Sommer hat sie die Sekundarschule beendet, aber keinen Ausbildungsplatz gefunden. Und da sie sich häufig mit dem aus Jugoslawien stammenden Davor trifft, schicken ihre Eltern sie in die Türkei, wo sie im Hotel ihres Onkels eine Lehre als Köchin machen soll. Dort wird sie gleich in allen ihren Bewegungs- und Kontaktmöglichkeiten beschränkt: das Handy wird ihr abgenommen, an die Hotel-PC darf sie nicht, sie darf nicht alleine das Hotel verlassen und Tante und Onkel reden immer öfter darüber, dass sie doch außerhalb der Arbeitszeiten einen Türban tragen solle. Sie beschließt zu fliehen, jedoch ist ihre Flucht, im Unterschied zu Robertas alles andere als geplant, denn Ayfer muss die Chancen nutzen, die sich ihr bieten. Aber auch sie hat unglaubliches Glück, denn nachdem sie ihren Verwandten im Gepäckraum eines Reisebusses entkommen ist, trifft sie auf der Rastplatztoilette die Österreicherin Annika, die mit ihrem Vater im LKW zurück nach Wien fährt.

Die Geschichten von Roberta und Ayfer, die immer wieder abwechselnd erzählt werden und dabei fast parallele Flucht- und Reiseerlebnisse berichten, spiegeln sich: beide Figuren leben in gefängnisartigen Situationen, beide wollen unbedingt ihre Freiheit, ihre Selbstbestimmung wieder erlangen. Beide haben mit ihren Reisen auch das Ziel, nach Hause zu kommen. Die Stationen der Reise und ihre Erfahrungen sind immer wieder sehr ähnlich, dann nämlich, wenn beide von freundlichen Menschen mitgenommen werden und in Familien einbezogen werden. Letztendlich stellen sich beide mit einem Stein in der Hand gegen sinnlose Gewalt, die eine, weil sie sich wehren und schützen muss, die andere, weil sie sich rächen will. Und für beide gilt, dass die Reise fast leichter ist als das Ankommen, denn beide finden zu Hause nicht das, was sie sich erhofft haben.

In ihrem Ringen um Freiheit und Selbstbestimmung verweisen Roberta und Ayfer auf ganz wesentliche Fragen unserer Lebensgestaltung. So loten sie auch aus, welche Konsequenzen Selbstbestimmung haben kann: Einsamkeit, Angst, das Kappen von sozialen Beziehungen. Roberta hat bereits Erfahrungen mit diesen Konsequenzen, Ayfer hat sie nun zum ersten Mal.

Diese ambivalente Situation der Figuren findet auch immer wieder in den Beschreibungen der Natur wieder, besonders stark in Robertas Geschichte, da sie bei ihrer Reise quer durch die Alpen immer wieder faszinierende Ausblicke hat, die gewaltig (schön) sind, aber auch rau und bedrohlich:

Einige der Berge, die am anderen Ufer wie eine Wand in den Himmel wuchsen, als markierten sie kalt und abweisend das Ende der Welt oder zumindest eine Grenze, hinter der alles anders war, einige dieser Berge, die sie als Kind an ein geblecktes Gebiss erinnert hatten, waren jetzt frei von Wolken. Ihre von Gerölladern gefurchten Felswände standen in weichem Abendlicht, während die wenigen Häuser unten am Ufer bereits im Schatten lagen, genau wie die Hälfte des Sees. (S. 140)

Aber trotz dieses wichtigen Themas, trotz der Reisen der beiden Protagonisten und trotz der Landschaftsbeschreibungen beschleicht den Leser immer wieder das merkwürdige Gefühl, hier ein Experiment zu beobachten, das keines ist, weil die Protagonistinnen gar keine Chance haben, es zu bewältigen. Vieles im Handlungsverlauf wirkt sehr konstruiert, damit es auch wirklich zum unglücklichen Ende kommen kann. Fraglich ist doch schon, ob es eine Frau, die in ihrem Leben so kontrolliert und planvoll vorgeht, wie Roberta, tatsächlich darauf ankommen lässt, solange in einer Wohnung zu bleiben, bis diese von Amts wegen geräumt und sie selbst als schrullige Alte in ein Altersheim zwangseingewiesen wird? Wunderlich ist, dass Ayfer an einer Ampel aus dem LKW springt und Annika und ihren Vater, die sie so weit mitgenommen haben, ohne einen Abschied verlässt? Und merkwürdig ist es auch, dass Ayfer, die für eine 16-jährige erstaunlich erwachsene Beobachtungen und Überlegungen anstellt – manchmal wirkt sie geradezu altklug – so naiv sein kann und die vielen Zeichen übersieht, die deutlich darauf verweisen, dass sie ihrer Familie aus Gründen der Ehre nicht mehr willkommen sein wird. Und dann muss auch noch der Hund erschossen werden, den Roberta nun, zu Hause im Wald, zum ersten Mal auf der ganzen Reise von der Leine lässt. Das wirkt alles gewollt und auf ein dramatisches Ende hin geschrieben.

Gewollt und dramatisch ist auch oft die Sprache, die dem Leser immer schon ganz eindeutig aufzeigt, was er denken und fühlen soll, z.B. wenn die Berge bedrohlich an den See gerückt sind (S. 146) oder wenn Prinz die Schnauze vor Schmerzen aufgerissen hat, obwohl er doch vom Schuss des Jägers sofort tot war (S. 274).

Und dann ist da noch – gewollt und dramatisch – der Bezug zu Thomas Bernhards Roman „Frost“, den Roman, den Roberta in der Bibliothek mit einer Liste von Worten findet und den sie mit auf ihre Reise nimmt, um ihn immer mal wieder zur Hand zu nehmen und darin zu lesen. Und hier liegt dann auch der Referenzrahmen für Schertenleibs Geschichte: In Bernhards Roman, der ebenfalls in einem Hochtal im Salzburger Land spielt, also in Robertas Heimat, leidet einer der Protagonisten, der Maler Strauch, am Frost, „dem Frost in der ganzen Welt, der in die Seelen gedrungen ist.“ (Kindlers Neues Literaturlexikon, Multimedia Ausgabe 2000, Stichwort Thomas Bernhard: Frost). Wie Roberta stirbt auch Strauch im Winter im Gebirge, an Kälte und Frost, vielleicht ein Selbstmord wie bei Roberta, deren letzte Gedanken immer wieder auf Worte aus „Frost“ verweisen und die dann zum Schluss den „Wald aus Glas“ sieht.

Wenn dann das Ende durch Bernhards Roman schon so klar ist, dann kann das Freiheits-Experiment wirklich nur scheitern. Das ist schade. Vielleicht hätte hier etwas weniger Konstruktion den Figuren mehr Raum gegeben – und scheitern hätten sie ja trotzdem dürfen.

Eine andere, viel positivere, Rezension zu diesem Roman findet sich hier.

Hansjörg, Schertenleib (2012): Wald aus Glas, Berlin

2 Kommentare

  1. Liebe Claudia,

    ich danke dir ganz herzlich für diese kluge und spannende Besprechung eines Romans, der für mich zu meinen Highlights des vergangenen Jahres gehört. Schade, dass Hansjörg Schertenleib dich aber scheinbar nicht ganz überzeugen konnte. Ich empfinde deine Kritikpunkte teilweise als nachvollziehbar – habe das Konstruierte jedoch nicht so stark beim Lesen selbst empfunden. Vor allem die Begegnung der beiden Hauptfiguren hatte ich als sehr intelligenten literarischen Schachzug empfunden. Spannend, wie unterschiedlich doch Wahrnehmung und Geschmäcker sein können. Als Hundeliebhaberin ist mir natürlich auch der ganze Handlungsstrang um Prinz unheimlich nahe gegangen – ich kann nur ganz schlecht über Gewalt lesen, die Hunden angetan wird.

    Herzliche Grüße
    Mara

    • Liebe Mara,

      ja, es ist wirklich erstaunlich, wie unterschiedlich die Eindrücke der Lektüren sind – aber das ist ja auch spannend daran. Gerade aus unterschiedlichen Sichtweisen können dann wieder neue Perspektiven entstehen. Das Buch lag schon auf meinem heimischen Stapel und da hat mich dann Dein Text sehr angesprochen und für das Buch eingenommen (sollte es sein, dass wir beide dem auf dem Cover abgebildeten Hund unseren Bucherwerb verdanken? Hm, bestimmt kommt dann auch noch der vielversprechende Klappentext hinzu, oder…?)
      Dass Roberta und Ayfer sich in Salzbrug treffen und dass Roberta sogar, wenn auch unwissentlich, Ayfer hilft, finde ich auch völlig in Ordnung, sogar gelungen. Ich mochte tatsächlich die Jäger-Geschichte nicht und dieses Unbehagen hat mich auch den ganzen Roman über nicht wirklich losgelassen. Und so habe ich dann auch sehr mit dem Schreiben der Besprechung gekämpft – und angefangen über Bernhards „Frost“ zu recherchieren.

      Vielen dank für Deinen schönen Kommentar und viele Grüße
      Claudia

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