Aus Anlass der Vergabe des Büchner-Preises an Rainald Goetz sei hier noch einmal an seinen Roman „Johann Holtrop“ erinnert (ursprünglich veröffentlicht im August 2014):
Dieser Tage berichten die Zeitungen über die neue, wohl wissenschaftlich belastbare Erkenntnis, dass Psychologen erst gar nicht mehr lange Fragebögen entwickeln müssen, wenn sie herausfinden wollen, ob ihr Gegenüber eine narzisstische Persönlichkeit hat. Die Frage „Ich bin ein Narzisst. Wie sehr stimmen Sie dieser Aussage zu?“ reiche völlig aus, um das herauszufinden, denn die Betroffenen geben offen zu und seien geradezu stolz darauf, sich selbst ganz großartig zu finden und zu meinen, viele Dinge besser zu können als andere, während ihnen Selbstkritik völlig fremd sei, ebenso wie Mitgefühl.
Wenn dieses Erkenntnis stimmt, dann ist Johann Holtrop Narzisst. Er ist prominenter Manager eines Medienunternehmens, der Vorstandsvorsitzende der Assperg AG, erfolgreich zur Jahrtausendwende, zur aufregenden und aufgeregten Zeit der New Economy, die zum Ende der 1990er Jahre viele Fantasien befördert und die ersten „Investoren“ steinreich gemacht hat. Holtrop verkauft in der Boomphase einen Unternehmensteil und spült damit eine richtig große Summe Geld ins Portefeuille seines Arbeitgebers – und ins eigene. Und weil er so erfolgreich ist, sind natürlich die Journalisten hinter ihm her, fragen nach Interviews, wollen ein Porträt schreiben. Und Holtrop findet diese Nachfragen angenehm, denn er
ließ sich gerne von anderen, speziell jüngeren Menschen dabei beobachten, wie er war und was er machte, denn er fand selbst, auch wenn er vor langer Zeit einmal gespürt hatte, dass das eine fundamental unzulässige Empfindung war, zuletzt unweigerlich doch: erstaunlich gut gelungen, ein besonders geglücktes Exemplar Mensch. (S. 98-99)
Und wenn er dann so ins Erzählen kommt, seine Großtaten darstellt, seinen „Triumphzug“ in allen Facetten darlegt, dann kann ihm auch eine kritische Nachfrage nach Fehlern nicht aus dem Konzept bringen. Dann sind es wohlfeile Worthülsen, die er von sich gibt. Fehler machen ja schließlich alle, und wo gearbeitet werde, da entstehen auch Fehler. Und wenn die Frage nach Grenzen konkretisiert wird, dann spricht er über die unendlichen Grenzen, die die Politik den Unternehmern setze, „mindestens 98 Prozent (…) völlig schwachsinnige, für den Wirtschaftsstandort Deutschland obendrein unbeschreiblich schädliche Grenzen.“ Und innere Grenzen, ob es denn keine inneren Grenzen gebe, Grenzen der eigenen Begabung? „Der Begabung, ja, (…) so arrogant das klingt, aber die Wahrheit ist tatsächlich, ich würde Ihnen gerne etwas anderes sagen, aber: an solche inneren Grenzen meiner Begabung bin ich, bisher jedenfalls, noch nicht gekommen.“
So sieht sich also Johann Holtrop. Menschen, die ihm nicht so nah stehen, die nicht mit ihm zusammenarbeiten müssen, scheint er beim ersten, vielleicht auch noch beim zweiten Blick für sich gewinnen zu können, Vorgesetzte, entfernte oder neue Mitarbeiter (besser: Untergebene), Journalisten, Unternehmer oder reiche Pensionäre, die ihm bei Vorträgen ergriffen lauschen. Für seine direkten Mitarbeiter ist er eine Zumutung: Seine Sekretärin, die ihn jeden Morgen freundlich anlächelt, wenn sie ihm Unterschriftsmappe, Kaffee und Obstschale bringt, mault er an, seinem persönlichen Referenten, der alles auf das Wunderbarste für ihn organisiert, kann er nur mit Verachtung behandeln, wenn er ihn nervt, lässt er gleich von der Personal- und Rechtsabteilung prüfen, wie man ihn legal und fair, aber bitte SOFORT entlassen kann, andere Führungskräfte, die er innerhalb von 5 Minuten entlässt, weil sie ihm lästig werden, lässt er durch Sicherheitsunternehmen nach schönster Mafiamanier überwachen, Zahlungen dafür erfolgen ganz stilecht in Kuverts.
Mit einem betriebswirtschaftlichen Plan, überhaupt mit betriebswirtschaftlichen Kenntnissen, kann dieser Holtrop nicht überzeugen. Er sieht sich auch mehr als Visionär, als genialen Entscheider; für betriebswirtschaftliche Kennzahlen, für finanzwirtschaftliche Erfordernisse gar, hat er kein Interesse. Stattdessen schließt er Verträge, gewährt Kredite, egal, was es kostet. Das kann nicht ewig gut gehen, die New Economy Blase ist gerade auch schon mit lautem Knall geplatzt. Wenn es eng wird, muss Finanzvorstand Ahlers, der Mann im Vorstand, der vor lauter Spezialwissen und weil er den ganzen Tag über nichtssagenden Zahlen brütet, überhaupt nicht mehr über den Tellerrand schauen kann, der, der sich doch so ohne jeden Geschmack kleidet, dessen gerundete Gesundheitsschuhe zu allem Überfluss den Teppich in Holtrops Büro auf das Übelste beleidigen, ihn ein ums andere Mal mit geschickten Finanztransaktionen aus der drohenden Insolvenz heraushauen. Aber das nützt alles nichts, Holtrops Stern bei Assperg sinkt, die Bilanzen, die er doch letztendlich verantwortet, sind fehlerhaft (die Kuverts!), das Unternehmen gerät insgesamt in eine Schieflage, eine neue Strategie ist trotz – oder wegen?- seiner manischen Aktivitäten nicht erkennbar und so werden die Stimmen, die sich immer dann zu Wort melden, wenn der Erfolg nachlässt, immer lauter. Mit einer üppigen Abfindung wird er aus den Diensten Asspergs entlassen. Und erfährt nun den Katzenjammer des Nicht-Mehr-Gebrauchtwerdens am eigenen Leib, den er ja, ohne mit der Wimper zu zucken, anderen auch zugefügt hat.
Aber nicht nur Holtrop erscheint uns hier als Gegenteil eines Sympathieträgers, es gibt im ganzen Roman keine Figur, die Identifikationsanlässe geben könnte. Egal wohin der Blick fällt, auf die feine Schönhausener Gesellschaft, die sich so gerne bei Asspergs versammelt, in die Schreibstuben der wichtigen Nachrichtenmagazine der Republik, die Versammlungen der Banker, ganz am Rande auch auf die Politik – es sind die Jahre der rot-grünen Regierung – und natürlich auf die Frauen dieser Männer: Es wird ein durch und durch negatives Bild unserer feinen Eliten gezeichnet, das Sittengemälde einer durch und durch verlotterten, einer zutiefst unsozialen Gesellschaft. Im Grund ist Holtrop hier nur einer von vielen Spielern, nicht einmal ein richtig gewichtiger, gemessen am Privatvermögen gar ein kleiner Fisch, der doch so gerne mit den richtig großen Fischen mit schwimmen möchte. Überall sind sie unterwegs die Speichellecker und Günstlinge, die voneinander Abhängigen – weil der eine etwas Brisantes über den anderen weiß –, die über die kleinen Gefallen, die später auf Heller und Pfennig zurückgefordert werden, auf ewig Verbundenen. Um begründete ökonomische Entscheidungen geht es in diesem Personenkarussel meistens nicht.
Warum soll man solch einen Abgesang auf unsere Führungskräfte lesen? Weil es mehr als eine klammheimliche Freude macht, die manchmal ironisch, manchmal auch mit großem Furor dargestellten Zusammenhänge, die eng angelehnt sind an die Geschichte Thomas Middelhoffs bei Bertelsmann und später Arcandor, nachzulesen, einen Einblick ins Innere zu bekommen, nicht nur ins Innere der Chefetagen, sondern auch ins Innere der handelnden Personen. Weil es außerdem Spaß macht, dem Autor bei seiner auf die Spitze getriebenen Erklärung, seiner manchmal kabarettistisch anmutenden Ausarbeitung der Zusammenhänge zu folgen. Wunderbar die Szene einer Ausstellungseröffnung, bei der der Maler die geladene Haute-Volée im November mit Strandkleidung beehrt, vom strengen Körpergeruch einmal abgesehen; wunderbar, wie der alte Binz, ein großer Filmehändler und Herrscher über einen Fernsehmedienkonzern, Holtrop wie einen dummen Jungen aussehen lässt, wunderbar die Beschreibung einer Beerdigung, bei der Holtrop nicht einmal jetzt ein gutes Haar lässt an dem Toten. Natürlich ist Goetz´ Sicht einseitig, seine Spieler kommen mit reichlich schlichten Persönlichkeiten aus, funktionieren ganz einseitig, sind nur getrieben durch das Ausleben ihrer Macht, das Erlangen von Macht, die Gier nach Anerkennung, die sie eben nicht über Kenntnisse, Fähigkeiten oder einen freundlichen Charakter erwerben, sondern nur über ihre Stellung im Hierarchiegefüge.
Und kennen wir alle nicht aus unseren Büros, Labors und Werkstätten diese vor allem in sich selbst verliebten Machttypen, die hereinkommen und den Raum füllen, auch wenn es nur Unverschämtheiten oder Dummheiten sind, die sie von sich geben? Die mit ihren Heer von Günstlingen durch die Etagen schweben und meinen, nur von ihnen sei der Erfolg des Projekts, der strategischen Ausrichtung, ach, der Erfolg des gesamten Unternehmens abhängig? Und sitzen diese Typen nicht häufig genug an wichtigen Stellen in den Unternehmen, dass sich jeder mit normalem Verstand nur ratlos am Kopf kratzen kann, wie das passieren konnte?
Vor ein paar Tagen berichtete die Presse, dass Thomas Middelhoff nach einem Termin beim Gerichtsvollzieher das Essener Landgericht auf ungewöhnlichen Wegen verlasen habe: „Ich bin wie die Katze übers Dach. Ich musste drei Meter tief auf eine Garage springen, noch einmal drei Meter auf die Straße. Dann habe ich fröhlich pfeifend ein Taxi gewunken (…).“ Er wolle damit, so erklärt er seinen Abgang später gegenüber Journalisten (!), den Journalisten entgehen, die vor dem Eingang auf ihn warteten, weil sie ihn „mit ihren Fotoapparaten abschießen wollten wie Freiwild. Das wollte ich mir und vor allem meiner Familie nicht antun.“ Wenn Rainald Goetz uns diesen Angang Holtrops erzählt hätte, wir hätten sie ihm, Fiktion hin, Roman her, nicht abgenommen.
Rainald Goetz (2012): Johann Holtrop, Berlin, Suhrkamp Verlag
Liebe Claudia,
nochmals mit großen Vergnügen Deinen temperamentvollen Beitrag gelesen…ich habe mich auch sehr über den Büchnerpreis für Goetz gefreut, aber habe bei der aktuellen Lektüre noch etwas Nachholbedarf…aber die Besprechung von Dir „macht an“: Ach, ich glaube, ich könnte das im Büro lesen und nicht mehr zwischen Literatur und Wirklichkeit unterscheiden…:-)
Liebe Birgit,
ich habe ja außer dem „Johann Holtrop“ auch noch nichts von Goetz gelesen – aber bei diesem Roman fand ich sehr genau auf den Punkt gebracht, was da so manchmal in der Welt der Wirtschaft, in der Welt der Unternehmen, sozusagen auf dem Pavian-Hügel der größten, schönsten und lautesten Affen los ist. Diesen Typus, da stimme ich Dir völlig zu, habe ich auch in Unternehmen kennen gelernt, es gibt ihn auch in meiner Schulform (was insofern nicht so ungewöhnlich ist, als dass wir ja ein kaufmännisches Berufskolleg sind, die Welt der Wirtschaft ist also immer präsent) und, und das finde ich ganz besonders bedenklich, viele hören auf diesen lauten Typus und halten alles für wahr und richtig, was er laut polternd absondert und lassen sich sogar auch sehr schnell von diesem Typus bedrohen, ja tatsächlich: bedrohen. Mit Anwälten, mit kleinen Geschichten, die vor langer Zeit aufgezeichnet worden sind, mit wichtigen Menschen, die einer angeblich kennt – da wird gerne einmal das volle Programm abgespult, um durchzusetzen, was es durchzusetzen gilt. Fast meint man dann, man sei in einem schlechten Film. Insofern halte ich „Johann Holtrop“ für eine sehr gut gelungene Studie dieses Managertypus.
Viele Grüße, Claudia
Und dennoch – trotz der überzeugenden Besprechung – tue ich mir schwer, diesen Roman in die Hand zu nehmen. Es klingt für mich nach völlig einseitiger, wenig tiefgründiger Bestätigungsliteratur eines sehr beliebten Klischees. Da sind mir die ambivalenten Typen bei Karine Tuil oder Gila Lustiger deutlich lieber.
Lieber Thomas,
es ist schon richtig, dass Goetz seinen Johann Holtrop sehr einseitig darstellt und komplexe Romanfiguren sind sicherlich die spannenderen, die, an denen man sich als Leser auch viel mehr reiben kann. Goetz scheint hier schon tief in die Mottenkiste der Klischees zu greifen. Auf der anderen Seite: Ich kenne sie, diese Soziopathen an führenden Stellen in Unternehmen und Verwaltung. Es gibt ja Studien (ich behaupte jetzt etwas, was ich gerade nicht belegen kann, siehe es mir bitte nach, aber ich glaube, Du bist ja auch ein SZ-Leser und dort habe ich es freudig zr Kenntnis genommen), die erklären, dass Soziopathen entweder im Gefängnis landen – oder in der Führungsetage von Unternehmen. Und ich bin ja im letzten Jahr völlig von „Johann Holtrop“ überzeugt worden, als sich die reale Figur im Gericht in Essen so verhalten hat, als wäre er dem Roman Rainald Goetz´ entstiegen. Natürlich wird der reale Mensch wesentlich komplexer und ambivalenter sein als Goetz seine Romanfigur angelegt hat. Aber mit Blick auf das Auftreten in der Öffentlichkeit ist das ja nicht zu erkennen. – Ich erkenne alle Deine Einwände völig an und stimme Dir eigentlich auch zu – und „Holtrop“ hat auch einige Zeit in meinen Regal gestanden und aus genau Deinen Gründen wollte ich ihn eigentlich nicht lesen – aber in diesem Fall lasse ich dem Autor seine Einseitigkeit und seine Klischees durchgehen, dieser Typus Manager ist doch recht gut gezeichnet.
Viele Grüße, Claudia
Tolle Besprechung, liebe Claudia! (Auch wenn ich selbst so gar keine Lust verspüre, den Johann Holtrop zu lesen.)
Vielen Dank für Dein Lob. Und verstehen kann ich es gut, den „Holtrop“ nicht lesen zu wollen, ist ja schon ein sehr spezielles Thema.
Viele Grüße, Claudia