Vom Überleben der Terrorherrschaft in Kambodscha erzählt Madeleine Tiens Roman, vom Umgang mit der Schuld, die einzige Überlegende einer Familie zu sein, von den schrecklichen Bildern aus der Kindheit, die immer noch da sind und immer wieder kommen, aber auch von dem Willen, die Erinnerung an die Menschen, die alle getötet wurden, aufrecht zu erhalten. Madeleine Thien erzählt in ihrem Roman die Geschichte Janies, die als Elfjährige mit ihrem jüngeren Bruder aus Kambodscha auf abenteuerlichen Wegen fliehen konnte, die heute, 2006, in Montreal lebt und als Gehirnforscherin arbeitet, die einen kleinen Sohn hat und trotz aller scheinbaren Normalität doch immer wieder von den Schrecken der Vergangenheit heimgesucht wird.
Als die Roten Khmer 1975 unter der Führung von Pol Pot die Macht in Kambodscha übernahmen, etablierten sie ein Terrorregime gegen die eigene Bevölkerung, einen Autogenozid. Innerhalb weniger Tage wurde die Bevölkerung aus den Städten vertrieben und auf wochenlange Märsche durch das Land geschickt, bis die Gruppen, schließlich irgendwo auf dem Land bleiben konnten, um dort zu arbeiten. Nachbarschaften wurden durch die Zwangsumsiedelung auseinandergerissen, auch Familien ganz bewusst getrennt, viele Menschen starben bereits bei diesen Märschen. Die politischen Gegner wurden getötet, ebenso die Akademiker, die in dem zukünftigen Agrarkommunismus keinen Platz mehr hatten. Die Landarbeiter aus der Stadt fristeten ihr Leben unter erbärmlichsten Umständen, sie arbeiteten ohne Maschinen, ohne Werkzeug, nur mit ihren Händen, das Essen war knapp, die Gesundheitsversorgung zusammengebrochen, denn im Krankenhaus gab es weder Medikamente noch Ärzte – die waren ja bereits getötet. Statt ihrer wurden Kinder eingesetzt, oft unter zehn Jahre alt, die meisten konnten nicht einmal lesen. Kinder wurden zu Soldaten ausgebildet, übernahmen Polizeiaufgaben, verhörten sogar politisch Verdächtige und sprachen Todesurteile. Fast 2 Millionen Menschen starben unter diesen Bedingungen, so wird geschätzt, innerhalb der drei Jahre währenden Herrschaft der Roten Khmer.
Es ist Februar in Montreal, frostiger Winter, mit eiskaltem peitschenden Wind und Eisregen, der die Zweige kristallisiert hat. Und nicht nur die Natur ist gefroren, verharrt bewegungslos unter der Eisdecke, auch Janie scheint innerlich wie erstarrt. Morgens fährt sie heimlich zur Wohnung ihrer Familie, beobachtet den siebenjährigen Sohn Kiri durch ein Fenster, schaut zu, wie er eine bestimmte Platte auswählt, die er so gerne hört. Dann fährt sie wieder zurück in Hirojis Wohnung, in die sie sich geflüchtet hat. Hiroji, ein Japaner, ist ihr Mentor im Neurologischen Institut, er ist ihr auch freundschaftlich verbunden, denn er kann Janies Verluste verstehen, weil er selbst seinen Bruder James in den kambodschanischen Wirren verloren hat, als der dort als Arzt für das Rote Kreuz gearbeitet hat. Seit ein paar Monaten ist Hiroji verschwunden, von heute auf morgen weggegangen, niemand weiß, wohin. Janie ahnt, dass er wieder in Kambodscha ist, um seinen Bruder zu suchen, es wäre nicht das erste Mal. Also begibt sie sich auf die Suche nach ihm, reist schließlich selbst nach Kambodscha, zum ersten Mal seit ihrer Flucht.
Janie und Hiroji sind beide Suchende, Verletzte, Entwurzelte. Nicht zufällig sind sie Neurologen, untersuchen das Gehirn, suchen Antwort darauf, was den Menschen ausmacht, hoffen so vielleicht „sich selbst zu verstehen“. Ein Patient, der vor kurzem die Diagnose Alzheimer bekommen hat, fragt sich stellvertretend:
Gibt es ein Ich, das in der Amygdala oder im Hippocampus vergraben ist? Gibt es einen Funken Elektrizität, der mein Leben lang Bestand hat? Ich würde gern wissen, welcher Teil meines Geistes unangetastet bleibt, unangreifbar, ob es einen Teil von mir gibt, der überdauert, der unzerstörbar ist, das absolute Zentrum dessen, der ich bin. (S. 24)
Für Janie ist diese Frage nach dem Ich entscheidend. Sie hat verschiedene Namen, in jeder Lebensphase hat sie einen neuen gewählt – oder wählen müssen. Den Namen, den ihre Eltern ihr gegeben haben, erzählt sie nicht. In ihrem neuen Leben, im Leben, das von den Roten Khmer, die ihr System Angkar nennen, bestimmt wird, erhält sie einen neuen Namen. Ein neuer Name, so heißt es, sei wichtig, um ein neuer Mensch zu werden. Das ist schon so in dem Tempelschulen in Phnom Penh gewesen, in denen ein neuer Name zum „Übergangsritual“ gehörte, „eine Brücke von einem Ufer des Lebens zum anderen, das Symbol für die Verwandlung einer Existenz“. Nun wird Janie auch ein neuer Name gegeben, von einem Jungen, kaum älter als sie, der in ihrem Dorf Angkar vertritt:
Wenn ihr stark werden wollt“, sagte er eines Tages, „müsst ihr euch in einen anderen verwandeln. Du zum Beispiel“, sagte er und nickte zu mir, „solltest dich Mei nennen.“
Und später, als Mei in Vancouver bei ihren Adoptiveltern lebt, legt sie diesen Namen ab, wählt sich wiederum einen neuen, als Zeichen für ihr neues Leben. In ihrem Kopf aber kann sie die vielen Leben, die sie gelebt hat, kaum zusammenbringen, kann sich kaum wehren gegen die Erinnerungen, die Bilder, die immer wieder vor ihr auftauchen. Erst Hiroji kann ihr helfen, zumindest diese verschiedenen Leben zusammenzubringen. Anzuerkennen, dass ihre Eltern ihr Glück und Schönheit gezeigt und Halt gegeben haben, dass sie als Mei nur funktioniert hat um zu überleben, ausgeliefert einem unerbittlichen Arbeitssystem und der menschenverachtenden Doktrin von Angkar, dass sie als Janie neue Eltern gefunden und ein eigenes Leben aufgebaut hat, nun selbst Ehefrau und Mutter ist.
Die Roten Khmer hatten uns gelehrt zu überleben, indem wir allein bleiben und nichts bei uns trugen. Besitz wurde abgelegt, dann folgten Familie und Freunde und dann schließlich unsere Loyalität und wir selbst. Wertlos und kostbar, unwichtig oder geliebt, all unsere Schätze wurden gleich behandelt. (S. 45)
Als Hiroji verschwindet, gerät aber auch Janies Welt wieder durcheinander. Sie fühlt sich überarbeitet, nervös, vergisst, ihren Sohn aus dem Kindergarten abzuholen, ärgert sich, als sie zwei Stunden zu spät dort ist, dass er seinen Schal verloren hat, gibt keine Antwort auf seine Fragen, wo sie denn gewesen sei. Mit allen Kräften versucht sie die alten Bilder zurückzuhalten, die sich ihr so machtvoll aufdrängen. Sie rutscht ab in eine tiefe Traurigkeit, weint nur noch, wehrt Kiri ab, sieht ihn in ihren Bildern, vielleicht neben ihrem kleinen Bruder. Irgendwann passiert es, sie schlägt ihren Sohn – die Erziehung der Roten Khmer entfaltet noch Jahre später, in einem anderen Leben, in einer anderen Welt, ihre grausame Kraft.
Janie zieht in Hirojis Wohnung und beginnt mit ihrer Erinnerungsarbeit. Stück für Stück, eingepasst in ihren Alltag, bringt sie die Gedankensplitter ihrer Geschichte wieder zusammen, genauso wie sie die Geschichte von James rekonstruiert als sie Hiroji in Kambodscha findet, und erkennt, dass auch andere zerrieben wurden von Angkar. Sie erinnert sich distanziert, erinnert nur die Handlungen, die Geschehnisse, nie die Gefühle, nie Angst, Hilflosigkeit, Verzweiflung.
Diese fast distanzierte Sprache, die Thien gewählt hat, ermöglicht es dem Leser, der eigentlich ungeheuerlichen Geschichte zu folgen. Trotzdem ist ihre Sprache poetisch, nutzt sie Motive und Symbole, die dem Text eine besondere Tiefe geben. Wasser ist so ein Motiv, das immer wieder von Bedeutung ist: das gefrorene Wasser im kanadischen Winter, die Regenzeit in Kambodscha, der Schlamm, den Janie in ihrer Arbeitsgruppe nur mit ihren Händen wegschafft, das ständige Verlangen nach Wasser, das ihr kleiner Bruder Sopham empfindet, seit er die politischen Verhöre durchführen muss, das Wasser des Golfs von Thailand, in dem Janie schwimmt, alleine. Ein Band um das Handgelenk ist ein weiteres Motiv. Solch ein Band wird in Kambodscha bei Neugeboren genutzt, damit des Nachts die Seele des kleinen Lebewesens nicht flüchten kann. Und in Janies Geschichte spielt es auch immer wieder eine Rolle.
Am Beispiel des Einzelschicksals von Janie, auch am Beispiel des Bruders James, gewährt Thien erschreckende Einblicke in das dunkle Kapitel der kambodschanischen Geschichte. Indem sie die Geschichte von Janie und ihrer Familie erzählt, indem sie die Geschichte von Hirojis Bruder erzählt, bekommen die unzähligen Opfer der Roten Khmer, oft ausgerechnet Menschen, die gutgläubig und voller Hoffnung den Regierungswechsel herbeigesehnt haben, ein Gesicht. Und es ist eigentlich ganz und gar unglaublich, dass Menschen, die dieses Herrschaftssystem überlebt haben, die dazu noch eine Flucht erlebt haben mit dem Schlimmsten, was dabei passieren kann, in irgendeiner Art und Weise ein Familien- und Arbeitsleben führen können, so wie es für uns so selbstverständlich ist.
Madeleine Thien ist in diesem Jahr der Literaturpreis „Liberaturpreis“ für diesen Roman zuerkannt worden.
Madeleine Thien (2014): Flüchtige Seelen, Übersetzung von Almuth Carstens, Luchterhand Literaturverlag
Ein Interview über den Roman Thiens, das Katharina Borchardt mit Claudia Kramatschek geführt hat und in dem auch Thien Herkunft sowie ihre Vorbereitungen auf diesen Roman dargestellt werden, könnt Ihr hier lesen oder hören.