Der Beruf des Salesman, so berichtet Terézia Mora in ihren Frankfurter Poetikvorlesungen, eigne sich so gut für Romanfiguren, weil er etwas erzähle „über die Zeit, in der wir jeweils leben“. In Peltzers Roman treten gleich drei Salesmen auf und erzählen uns etwas über unsere Zeit, keine ganz kleinen Angestellten, sondern international agierende Händler, die große Volumina umsetzen und es insofern auch selbst geschafft haben zu einem „besseren Leben“. Sie alle sind um die 50, entstammen verschiedenen Gesellschaftssystemen, haben ganz unterschiedliche Jugendträume gehabt, unterschiedliche Werdegänge und Erlebnisse; und sind doch heute alle da, wo es sich um die größeren Aufträge dreht. Was sind das für Menschen, was bewegt und motiviert sie, welche Träume haben sie (noch), welche Ziele haben sie, welche Werte, welche Verantwortlichkeiten?
Ulrich Peltzer hat einen faszinierenden zeitgenössischen Roman geschrieben, ja es scheint tatsächlich möglich zu sein, einen Roman zu schreiben mit zeitdiagnostischem Blick, der zudem nicht ganz ohne Anspruch ist an den Leser – und das gleich aus mehrfacher Sicht: Peltzer entfaltet vor den Augen des Lesers ein Wimmelbild von Figuren und ihren Geschichten. Und er bewegt sich dabei, unserer Zeit und dem Hauptmedium unserer Zeit entsprechend, in elektronischer Geschwindigkeit durch den Raum – manchmal auch durch die Zeit – um, gerade noch im Moskau der 1930er Jahre, jetzt in Sao Paulo des Jahres 2006 zu sein und dann schon wieder in Amsterdam, Turin, Wien oder Berlin. Das hat – trotz der normal gedruckten Prosa, in der der Leser eben gerade nicht nach Belieben den verstreuten Links folgen kann – an manchen Stellen den Charakter eines Hypertextes, der immer mal wieder eine andere Abzweigung nimmt, hier die Gedanken der einen Figur unterbricht, um dort einer anderen Figur in ihren Gedanken zu folgen. Einen Erzähler, der alle Fäden zusammenhält, der vielleicht sogar selbst als Figur erscheint, den gibt es nicht; trotzdem ist da ja eine Instanz, die zumindest bestimmt, wann von der einen Figur zur anderen gewechselt wird, eine Erzählinstanz also, die quasi für den Leser die Links klickt und so seinen Text gestaltet.
Drei Hauptfiguren kann der Leser nach und nach ausmachen, die drei Salesmen. Da ist zum einen Jochen Brockmann, ein studierter Ingenieur vom Niederrhein, der für einen italienischen Anlagenbauer Kunden in Südostasien akquiriert. Brockmann verkauft ein reales Produkt, Laminier- und Beschichtungsmaschinen, Industriegüter also, die in einer Wertschöpfungskette stehen und genutzt werden, um ganz reale Produkte zu fertigen. Viel mehr aber als das Produkt reizt ihn die Verhandlung, das Jonglieren mit den Komponenten und Preisen und Konditionen, das Abschätzen des Gegenübers, das Einschätzen der Atmosphäre, das Zocken also – und natürlich die Provision. Einen schönen Wohlstand hat er sich so erarbeitet, ein paar Hunderttausend, die er auf ein Nummernkonto in die Schweiz transferiert, den Zugang steckt er seiner Tochter zu – wenn einmal etwas passiert. Er ahnt schon, was gegen Ende des Romans zur Gewissheit wird, dass er gekündigt wird; seine Verkaufszahlen sind schlecht, das mag gar nicht an ihm liegen, sondern an der finanziellen Situation seiner Kunden, aber der neue Besitzer des italienischen Maschinenbauers wird Kosten sparen wollen, auch seine Personalkosten.
Angelika Volkhart lebt in Amsterdam, sie leitet eine Reederei und sorgt für den Transport von Kohle, Phosphor, Eisenerz und Stahl, alles, was gebraucht wird, um Straßen zu bauen, Schienen, Industrien. Die Geschäfte gehen gut, sie hat eine schicke Wohnung in einem guten Amsterdamer Viertel, nette und umsichtige Mitarbeiter, lebt alleine und manchmal geht sie auch alleine in einem schicken, angesagten Restaurant essen. Bei so einem Essen trifft sie Jochen Brockmann, der auch in Amsterdam ist, bei dem verzweifelten und letzten Versuch, einem interessierten Kunden einen Kredit bei einer großen niederländischen Bank zu besorgen, ein bisschen funkt es zwischen ihnen. Eigentlich ist Angelika Russischlehrerin, hat die Liebe zu dieser Sprache über eine Lehrerin entwickelt, damals, in der DDR. Die Eltern dieser Lehrerin sind in den 1930er Jahren nach Moskau geflohen, der Vater hat dort bei einer deutschen kommunistischen Zeitung gearbeitet und ist in die üblichen Intrigen, Bespitzelungen und Verleumdungen geraten und im Gefängnis gelandet.
Und dann ist da natürlich noch Sylvester Lee Fleming, der dritte der Salesmen, der interessanteste und der bizarrste der drei international agierenden Reisenden. Er ist für das namhafte Unternehmen „Global Risk & Lifetime Stewardship“ (Nomen est omen!) weltweit unterwegs, mit realen Gütern hat er gar nichts mehr zu tun, mehr Geld, vor allem auch mehr Einflussmöglichkeiten, versprechen da doch die vielfältigsten Finanzdienstleistungen:
„Versicherungen für Industrieunternehmen, richtig?“
„Wenn Sie so wollen, ja. Aber ich… wir beschränken uns nicht darauf. Kapitalvermittlung, Kreditausfall, Risk Management. Wo es sich aus Erfahrung empfiehlt, schon im Vorfeld anzusetzen. Informationen sammeln. Informationen sind das Wichtigste, Daten. (…) Lösungen in delikaten Situationen. Hintergründe ausleuchten, Bilanzen, Auftragsvolumen. Von uns dürfen Sie sich ein Rundum-Paket erwarten. Das, gestehe ich sofort zu, seinen Preis hat, aber umsonst, was ist schon umsonst?“ (S. 380)
Diesem Sylvester Lee Fleming, der doch alle körperlichen Strapazen eines in die Jahre gekommenen Weltreisenden kennt, der sich schlaflos in den Hotelbetten wälzt, den immer wieder (teuflische) Kopfschmerzen plagen, dem hängen doch so viele diabolische Bilder an, dass schnell der Verdacht entsteht, dass es hier nicht mit ganz rechten Dingen zugeht. Da sind die merkwürdigen Aufträge, mit denen Fleming zu tun, es scheint um Entführung und Erpressung hochrangiger Manager zu gehen. Sein Mitarbeiter heißt Ángel; früher, in der Moskauer Geschichte, gab es einmal einen Fluchthelfer mit dem Namen Olearius, dem Namen eines Barock-Schriftstellers, wie Fleming ja auch den Namen eines Schriftstellers trägt, dessen Gehilfe ein Dr. Engel war, mit derselben physiognomischen Gestalt wie Ángel Barroso. Und was hat Fleming 1970 auf dem Campus der Kent-State University gemacht, genau an dem Tag, an dem die Studenten aus Protest gegen die Invasion der amerikanischen Streitkräfte in Kambodscha das Rekrutierungsbüro in Brand gesetzt haben und einige Stunden später das Militär aus nächster Nähe das Feuer auf die Studenten eröffnet hat, ohne dass es eine Bedrohung gegeben hätte? Und wie kommt es, dass sich nun Jochen Brockmann und Angelika Volkhart so zufällig in dem Amsterdamer Restaurant treffen? Und dass Fleming in der Hotellounge in São Paulo schon auf Brockmann zu warten scheint, als dieser dort eincheckt? Und was hat es mit dieser Wette zwischen Fleming und Ángel auf sich?
Es stimmt schon, Peltzer breitet chaotisch und scheinbar beliebig seine Erzählfäden vor dem Leser aus, es ist nicht immer leicht, seiner Reise durch Raum und Zeit zu folgen, zumal wir den inneren Monologen der Protagonisten lauschen. Aber: so verwirrt und verknäuelt die Fäden zunächst erscheinen, so planvoll, oder auch: schicksalhaft, werden sie wieder entwirrt. Und zeigen dabei den großen Fragen des Lebens auf:
Was ist es, was uns antreibt? Ist es die Anerkennung, die wir alle gut haben können? Wollen wir auf der „richtigen Seite“ stehen – und was ist, auch politisch betrachtet, die richtige Seite? Was ist aus den Protesten der Jugendlichen, der Studenten, was ist aus einer linken Politik geworden? Sind es unsere Werte, die uns antreiben, und wenn Werte eine Rolle spielen, welche sind das genau? Was sind die Träume dieser Figuren, die alle an einem bestimmten Platz im Leben angekommen sind, eigentlich doch im besseren Leben, Kunstprofessor der eine, Lehrerin die andere, Aussteigerin mit Restbauernhof die ehemalige Frau von Brockmann, Kunst-Studentin die Tochter, Mathematik-Professor der Schulfreund. Oder ist es die Liebe, die uns treibt? Oder doch das Geld? Brockmann meint Geld spiele jetzt für ihn nicht mehr die große Rolle, er meint, er komme im Zweifel mit seinem Ersparten schon aus. Fleming sieht das im Gespräch mit Brockmann anders:
„Niemand lebt gerne schlecht, einverstanden? (…) Und alle streben nach einem besseren Leben.“
„Vermutlich.“
„Nicht vermutlich, Jochen, das ist seit den Höhlenmenschen so. Auf diese Weise kommt erst der Fortschritt in die Welt. Und das Chaos. Das man in den Griff kriegen muss. Darum geht´s.“ (S. 376)
Sehr erfreulich also ist, dass Peltzers „besseres Leben“ es auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat: ein Roman, der auf anspruchsvolle Weise unser Leben auslotet; ein Roman, der die rationale Welt der Wirtschaft mit der Welt der Kunst verknüpft, der zum einen fragt, ob tatsächlich der Salesman mit seinem Denken von einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage die Zeitläufte steuert, oder doch eine ganz andere Instanz; ein Roman der zum anderen so grundlegende Fragen zu unserem „guten Leben“ stellt, dass man ihn sicherlich auch in einigen Jahren noch gerne in die Hand nimmt.
Ulrich Peltzer (2015): Das bessere Leben, Frankfurt am Main, S. Fischer Verlag
Ein Interview mit dem Autor könnt Ihr hier nachlesen.
Das ist mir vollkommen entgangen – aber dank Deines Kommentars bin ich jetzt doch noch auf die Besprechung gestoßen. Zum Glück! Mich hat dieses Buch unheimlich in Bann gezogen – und da steckt auch soviel drin, dass ein zweites Lesen lohnt. Das stelle ich jetzt auch an Deiner Besprechung fest, die noch weitere Aspekte aufwirft….demnächst mehr in diesem Theater zum besseren Leben. Viele Grüße, Birgit
Freue mich auf Deinen Beitrag! Und bin gespannt, welche neuen Aspekte ich durch Deine Besprechung entdecken werde.
Viele Grüße, Claudia